Du stirbst nicht nur zur Sommerzeit (eBook)
384 Seiten
HarperCollins eBook (Verlag)
978-3-7499-0747-2 (ISBN)
O Tannenbaum, O Tannenbaum,
Ich bring euch was zum Lesen:
Denn gerade jetzt zur Weihnachtszeit
Der nächste Mörder ist nicht weit
Ob unter des Baumes grünem Kleid,
beim Weihnachtsessen großes Leid,
Ob auf der Flucht vorm frohen Fest,
der Weihnachtsmann dir gibt den Rest,
In diesem Buch geht's spannend zu
Drum rat ich dir - bestell´s im Nu.
In dieser winterlichen Anthologie werden alle Krimi-Fans auf ihre Kosten kommen. Mit verkleideten Weihnachtsmännern, gefährlichen Geschenken und streitlustigen Familien wird es in vierundzwanzig Krimis diese Adventszeit nicht langweilig.
Mit Geschichten von: Sina Beerwald, Ella Danz, Elsa Dix, Adrian Geiges, Kathrin Hanke, Franziska Henze, Hartmut Höhne, Svea Jensen, Markus Kleinknecht, Regine Kölpin, Christian Kraus, Anke Küpper, Felix Leibrock, Michelle Marly, Nicole Neubauer, Markus Rahaus, Michael Römling, Jobst Schlennstedt, Anette Schwohl, Hendrik Siebold, Carolyn Srugies, Michael Thode, Sabine Weiß und Ben Westphal.
Svea Jensen ist das Pseudonym einer erfolgreichen Krimiautorin. Sie ist in Hamburg aufgewachsen und dem Norden stets treu geblieben: Nach vielen Jahren beim Norddeutschen Rundfunk lebt sie heute in Schleswig-Holstein, wo sie sich mittlerweile ganz dem Schreiben widmet. Während sie Verbrechen für ihre nächsten Bücher plottet, lässt sie sich am liebsten eine Nordseebrise um die Nase wehen.
Eiswellen
Elsa Dix
Der Wind zerrt an ihrem Schal, droht ihr die Mütze vom Kopf zu wehen. Gesa wickelt ihren Wollmantel fester um ihren Körper. Schnee treibt eisige Spitzen in die Haut ihres Gesichts. Sie wischt ihn mit dem Handschuh weg, schaut aufs Wattenmeer. Gefrorene Krusten überziehen das Wasser. Eiswellen. Gefährlich und unberechenbar.
Sie hat das Dorf vor einer Stunde verlassen. Am Hafen vorbei, die Polder entlang bis zum Vogelschutzgebiet. Weit entfernt hört sie die Glocken, die zur Christmette läuten. Die Kirche wird bis zum letzten Platz besetzt sein. Hier hingegen ist es menschenleer. Zumindest fast. Die Härchen in Gesas Nacken richten sich auf. Sie weiß, dass er ihr gefolgt ist.
Sechs Monate zuvor – Sommer 1968
Wolfgang steht auf der Fähre, der Wind bläst ihm salzige Luft in das Gesicht. Er sieht, wie die Insel näher kommt. Weiße Häuser am Strand, spielende Kinder im Sand. Missmutig verzieht er das Gesicht. Seine Mutter hat darauf bestanden, dass er einige Wochen nach Norderney fährt. Zur Erholung von der Studiererei, sagte sie. Dabei befürchtet sie nur, dass er in Berlin in die Unruhen hineingerät. Wie wenig sie ihn kennt. Was interessiert ihn Rudi Dutschke? Er hat ohnehin kaum Kontakt zu seinen Kommilitonen. Schwätzer, die glauben, eine Revolution herbeireden zu können.
Die Insel gefällt ihm nicht, schon nach einem Tag ist er genervt: wegen des Klingelns der Bimmelbahn vor der Milchbar, weil alle Sitzplätze im Strandcafé Cornelius besetzt sind und weil er sich das Conversationshaus nicht ansehen kann, ohne dass ihm ein Kurkonzert mit Seemannsliedern entgegenschallt. Aber dann entdeckt er Gesa.
Mit festen Schritten geht sie durch die Friedrichstraße, in der Hand ein Einkaufsnetz. Über die toupierten Haare hat sie ein buntes Tuch gebunden. Ein Mädchen wie so viele. Und doch bleibt sein Blick an ihr hängen. Es ist die Art, wie sie sich bewegt. Sie weiß, wohin sie gehört: Auf diese Insel. In dieses Land. In diese Welt. Er folgt ihr. Sie kauft Obst bei Bakker, Brot bei Bethke in der Poststraße, Blumen bei Namuth. Alltäglichkeiten. Vielleicht ist es genau das, was seine Aufmerksamkeit erregt. Inmitten dieser Scheinwelt aus Urlaubern, in der man jede Minute genießen muss, bevor es zurück in den Arbeitstrott geht, ist Gesa ein Stück Normalität. Alltag im Ausnahmezustand. Aufstehen, Frühstück für die Gäste bereiten, Betten machen, durchwischen, Einkäufe tätigen, Wattwanderungen mit den Urlaubern, Essen vorbereiten. Feste Abläufe, immer gleich. Nach drei Tagen weiß er, wo sie für die Familie und die Gäste einkauft. Nach sechs, bei welchem Bekannten sie stehen bleibt, um zu plaudern, und an wem sie mit einem schnellen Gruß vorbeigeht. Nach elf Tagen, über welche Träume sie sich mit ihrer Freundin Bärbel unterhält, wenn die beiden abends in den Dünen spazieren gehen und sich allein wähnen. Kurz vor seiner Abreise fasst er sich ein Herz, bietet Gesa an, ihr Einkaufsnetz zu tragen. Sie lächelt und sagt, das könne sie gut allein. Sie ist freundlich. Distanziert. Sie will zu Urlaubern keinen näheren Kontakt. Erstarrt bleibt Wolfgang stehen, während sie ihren üblichen Weg fortsetzt. Er hat gedacht, bei ihm ist es anders. Er kennt sie doch, wie kann sie das nicht bemerken? Wolfgang dreht sich um, packt seinen Koffer und verlässt die Insel mit der nächsten Fähre.
Herbst
Gesa bleibt in Wolfgangs Gedanken. Ständig und immer. Am ersten Samstag im Oktober hält er es nicht mehr aus und fährt zurück. Auch das nächste Wochenende kommt er. Vernachlässigt das Studium. Muss sich bei einem Bekannten Geld leihen, um Reise und Unterkunft bezahlen zu können. Schließlich bleibt er ganz. Gesa wird ein Teil seiner Routine. Aufstehen, beim Herrenpfad warten, bis sie aus dem Haus tritt, sie beim Einkauf begleiten. Am Nachmittag führt sie Urlauber durch das Watt. Untiefen, Schlicklöcher und Treibsand, sie kennt sich aus. Abends trifft sie sich mit Bärbel. Er ist immer dabei, unsichtbar, ein Schatten – und doch so nah.
Gesa ist froh, als im November die letzten Gäste abreisen. Gemeinsam mit ihren Eltern schiebt sie den großen Tisch aus dem Wohnzimmer zurück in die Küche. Sie kann ihr Zimmer wieder allein nutzen, auch wenn Karin noch manchmal nachts zu ihr kommt. Es macht Gesa nichts aus, es ist schön, beim Einschlafen den leisen Atem ihrer kleinen Schwester zu hören. Jetzt ist die Familie wieder unter sich. Da ist niemand mehr, der noch schnell ein Brot gemacht haben will. Der am Küchentisch sitzt und bis in die Nacht mit dem Vater diskutiert: ob man sich eine Wohnung in dem neuen Apartmenthaus an der Kaiserstraße kaufen sollte, ob eine Landverbindung wie auf Sylt gebaut werden müsste, wann der letzte Fischer der Insel aufgeben wird.
Gesa zieht die Spitzentischdecke auf dem Wohnzimmertisch gerade. Die Mutter hat Karin ins Bett gebracht, setzt sich jetzt auf das Sofa und greift nach dem Strickzeug. Auch Gesas Vater kommt, er hat heute Nachmittag den Anlasser am Boot repariert, nun stellt er den Fernseher an. Gesas Blick geht zur Uhr, kurz vor acht, gleich fängt die Tagesschau an. Ihr bleibt nicht viel Zeit. Sie atmet tief durch. »Ich wollte mit euch reden.« Sie zögert, aber es hilft nichts. Sie muss es sagen. »Mir folgt ein junger Mann, ein Urlauber. Seit Wochen ist er mir ständig auf den Fersen, ich kann hingehen, wo ich will. Immer ist er da.« Sie presst die Lippen aufeinander. Lange hat sie überlegt, wie sie es sagen soll, ohne dass es sich verrückt anhört. Es hört sich trotzdem verrückt an.
Die Mutter blickt nicht von ihrem Strickzeug auf. »Der verschwindet schon wieder. Um diese Jahreszeit fahren die Urlauber ab, dann bist du ihn los.«
Ihr Vater lässt sich ächzend in den Sessel fallen. Er wendet sich zu ihr um. »Hast du ihn ermuntert?« In seinem Blick liegt etwas Abschätziges.
Ihr Herz schlägt schneller. »Bestimmt nicht.«
Die Augen des Vaters werden klein. »Aber von selbst kommt so ein Junge doch nicht auf Ideen.«
Ihre Mutter sieht nun doch auf. »Geh ihm einfach aus dem Weg.«
Als ob das so einfach wäre. Gesa würde am liebsten heulen. Sie will noch etwas sagen, aber die Melodie der Tagesschau ertönt, und die Weltkarte erscheint auf dem Fernseher. Der Vater greift nach einem Bier, die Mutter lehnt sich im Sofa zurück, lässt das Strickzeug sinken. Gesas Zeitfenster ist vorbei.
Am nächsten Tag nieselt es, der Wind fegt über die roten Ziegelsteine am Boden. Bevor sie aus dem Haus tritt, schaut Gesa die Straße entlang. Die Nachbarin geht mit ihren beiden Kleinen Richtung Grundschule. Sonst ist es leer. Gesa zieht die Kapuze ihres roten Wollmantels über. Sie ist es leid, sich von diesem Mann hetzen zu lassen. Sie wird ihn zur Rede stellen. An der Friedrichstraße huscht sie hinter das Kaiser-Wilhelm-Denkmal. Sie hört Schritte, jemand kommt aus dem Herrenpfad. Sie atmet durch, stellt sich dem Mann entgegen. Aber es ist nur Hinrich Uphoff, der Gepäckträger. Er schüttelt den Kopf. »Wat is mit di, Wicht?« Sie läuft rot an, dreht sich um und läuft davon.
Der Wind wirbelt Papier in den grauen Himmel und pfeift durch Wolfgangs Hose. Er tritt von einem Bein aufs andere. Gesa ist seit Tagen nicht vor die Tür gegangen. Aber es ist ihm recht, sehr recht sogar. Denn er hat etwas entdeckt, was seine Beobachtungen viel leichter machen wird. Es war ein Zettel, ausgehängt im Feinkostladen im Herrenpfad. Jetzt klopft er an die Holztür, eine Frau im schwarzen Witwenkleid öffnet ihm, sie hat ihn erwartet. Ächzend schiebt sie ihren schweren Körper Stufe um Stufe hinauf bis zum Dachboden. »Hier ist aber keine Heizung. Ich sage es nur. Nicht, dass mir im Winter Beschwerden kommen.« Sie macht die Zimmertür auf. Wolfgang drängt sich an ihr vorbei, stößt mit dem Kopf fast gegen die Dachschräge. In einer Nische steht ein schmales Bett, an der Wand ein abgenutzter Schrank. Aber das interessiert ihn nicht, sondern allein der Blick nach draußen. Er kann in das Zimmer des gegenüberliegenden Hauses sehen. Dort sitzen zwei Mädchen auf einem Bett mit einem aus bunter Wolle gestrickten Überwurf. Gesa und ihre Freundin Bärbel. »Ich nehme es«, flüstert Wolfgang. »Es ist perfekt.«
Die nächsten Tage verbringt er am Fenster, verborgen von der Gardine und in eine dicke Wolldecke eingemummelt. Er hat sich ein altes Opernglas besorgt, so kann er alles bis ins Detail sehen. Morgens um halb sieben zieht Gesa ihre Vorhänge beiseite. Dann geht sie hinunter zum Frühstücken. Er folgt ihr, denn wenn er in der Küche bei seiner Zimmerwirtin sitzt, dann ist es, als säße er mit Gesa an einem Tisch. Er sieht, wie sie mit ihrer Mutter plaudert, während sie ihre kleine Schwester füttert. Manchmal liegt sie auf ihrem Bett und liest. Sie knabbert dabei mit den Zähnen an ihrer Lippe. Das Lesen gefällt ihm nicht. Sie vergisst ihn, dabei soll sie jeden Moment an ihn denken.
Gesa schließt die Haustür schnell hinter sich. Sie atmet auf, als sie in die Sicherheit der Wohnung tritt. Sie hängt ihren Mantel an die Holzgarderobe. Ihre Mutter tritt aus der Küche, trocknet gerade einen Teller ab. »Da lag ein Paket für dich vor der Tür. Ich hab es auf dein Bett gelegt.« Ihre Mutter dreht sich zu Karin um, die am Tisch sitzt und ein Brot isst. Marmelade klebt an ihrem Mund.
Gesa geht die Treppe hinauf. Das Paket ist schmal, in Packpapier eingewickelt und mit einer roten Schleife versehen. Kein Absender. Ihre Hand zittert, als sie das Band aufzieht. Es ist ein Buch, der zweite Teil von »Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung«. Den Vorgänger hat sie gerade beendet. Hinter ihrer Stirn fängt es an zu pochen. Sie hat mit niemandem darüber geredet,...
Erscheint lt. Verlag | 24.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 24 Geschichten • Adventskalenderbuch • Anthologie • bekannte autoren • Buch • Familienzeit • Gänsehaut • Geschenke • kurze Krimis • Mord • Mörderische • spannende Krimis • Spannung • Verbrechen • Weihnachtszeit |
ISBN-10 | 3-7499-0747-1 / 3749907471 |
ISBN-13 | 978-3-7499-0747-2 / 9783749907472 |
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Größe: 762 KB
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