Das Haus in dem Gudelia stirbt (eBook)
280 Seiten
Pendragon Verlag
978-3-86532-887-8 (ISBN)
Thomas Knüwer, Jahrgang 1983, studierte Grafik-Design und arbeitet seit mehr als achtzehn Jahren in der Kommunikationsbranche. Seine Kampagnen für nationale und internationale Marken wurden vielfach ausgezeichnet, etwa bei den Cannes Lions oder dem Art Directors Club. »Das Haus in dem Gudelia stirbt« ist Thomas Knüwers Verlagsdebüt. www.thomasknuewer.com
Thomas Knüwer wurde 1983 im Münsterland geboren. Der studierte Grafik-Designer arbeitet in der Werbe- und Kommunikationsbranche und leitet eine Digitalagentur in Hamburg. Seine Kampagnen wurden vielfach national und internationale ausgezeichnet. Thomas Knüwers schriftstellerische Laufbahn begann im Selfpublishing, »Das Haus in dem Gudelia stirbt« ist sein Verlagsdebüt. www.thomasknuewer.com
2024
Elf Teelichter und zwei Grabkerzen von Schlecker trennen mich von der Dunkelheit. Wer als Erstes gestorben ist, weiß ich nicht. Schlecker oder Heinz. Heinz oder Schlecker. Die Grabkerzen sprechen dafür, dass es Heinz war. Vor siebzehn Jahren. Bei der Beerdigung hat die Sonne geschienen, der Bienenstich war zu trocken, der Kaffee annehmbar. Ich bekreuzige mich. Nach der Schlecker-Pleite ist keine neue Drogerie nach Unterlingen gekommen. Zu klein, zu abgelegen, zu überaltert. Wer kann es ihnen verdenken. Spätestens heute Nacht wäre die Drogerie ohnehin abgesoffen. So wie der Supermarkt, das Rathaus und der Friedhof.
Der Strom ist als Erstes ausgefallen. Noch vor Sonnenuntergang. Ich hatte gerade Tee aufgesetzt. Das Wasser ist rasend schnell gekommen, braun wie die Lederhandtasche vom Gardasee, die ich nie getragen habe. Sommerurlaub ’79, der Händler hat versichert, sie sei handgemacht. Mailand, Hauptstadt des Nordens. Heinz hatte Sonnenbrand, Nico Pubertät. Ich habe die Tasche gekauft, ohne zu verhandeln.
Eine der Grabkerzen stelle ich ins Bad neben das Waschbecken, zünde sie an. Wenn ich später zur Toilette muss, will ich nicht stolpern und stürzen. Knochen brechen leicht in meinem Alter und kein Krankenwagen wird mich heute Nacht erreichen. Die andere Grabkerze spare ich mir auf. Wer weiß, wie lang ich hierbleiben muss. Die Uhr in der Küche zeigt kurz nach Mitternacht. Mit geschlossenen Augen klingt es wie ein regnerischer Tag am Meer. Rauschende Brandung, das Hämmern des Regens auf den Dachfenstern. Ich hoffe, dass ich irgendwann einschlafen kann. Schlafende brauchen kein Licht, denken nicht nach. Angst habe ich keine. Nicht um mich, nur ums Haus. Das Erdgeschoss ist vollgelaufen. Ich kann das Wasser durch die geschlossene Wohnungstür riechen. Modrig und faul, als wäre unter mir ein Klärwerk. Durch den Türspion sehe ich das Gluckern weiter unten im Treppenhaus. Seit einer Stunde ist der Pegel nicht gestiegen, trotz des unablässigen Regens. Ich habe die Ziegelsteine der Außenwand aus dem Fenster heraus gezählt. Drei Reihen über dem Erdgeschosssims hat das Wasser bis elf Uhr verschluckt. Dreizehn trockene Reihen darüber trennen die braune Brühe von mir. Die Vorhänge sind gebügelt. Eine Schande wäre das.
Unter mir wohnen die Schröers. Nett, streiten sich oft. Der Rasen, die Hecke, die Rechnungen, nie hilfst du mit. Ich kann alles hören, wenn unsere Fenster auf Kipp stehen. Ob sie das wissen? Ob sie wollen, dass ich alles höre? Schröers Bernhard hat zeit seines Lebens im Kesselbau gearbeitet. Schweißer. Seine Frau, Christa, ist für den Sohn zu Hause geblieben. Später hat sie in der Bäckerei am Brunnenweg ausgeholfen, um die Rente aufzustocken. Der Sohn, Michael oder Mike oder beides, ist längst weggezogen. Hat in Marburg Jura studiert und kommt nur selten nach Unterlingen. Kinder hat er keine, sonst hätte ich ihr Lachen durch unsere Fenster-auf-Kipp-Verbindung gehört. Die Schröers sind heute Morgen kurz nach dem Frühstück gefahren. Mit zwei schweren Koffern, als wollten sie verreisen. Dabei kommt das Wasser doch zu ihnen. Sie haben sich nicht umgedreht. Ich stand oben am Fenster, habe zugesehen, wie Bernhard die Koffer in den alten Opel Vectra gehievt hat. Er war verschwitzt, hat viel geflucht. Die Knie. Kesselbau fordert seinen Preis. Ich hätte sie fragen können, ob sie mich mitnehmen. Die Rückbank war frei. Wahrscheinlich hätten sie es sogar gemacht. Doch ich muss bleiben. Ich wohne hier. Die Vorhänge sind frisch gebügelt.
Zweimal am Nachmittag hat es geklingelt. Irgendjemand schien an mich zu denken. Vielleicht Nachbarn, vielleicht das THW. Ich habe nicht geöffnet, mich von den Fenstern ferngehalten. Auf Diskussionen kann ich verzichten. Sie würden es nicht verstehen. Im schlimmsten Fall hätten sie mich evakuiert. Keine Ahnung, ob sie das gegen meinen Willen dürfen. Ich wollte es nicht darauf anlegen. Vielleicht irgendein Notfallgesetz, wer weiß. Zu Ihrer eigenen Sicherheit, wirre alte Frau.
Beim Abendessen war draußen kein Mensch mehr. Die Straßen hatten Autos durch Wasser ersetzt. Ich habe mir ein Spiegelei gebraten und auf eine Scheibe Graubrot mit Butter und Schinken gelegt. Strammer Max. Habe ich Heinz und Nico oft gemacht. Schnell, einfach, sättigend. Für Nico mit Ketchup, für Heinz mit Bier.
Kurz nach meinem kleinen Abendessen ist der Strom ausgefallen. Der Tee wurde nicht mehr warm. Wenigstens hat Gott mir ein letztes Spiegelei geschenkt.
Ich stelle zwei Teelichter auf den Wohnzimmertisch, eines auf die Arbeitsplatte in der Küche. Der Kühlschrank ist dunkel. Die wenigen Sachen darin werden bald verderben. Schinken, Gouda, Milch, Eier, Kirschmarmelade, Gewürzgurken. Ich brauche nicht viel zum Leben. Die Fanta in der Kühlschranktür wird nicht schlecht, nur schrecklich schmecken, wenn sie warm ist. Ich gieße ein Glas halb voll. Sonst muss ich nachts raus. Ich schlurfe ins Wohnzimmer, ziehe meinen Sessel ans Fenster. Das Glas stelle ich auf die Fensterbank neben eine Baumarkt-Orchidee. Gedanklich schreibe ich Orchideendünger auf meine Einkaufsliste, ehe ich sie wieder streiche. Draußen ist es dunkel. Keine Lichter, keine Autos, keine Laternen. Früher habe ich mir ein Haus am See gewünscht, jetzt habe ich eine Wohnung in den Fluten. Ich könnte das Fenster aufmachen und direkt ins Wasser springen. Was sich für Mallorca traumhaft anhört, ist in Unterlingen eine Katastrophe. Auf Mallorca war ich nie. Zu teuer, zu heiß. Während ich auf die schwarzen Wassermassen starre, denke ich an das Fundament meines Hauses, das, wenn’s schlimm kommt, unterspült wird, und bekomme Angst. Sie werden es abreißen, sobald die Brühe weg ist. Einsturzgefahr! Schimmel! Alles weg, alles neu. Ich trinke einen großen Schluck. Nicht mit mir! Die Angst schmeckt nach zuckriger Orange.
Der Mond versteckt sich hinter dem Regen, das Wasser bildet Schaum. Äste schwimmen an mir vorbei. Vielleicht ganze Bäume, schwer zu sehen. Überall tost das Wasser, dreht sich, bäumt sich auf. Schnell und unberechenbar. Wegen der mitgeschwemmten Dinge, die Strömungen, Sog und Strudel verursachen. Eine Mülltonne treibt vorbei. Ich stehe auf. Der Sicherungskasten meiner Wohnung befindet sich in einem Schrank neben der Garderobe. Im Fach darunter stehen ein Feuerlöscher und eine große schwarze Taschenlampe. Sie funktioniert noch. Die Batterien sind nicht von Schlecker. Blinzelnd gehe ich zurück ins Wohnzimmer, öffne das Fenster. Der Wind weht vom Haus weg. Nur wenige Tropfen finden in meine Wohnung. Die Taschenlampe klemme ich zwischen Orchideentopf und Fensterrahmen. Der Lichtstrahl erhellt die braunen Fluten vor dem Haus wie der Suchscheinwerfer eines Helikopters. Unser Vorgarten ist verschwunden. Rasen, Steinplatten, die Rosen der Schröers. Einzig unser Straßenschild ragt aus den reißenden Wassermassen. Eine tote Kuh treibt vorbei, prallt gegen einen Laternenmast, ändert die Richtung. Ich verfolge das tote Tier wie ein auslaufendes Kreuzfahrtschiff. Niemand winkt. Ich nippe an der Fanta.
Das Haus gehört mir. Die Schröers bezahlen eine überschaubare Miete, die ich längst hätte erhöhen sollen. Aber was soll ich mit dem Geld? Ich habe alles, was ich brauche. Essen und ein Dach über dem Kopf. Das Risiko, dass die Schröers ausziehen würden, weil sie eine höhere Miete nicht bezahlen könnten, ist zu groß. Sie halten die Ruhezeiten ein, pflegen den Garten, waren noch nie im Verzug. Manchmal, wenn die Fenster geschlossen sind, vergesse ich, dass sie unter mir wohnen. Früher, als Heinz und Nico noch da waren, bewohnten wir das ganze Haus. Jetzt, allein, reichen mir die Zimmer im Dachgeschoss. Seit meine Hüfte Ärger macht, wünschte ich, die Erdgeschosswohnung genommen zu haben. Zu spät.
Ein Auto treibt vorbei. Bloß das Dach ragt aus den Fluten. Roter Lack. Der Fiesta von Birgit aus dem Kirchenweg. Schade, das wird sie ärgern. Ich bete, dass sie gut versichert ist. Der Fiesta verschwindet in der Nacht. Ich stehe auf, gehe in die Küche, nehme einen großen Topf aus dem Schrank. Seit Jahren habe ich ihn nicht mehr benutzt. Wofür auch. Ich stelle ihn auf den Küchentisch, werfe altes Zeitungspapier hinein, das ich locker zerknülle, marschiere zurück ins Wohnzimmer. Der Regen hat sich bis zum Teppich vorgekämpft. Morgen muss ich gut lüften. Ich stelle den Topf voller Papier auf den Sessel, nehme das Feuerzeug aus meiner Schürzentasche, halte es an ein Papierende. Der Rest des Politikteils. Gut, dass ich nicht Nein gesagt habe, als der Bürgermeister mir letzten Sommer vor dem Rathaus das rote CDU-Feuerzeug überreicht hat. »Oberstolz auf Unterlingen« steht auf der Rückseite. Die Kinder bekamen Luftballons statt Feuerzeuge. Ein unangenehmes Lächeln bekamen alle.
Das Feuer füllt schnell den Topf. Ich beeile mich, hieve ihn über die Fensterbank, lasse ihn ins Wasser fallen. Die Flammen überleben den Fall. Der Wasserspiegel tobt kaum einen Meter unter meinem Fenster. Die Geschwindigkeit, mit der mein Leuchttopf davongetrieben wird, überrascht mich. Es dauert nur Sekunden, ehe das Feuer den Lichtkegel der Taschenlampe verlässt. Es rast davon, wird zu einem winzigen Punkt, ehe es ganz verschwindet. Hinter dem Haus der Kruses, schätze ich. Bettina, Benedikt und ihre zwei Töchter. Sie sind am Nachmittag gefahren. »Oberstolz auf Unterlingen« liegt hinter ihnen.
Zwei tote Schweine treiben vorbei, eines bleibt am Straßenschild hängen, löst sich, taucht unter. Beckers haben über fünfhundert. Mehr Industrie als Hof. Eine Schande, dass die Tiere jämmerlich ersaufen müssen. Aber gut, Schweine können keine Koffer packen und im Vectra davonfahren. Beckers haben lieber sich...
| Erscheint lt. Verlag | 21.8.2024 |
|---|---|
| Verlagsort | Bielefeld |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Schlagworte | charakterstark • dunkles Geheimnis • eingemauert • Familie • Familiedrama • fiktives Dorf • Flut • Frauenpower • Geheimnis • Kontrolle • Leichen • Manipulation • Mauer • Mord • Mutter • Mutterliebe • Naturgewalt • Puzzleteil • Rache • Riss • Scheidung • Selbstjustiz • Starke Frau • Sturmflut • Totschlag • Überschwemmung • Umweltzerstörung • Unfall • Verborgenes Geheimnis • Zeitebene |
| ISBN-10 | 3-86532-887-3 / 3865328873 |
| ISBN-13 | 978-3-86532-887-8 / 9783865328878 |
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