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Im Schnellzug nach Haifa (eBook)

(Autor)

Nicole Henneberg (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
256 Seiten
Schöffling & Co. (Verlag)
978-3-7317-0005-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Schnellzug nach Haifa -  Gabriele Tergit
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»Wer die blutigen Konflikte der Gegenwart zwischen dem israelischen Staat und den Palästinensern verstehen will, der sollte, nein, der muss dieses Buch lesen. Denn es legt die politischen und kulturellen Wurzeln schon lange vor der Gründung des Staates Israel 1948 frei.« Claus-Jürgen Göpfert, Frankfurter Rundschau 1933 muss die Berlinerin Gabriele Tergit aus Deutschland fliehen und gelangt über Tschechien nach Palästina. Schreibend bahnt sie sich ihren Weg durch das Völkergewimmel in Jerusalem, Haifa und Tel Aviv und erlebt ein Land im Aufbruch. In hier teils erstmals veröffentlichten Porträts und Reiseschilderungen vermittelt sie ein sinnliches Bild von der ungeheuren Vielfalt Palästinas in den 1930er Jahren, lange vor der Staatsgründung. Tergit trifft einen Fleischer aus Brest-Litowsk, der sich eine japanische Decke um den Bauch bindet und melancholisch Wurst schneidet;eine Berliner Zionistin, tüchtig und patent, die unermüdlich arbeitet und Feste organisiert, und einen Frommen aus Deutschland, den die jungen Leute auslachen. Zusammen mit den faszinierenden Fotos aus dem Archiv Abraham Pisarek gewähren Tergits Geschichten Einblicke in eine Welt, in der manche Hoffnung zerbrach und doch vieles möglich schien. Erstmals um neunzehn ursprünglich von der Autorin für den Band vorgesehene Texte aus dem Nachlass erweitert, gewährt Im Schnellzug nach Haifa einen ganz neuen Einblick in die Entstehung des heutigen Israels.

Gabriele Tergit (1894-1982), Journalistin und Schriftstellerin, schrieb drei Romane, zahlreiche Feuilletons und Reportagen sowie posthum veröffentlichte Erinnerungen. 1933 emigrierte sie nach Palästina, 1938 zog sie nach London. Ihr literarisches Werk wurde erst spa?t in Deutschland wiederentdeckt. Heute gilt sie, vor allem aufgrund ihres Erfolgsromans Effingers, als bedeutende Autorin der Zwischen- und Nachkriegszeit.

Gabriele Tergit (1894–1982), Journalistin und Schriftstellerin, schrieb drei Romane, zahlreiche Feuilletons und Reportagen sowie posthum veröffentlichte Erinnerungen. 1933 emigrierte sie nach Palästina, 1938 zog sie nach London. Ihr literarisches Werk wurde erst spät in Deutschland wiederentdeckt. Heute gilt sie, vor allem aufgrund ihres Erfolgsromans Effingers, als bedeutende Autorin der Zwischen- und Nachkriegszeit.

Überfahrt 1933[1]


Im Jahr 1933 sind in Palästina 30327 Juden eingewandert, davon 5515 aus Deutschland. 1934: 42359, davon 6941 aus Deutschland. 1935: 61000, davon 5464 aus Deutschland. 17 Millionen Juden leben in der ganzen Welt, 500000 in Deutschland. Also wanderte jährlich etwa ein Prozent aus Deutschland nach Palästina, aber aus der übrigen Welt nur ein Promille. In der ganzen Welt herrscht Not. Der Jude, der Kaufmann, der Vermittler, nicht zugelassen zu den krisenfesten Berufen, leidet wie der Arbeiter als Erster, die Krise trifft die Ungeschütztesten zuerst. 1920 bis 1934 kamen 197000 Juden nach Palästina, davon über 100000 aus Polen.

Auf dem Schiff nach Palästina fahren die Chaluzim[2], die Pioniere des Bodens, die friedlichen Eroberer des Landes, kommend vom Ende einer Zivilisation, wie die früheren Mönche gefahren sind, den Boden zu beackern und die Menschen einer neuen Gemeinschaft zu gewinnen, getragen von einer Idee. Die Kwuzah,[3] das Kollektiv zur Bearbeitung eines Stück Landes, ist ihr Kloster, und ringsum werden sie ihre neuen Methoden vortragen, um Frucht zu gewinnen. Die Pioniere tanzen und singen. Tanzen sie jüdisch? Singen sie jüdisch? Sie tanzen russisch. Sie singen russisch auf hebräisch. Sie sind kräftig, und sie haben den hellen, guten Blick, den die Beschäftigung mit der Erde gibt.

Auf dem Schiff fahren alte, gesetzestreue Juden, der Religion ergeben, dem Geist und der Vergangenheit.

Ein Rabbi aus einer kleinen amerikanischen Gemeinde spricht jiddisch den Menschen Mut zu: »Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir, weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich helfe dir, ich stärke dich, ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.«

Auf dem Schiff fährt eine Familie aus Moskau, Vater, Mutter, Tochter von neunzehn, Sohn von dreizehn. Sie mussten 400 Goldrubel zahlen, um Russland verlassen zu können. Verwandte im Ausland haben ihnen Geld gegeben und sie eingekleidet. Sie waren auf Reisen in Karlsbad und Italien, und so sehen sie auch aus. Bürgerliche Leute, denen es gut geht. Die Tochter ist sehr elegant, das Gesicht zurechtgemacht. Sie ist nicht einverstanden mit den Eltern, die nach Palästina fahren. Sie ist, elegant wie sie ist, dem Kommunismus zugetan. Sie ist recht unfreundlich, recht unliebenswürdig mit den Bürgern auf dem Schiff, die größtenteils keine mehr sind, sondern entwurzelte, nichts mehr besitzende deutsche Juden. Die Eltern sind still und liebenswürdig, benehmen sich wie gut erzogene wohlhabende Leute. Die Tochter ist neunzehn Jahre alt, das heißt, sie war vier Jahre alt, als die Sowjets die Macht übernahmen. Sie kennt nichts anderes. Die Eltern wollen wieder bürgerlich leben, nicht besser, aber bürgerlich. Die Kinder wollen kommunistisch leben, besser, aber kommunistisch. Sie wissen nicht mehr, wie es früher war. Und wir Leute, die schon vor 1914 lebten, wir vergessen immer, wie wenig Menschen wissen, die 1914 erst geboren wurden. Ein derartig junger Mann, ein halbwegs gebildeter Kaufmann aus Breslau, fragt mich: »Und wie ist es mit der Tschechoslowakei? Hat sie auch so durch den Versailler Vertrag gelitten?« Er weiß nicht, dass es ein Kaiserreich Österreich gab. Er weiß nicht, dass es aufgeteilt wurde. Er weiß nicht, dass Jugoslawien Serbien war. Und da meinen Staatsmänner, man könnte den Menschen von Problemen sprechen. Sie kennen nichts, was früher war, als die Zeit, da sie vierzehn Jahre alt wurden. Vorher war immer die Sintflut.

Auf dem Schiff fahren jetzt die Deutschen. Bald viele, bald weniger viele – ein unaufhörlicher Strom. Sie stehen an der Reling, im städtischen Anzug, in langen Hosen. Der Wind kommt, die Sonne, sie haben nur eine Reisemütze, als Einziges, das sie sportlich macht, sie sehen aus wie Herren, zu denen der Arzt gesagt hat: »Ihre sitzende Lebensweise verlangt, dass Sie einmal eine Schiffsreise machen, Ihre Nerven gründlich auskurieren.« Es sind keine Flüchtlinge mit roten Betten und geschnürtem Bündel, es sind nur Reisende, aber der Boden wurde ihnen unter den Füßen weggezogen und ihre Namen gelöscht von der Tafel der Börsenmakler, Rechtsanwälte und Kaufleute.

Auf dem Schiff sitzt eine hübsche, gepflegte, gut angezogene Frau. Ihr Mann war Getreidehändler. Die Erlaubnis zum Handeln wurde ihm entzogen. Sie hat zwei kleine Kinder. Sie hat über ihre Füße eine Decke aus bester Wolle, in feinsten Farben gelegt. Sie trägt einen hellen Pelz, der in einem silbergrauen Ton gefärbt wurde. Sie liest einen neuen Roman, einen Bestseller, ein gutes Buch, das Mode ist. Sie nimmt aus einer Bonbonniere auf anmutige Weise ein Stückchen Konfekt. Sie ist – kurzum – eine Frau der Großbourgeoisie, wie sie in allen Ländern Europas ist. Heroismus ist keine Eigenschaft dieser Schicht. Aber nun wird Heroismus von ihr verlangt. Sie soll ablegen Bestseller, Wolldecke und gepflegte Haut, sie soll – 38 Jahre wie sie ist – ihr vergangenes Leben für einen Irrtum erklären, dieses Leben aus Sorge für einen guten Haushalt und gute Kleider, dieses Leben aus Ehe und Kindern, und sie soll das Pflegen von Kühen, das Setzen von Orangenstecklingen in trockener Erde unter glühender Sonne ansehen als Ziel für künftige Generationen, dem sie sich zu opfern hat. Diese reiche Frau besitzt nichts als die 1000 Pfund[4], die der Palästinaauswanderer 1933 ausführen durfte, die in der ganzen Welt kein Kapital sind und nun plötzlich in Palästina ein Kapital sein sollen.

Auf dem Schiff fahren die jüdischen Ärzte, seit 1000 Jahren jüdische Ärzte, gelehrte und ungelehrte. Spezialisten und Nichtspezialisten. Ihr Wissen ist eitel geworden, eitel ihr Wollen. Die Welt braucht sie nicht. Hier in Palästina werden einige Hundert arbeiten können.

Auf dem Schiff fahren jüdische Verkäuferinnen, die tagaus, tagein Mäntel verkauft haben oder Schuhe oder Lebensmittel im Warenhaus – eine von ihnen trägt ein goldenes Armband mit dem Davidstern. Ihre Kollegenschaft, organisiert in der Nazizelle, die sie aus der Arbeit entließ, hat es ihr zum Abschied geschenkt.

Ankunft in Tel Aviv, 1936

Ein Herr mit dünnen Beinen, einem dicken Bauch und einem kleinen, unschönen Stadtgesicht, ist hier auf dem Schiff im Angesicht von Meer und Himmel und dem felsigen Eiland eine komische Figur, aber hinter dem Schreibtisch ein guter Anwalt des Rechts oder ein förderungswilliger Redakteur oder ein gewissenhafter Arzt oder ein Kaufmann für Mäntel oder Emaillegeschirr.

Auf dem Schiff fahren Mutter und Tochter. Die Mutter ist eine alte, vornehme Berliner Bürgerin. Sie spricht mit dem Steward Italienisch, kann es, wie alle Damen ihrer Generation, die es für die Italienreise lernten, die man zwischen 1890 und 1914 machte. Sie denkt an Berlin, wo sie eine Dame der Gesellschaft war, wohltätig und liebenswürdig. Sie liegt im Liegestuhl, schmal, blass und schön, mit feinen hochhackigen schwarzen Halbschuhen. Die Tochter trägt Stiefel und Windjacke, aus der die geöffnete Sportbluse heraussieht, die glatten Haare sind männlich kurz geschnitten. Sie ist klein und dick, eine nette, tüchtige Arbeiterin, sie wird aufs Land gehen, Kühe zu melken und Hühner zu füttern. Ihr sind die Formen der Gesellschaft, ihre Ansprüche an Kultur und Luxus gleichgültig, tief gleichgültig auch ihre geistigen und seelischen Probleme, ihr Ringen um Kunst und Wissenschaft. Sie hält den Aufbau eines national jüdischen Lebens – kleines Leben auf eigenem Boden – für wichtiger.

Auf dem Schiff fahren zionistische Akademiker. Viele von ihnen waren von echter Bewegtheit. Sie waren keine Emigranten, sondern Heimkehrer, erfüllt von unklaren Erwartungen, in denen sich die Sehnsucht nach einer Vereinigung mit anderen Volksgenossen mischte mit dem uralten Blutsgefühl, dem Messiasglauben an Erlösung durch das Land Israel. Wer mit einem leidvollen Herzen nach Palästina fuhr, galt ihnen als Hochverräter. Sie betrachteten die Katastrophe mit Erklärungen, nicht mit Empörung. Sie hatten alles erwartet. Die deutschen Ereignisse würden sich morgen in Frankreich und übermorgen in England wiederholen. Die Entwurzelung der deutschen Juden bestehe seit der Emanzipation, die Entwurzelung nämlich aus dem Judentum. Eine Verwurzelung im Deutschtum gebe es nicht. »Durch die deutschen Judengesetze«, sagte ein Herr auf dem Schiff, »ist die Lüge der Emanzipation aufgehoben worden, die Lüge, dass die Juden keine Nation seien. Es gibt keine Auswanderung nach Palästina, es gibt nur eine Repatriierung.« Sie unterschieden zwei Rassen, Zionisten und Assimilanten. Brücken führten zu den Blut- und Bodentheorien des Nationalsozialismus, aber keine Brücke führte zum Assimilanten. Es gab keine Tragödie der deutschen Juden, sondern nur eine Komödie der Irrungen seit 150 Jahren.

Auf dem Schiff fahren vergnügte Leute. Sie waren fleißige Bürger aus kleinen Städten, aus einem unfreien Leben, und diese Vertreibung auf ein Luxusschiff hatte für sie eine ununterscheidbare Ähnlichkeit mit einer Vergnügungsreise auf dem Mittelmeer. Man spielte Bridge und knüpfte Beziehungen an, und das Leben ging...

Erscheint lt. Verlag 17.9.2024
Nachwort Nicole Henneberg
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte 1930er Jahre • Emigration • Essays • Israel • jüdische Literatur • Nah-Ost-Konflikt • Palästina
ISBN-10 3-7317-0005-0 / 3731700050
ISBN-13 978-3-7317-0005-0 / 9783731700050
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