Das zweite Kind (eBook)
608 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3257-4 (ISBN)
Marco De Franchi, geboren 1962 in Rom, wollte schon als Kind entweder Schriftsteller oder Detektiv werden. Er ist Hauptkommissar und hat einige Jahre in der Spezialeinheit der italienischen Polizei gearbeitet. Diese Erfahrungen verarbeitet er in seinem ersten Thriller Das zweite Kind. Er lebt mit seiner Familie zwischen Pisa und Livorno.
Marco De Franchi, geboren 1962 in Rom, wollte schon als Kind entweder Schriftsteller oder Detektiv werden. Er ist Hauptkommissar und hat einige Jahre in der Spezialeinheit der italienischen Polizei gearbeitet. Diese Erfahrungen verarbeitet er in seinem ersten Thriller Das zweite Kind. Er lebt mit seiner Familie zwischen Pisa und Livorno.
DER TOD IST NACKT
1
Das Kind lief am Straßenrand entlang wie ein flüchtendes Tier in der Nacht. Dem Mann im Auto kam das berühmte Foto von Kim in den Sinn, dem vietnamesischen Mädchen auf verzweifelter Flucht vor dem Napalm, das ihm den Rücken verbrennt. Doch das hier war die Regionalstraße 74, die sogenannte Maremmana, die auf diesem Abschnitt die schroffe Anhöhe eines im Abend flimmernden Dorfes namens Sorano streifte und sich durch die ringsum dunkelnde Landschaft der Provinz Grosseto zog.
Der Mann vergewisserte sich, dass er niemanden hinter sich hatte, bremste ab und brachte den Toyota Highlander dicht an der Böschung zum Stehen. Seine Scheinwerfer waren das einzige Licht, das die Umgebung erhellte. Der kleine Junge rannte weiter und verschwand in der Kurve, die der Fahrer soeben hinter sich gelassen hatte. Er stieg aus und folgte ihm. Er hatte keine Zeit gehabt, die obligatorische gelbe Warnweste herauszuholen, und hoffte inständig, es würden keine Autos kommen. An dieser Stelle verengte sich die Straße, und ein in der scharfen Biegung auftauchender Wagen würde nicht rechtzeitig bremsen können.
Der Junge hatte zutiefst verängstigt gewirkt, und der Mann befürchtete, ihm nachzulaufen, könnte ihn so sehr verschrecken, dass er sich ins Dickicht schlagen und im undurchdringlichen Grün verschwinden würde. Aussichtslos, ihn darin wiederzufinden.
Offenbar war der Kleine erschöpft. In wenigen Minuten holte der Mann ihn ein und hielt ihn fest. »Bleib stehen!«, keuchte er.
Ehe er sich über die Magerkeit des eiskalten nackten Armes in seiner Hand wundern konnte, fuhr der Junge herum und biss ihm in die Hand. Der Mann schrie auf und unterdrückte den Impuls loszulassen. Stattdessen schlang er die Arme um den Kleinen, versuchte, den Wirbel aus Tritten und Fausthieben zu bändigen, und flüsterte: »Hör auf, beruhige dich doch. Ich will dir helfen. Ich will dir nur helfen.«
Der Junge brüllte unverständliche Sätze. Dann verdrehte er die Augen und wurde in seinen Armen bewusstlos.
In dem Moment hielt ein zweites Auto an und bannte die beiden im gnadenlosen Scheinwerferlicht. Der Mann rührte sich nicht und malte sich aus, welchen Eindruck die Szene auf den Fahrer machen musste: ein großer, kräftiger Unbekannter, der den leblosen Körper eines splitternackten zehn- oder zwölfjährigen Jungen an sich presste.
2
Der Wagen war ein dicker, pastellblauer Subaru, eine Lunge auf vier Rädern, wie ihr Assistent Angelo Zucca befunden hatte, der nun am Steuer saß. Valentina wäre etwas Dezenteres lieber gewesen. Aber man nimmt, was die Familie einem gibt, und ihre Familie war der Zentrale Operationsdienst der Staatspolizei SCO.
Die Fahrt war kurz. Keine zwei Stunden, trotz der dreißig Minuten, die sie gebraucht hatten, um den Verkehr auf der Großen Ringautobahn hinter sich zu lassen. Valentina hatte die Zeit genutzt, um die Informationen durchzugehen, die sie vor der Abfahrt hastig auf ihren Laptop geladen hatte. Sie gaben kaum etwas her. Womöglich nicht einmal genug für einen Einsatz des SCO. Doch ihr Vorgesetzter Giuseppe Falcone war strikt gewesen: »Darum wirst du dich selbst kümmern müssen, nicht einer deiner Mitarbeiter. Ich traue dem Leiter der mobilen Einheit Grosseto nicht. Könnte sein, dass er den Fall unterschätzt. Wir sollten möglichst schnell herausfinden, ob wir wirklich gebraucht werden. Wenn nicht, sagst du Auf Wiedersehen, machst auf dem Absatz kehrt und kommst sofort wieder zurück.« Valentina hatte gehorcht. Wie immer.
Die junge Frau, die sie am Eingang des Polizeipräsidiums erwartete, war klein und zierlich, mit einem Wust schwarzer Locken. »Dottoressa Medici?«, fragte sie, drückte ihr die Hand und ließ ihr keine Zeit zu antworten. »Ich bin Ispettore Blasi. Roberta Blasi. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Roberta Blasi hatte einen unvermutet kräftigen Händedruck. Ihre Augen funkelten.
Auf seine typisch maulfaule Art stellte Angelo Zucca sich ebenfalls vor, dann führte Blasi sie ins Polizeipräsidium.
»Für Straftaten gegen die Person bin ich nicht zuständig«, erklärte sie, während sie der Wache an der Pforte zu verstehen gab, dass ihre Besucher sich nicht ausweisen mussten. »Aber wenn Sie nichts dagegen haben, erläutere ich Ihnen die Situation.«
»Sie leiten die Ermittlung nicht?«, fragte Valentina überrascht, während sie die Büros der mobilen Einheit betraten.
Roberta Blasi wurde rot. »Diese Sache fällt eigentlich nicht in den Aufgabenbereich meiner Abteilung. Aber wir hatten gerade Dienst, als der Anruf kam, und wir waren die Ersten vor Ort … Wir wissen noch nicht genau, worum es sich handelt. Viele hier bezweifeln, dass wir es tatsächlich mit der Entführung eines Minderjährigen zu tun haben.«
»Sie auch?«
»Ich weiß noch nicht, was ich denken soll.«
»Na schön«, versetzte Valentina knapp, irritiert von der Schwammigkeit, mit der die Sache offenbar gehandhabt wurde. »Dann setzen Sie mich ins Bild, so gut Sie können.«
Angelo Zucca machte es sich derweil mit einem vielsagenden Grinsen hinter seinem dichten Bart auf einer Schreibtischkante bequem. Er war ein alter Hase des SCO, und seine lässige Haltung sollte ihr vermitteln: »Locker bleiben, Dottoressa, das sind Provinzbullen, was soll man erwarten.« Valentina wusste genau, wie die Kleinstadtkollegen tickten: Jedes Mal, wenn sich die Spezialisten des Zentralen Operationsdienstes in ihre Ermittlungen einmischten, reagierten sie mit Argwohn, und häufig entfachte eine Art Wettstreit. Ihr war dieses Gerangel herzlich egal. Ihre Aufgabe bestand darin, sich auf Weisung einzuschalten, festzustellen, ob der Sachverhalt das Eingreifen des Operationsdienstes rechtfertigte, und so schnell wie möglich wieder zu verschwinden. Bei den Unmengen liegen gebliebener Arbeit, die auf sie warteten, hatte sie für taktisches Ermittler-Hickhack keine Zeit.
»Wie Sie wissen, heißt der Junge Fosco Agnelli«, erklärte Ispettore Blasi. »Im Dezember wird er zwölf. Ein aufgewecktes Kerlchen, wenn auch ein bisschen eigen. Kein einfacher Charakter. Er ist gestern Nachmittag aus Sorano verschwunden, einem kaum dreitausend Seelen großen Ort, da kennt jeder jeden. Er hat die Schule um Punkt dreizehn Uhr verlassen, ist aber nie zu Hause angekommen. Wir haben das überprüft, es sind rund sechshundert Meter. Unmöglich, sich da zu verlaufen, zumal als Einheimischer. Die Mutter, Luisa Marini, wartete mit dem Mittagessen auf ihn und hat ihn sofort als vermisst gemeldet. Der Vater, von dem sie getrennt ist, lebt in Frankreich. Er wurde umgehend kontaktiert, aber natürlich wusste er von nichts. Gestern Abend, kurz vor Mitternacht, wurde der Junge, wie wir Ihnen gemeldet haben, ein paar Kilometer außerhalb des Dorfes gefunden. Ein Handelsvertreter hat ihn entdeckt, als er auf der Maremmana nach Hause fuhr … das ist die Straße, die vom Bolsenasee zum Meer führt. Sie schlängelt sich durch die gesamte Region. Der Kleine war nackt, weder Kleidung noch Schuhe. Er rannte die Straße entlang und schrie wie am Spieß.«
Die Beamtin brach ab, und zu Valentinas Überraschung zeigte ihr Gesicht echte Rührung. Eine sonderbare Reaktion für eine erfahrene Polizistin, die bestimmt schon einiges erlebt hatte.
»Der arme Junge«, sagte Roberta Blasi, »wer weiß, was er durchgemacht hat! Er hatte Glück, dass er nicht überfahren wurde.«
Valentina nickte. Aus irgendeinem Grund ging ihr diese unerwartete Mitleidsbekundung gegen den Strich. »Das alles hatten Sie uns bereits mitgeteilt«, sagte sie. »Ich hoffe, es gibt noch mehr. Sie sagten, er sei ein schwieriges Kind?«
»Das ist der Punkt. Die Trennung der Eltern war kein Spaziergang, und sicher hat der Junge darunter gelitten. Er ist bei einem Psychiater in Behandlung und … er ist nicht das erste Mal von zu Hause weggelaufen.«
Valentina überlegte kurz. Vielleicht steckte kein großes Geheimnis hinter diesem Verschwinden, und ihre Reise hierher war umsonst gewesen. Auch wenn die Tatsache, dass der Junge unbekleidet gefunden worden war, zu denken gab.
»Ich nehme an, er wurde untersucht.«
»Sicher.« Ispettore Blasi griff nach ihren Notizen, die sie ganz offensichtlich nicht brauchte. »Abgesehen von dem Schock ist er in guter körperlicher Verfassung. Zu dieser Jahreszeit ist es nicht besonders kalt, also auch keine Anzeichen von Unterkühlung. Man geht davon aus, dass er sich an einem geschützten Ort befand, bevor er aufgefunden wurde. Kein Trauma, kein Zeichen von Gewalteinwirkung. Es wurden die üblichen Untersuchungen durchgeführt: Blut, Urin, EKG, alles, was nötig war, und jetzt warten wir auf das Ergebnis.«
»Keine Reizung im Rachenraum?«, fragte Valentina. »Äther hat diese Nebenwirkung, wussten Sie das?«
Die junge Frau nickte und sah Valentina aufmerksam an.
»Keine Auffälligkeiten im Rachen. Ich habe auch an Äther gedacht, Dottoressa«, sagte sie nachdrücklich. »Der Arzt hat es noch nicht ausgeschlossen. Ehe er sich festlegt, will er die Untersuchungsergebnisse abwarten. Er sagte, auf den ersten Blick gebe es keine Anzeichen, dass der Junge...
Erscheint lt. Verlag | 17.10.2024 |
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Übersetzer | Verena von Koskull |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Bestseller • Cold Case • Cyberkriminalität • düster • Entführung • Ermittlerin • Italien • Kind • Krimi • rätselhaft • Rom • Spannung • Spezialeinheit • Thriller • Toskana • verstörend |
ISBN-10 | 3-8437-3257-4 / 3843732574 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3257-4 / 9783843732574 |
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