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Routinen des Vergessens (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
144 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-7681-9851-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Routinen des Vergessens -  Raphaela Edelbauer
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»Ein überragendes Talent und erzählerisches Universalgenie.«Clemens Setz Sprache als Grundbaustein des Universums: Keine andere Autorin unserer Zeit denkt Naturwissenschaften, Literatur und Philosophie so radikal zusammen wie die preisgekrönte österreichische Autorin Raphaela Edelbauer. Ihre Poetikvorlesungen zeugen davon und bieten eine verblüffend neue Perspektive auf die Literatur. Im Werk von Raphaela Edelbauer greifen naturwissenschaftliches Denken und literarischer Erkenntnisdrang scheinbar mühelos ineinander. Dem liegt die These zugrunde, dass Naturwissenschaften, Literatur und Philosophie Kehrseiten ein und derselben Medaille sind und demzufolge auch mit ähnlichen Methoden erschlossen werden können. Wie das gelingt, zeigt die Autorin in faszinierenden Abschnitten zur Fiktionalität, zur Schreibpraxis und zur Metapherologie. Die Vorträge wurden für die Wiesbadener Poetikvorlesungen konzipiert und werden nun erstmals publiziert. 

Raphaela Edelbauer, geboren in Wien, studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst. Für ihr Werk »Entdecker. Eine Poetik« wurde sie mit dem Hauptpreis der Rauriser Literaturtage ausgezeichnet. Außerdem wurde ihr der Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb, der Theodor-Körner-Preis und der Förderpreis der Doppelfeld-Stiftung zuerkannt. Ihr Debütroman »Das flüssige Land« stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, für ihren zweiten Roman »DAVE« erhielt sie den Österreichischen Buchpreis. Raphaela Edelbauer lebt in Wien.

Raphaela Edelbauer, geboren in Wien, studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst. Für ihr Werk »Entdecker. Eine Poetik« wurde sie mit dem Hauptpreis der Rauriser Literaturtage ausgezeichnet. Außerdem wurde ihr der Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb, der Theodor-Körner-Preis und der Förderpreis der Doppelfeld-Stiftung zuerkannt. Ihr Debütroman »Das flüssige Land« stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, für ihren zweiten Roman »DAVE« erhielt sie den Österreichischen Buchpreis. Raphaela Edelbauer lebt in Wien.

Praxis


Grundlegendes zur Praxis


1. Autorin sein heißt nicht einfach zu schreiben, sondern eine Praxis zu entwickeln oder mehr noch eine Praktizierende zu sein. Wir unterhalten für vielerlei eine Praxis: Man kann 30 Minuten am Tag Klavier spielen oder zwei Mal pro Woche Französischunterricht nehmen, man kann jeden Morgen meditieren oder ein Löffelchen Olivenöl für sein Cholesterin einnehmen. Man integriert Praktiken in sein Leben; und das ist wichtig und gut – aber das heißt nicht notwendigerweise, dass man damit Praktizierende wird. Praktizierende zu sein bedeutet, dass man sich selbst in die Praxis integriert, nicht umgekehrt. Schreiben in diesem Sinne verstanden, heißt nicht allein, in der Sprache zu arbeiten, sondern vor allem an der Sprache. Diese beiden Dinge sind grundlegend verschiedene Modi, um die Kernkompetenz der*des Schreibenden zu verstehen.

Eine Praxis entwickelt sich gegenläufig zum heute so vieldiskutierten Reverse Engineering. Dieses Konzept hat ein übergeordnetes Ziel und gliedert sich in die notwendigen Schritte, um es zu erreichen. Die Praxis aber entwickelt sich von der Tätigkeit her. Sie ist Grundlage für die Entwicklung von Prozessen und mutigen Entschlüssen; und diese entstehen eingedenk der Tatsache, dass wir Ergebnisse nie ganz in der Hand haben und stattdessen richtige Entscheidungen das sind, was zählt.

Eine Praxis kann nicht auf dem Reißbrett entworfen oder als Neujahrsvorsatz beschlossen werden. Sie benötigt jahrelange, regelmäßige Kultivierung.

Man kann das Ergebnis nicht ohne den Prozess begreifen. Heute sehnen sich Menschen mehr denn je nach kondensierten, konsumierbaren Wahrheitszuckerln, die sie beim Geschirrspülen als Podcast durchlutschen können – 15-Minuten-Zusammenfassungen von Selbsthilfebüchern und TED-Talks, aus denen man die Weisheiten anderer Leute heraussaugt, die an einer selbst statt leben. Aber da stockt etwas, da klebt’s. Wahrheit muss sich in Methode entfalten, muss langsam verdaut und selbst heruntergebrochen werden, sonst wird sie zwar geschluckt, aber nicht aufgenommen.

2. Unermüdliches Studieren aller Aspekte der Sprache ist nötig – Melodie und Rhythmus, Funktionen und Techniken, vor allem semantische Strukturen und das Auftauchen ungeahnter Bedeutungen. Man hat kundig zu werden in Fachsprachen, Archaismen und Figuren – in der Grammatik und ihren Tausenden Phänomenen, der Schrift, im Agglutinieren unserer Partikel und Gedanken und der ganzen babylonischen Vielfalt. Spontane Intensität, Magie des Entdeckens und expansive Liebe, die sich über mehr Leben erstreckt, als man zur Verfügung hat – das ist Praxis.

Wer die Praxis ernst nimmt, muss sich unablässig in Studienfelder verstricken, um seine Trittsicherheit an immer neuen Graten zu erproben. Beispiele für solche Studienfelder: der Cockney-Rhyming-Slang und andere Kryptolekte, die Kausalität im russischen Märchen, Plansprachen, die Grammatik von Bantu-Sprachen, ergodische Literatur und Cybertexte, der vierfache Schriftsinn in der Bibelexegese, Koans im Zen-Buddhismus, Kalauer und Übertreibungen, berühmte Paradoxa, die Fugen-Permutation in der Musik, starke und schwache Beugung oder – wie in Abschnitt 3 ausgeführt wird – Gamedesign-Strategien, um Probleme in literarischen Texten zu lösen.

In homerischer Zeit war téchne das Können des Handwerkers, das konkrete Arbeiten mit Zwingen, Hobeln, Winkelmessern. Wenige Jahrhunderte später veränderte sich die Bedeutung des Begriffs stärker zu einer analytischen Kapazität des Geistes hin, die auf ein telos (Ziel) gerichtet Erkenntnis produziert. Aber da ist ja gar kein Widerspruch zwischen diesen beiden.

Drei Eigenschaften müssen sich in der Praxis entwickeln; sie bestimmen die Qualitäten eines Textes: Handwerk, Kraft und Innovation. Handwerk ist selbsterklärend – es schöpft sich aus dem aufmerksamen Studium dessen, was vor einem da war. Innovation heißt, als Reaktion auf die Konfrontation mit der Gegenwart eigene Werkzeuge zu entwickeln. Kraft aber kann man nicht erlernen: Sie ist die unmittelbare Potenz des sprachlichen Ausdrucks – die rätselhafte Möglichkeit zu bezeichnen und die Fähigkeit, auf einen Witz hin Lachen zu evozieren. Sie wird sichtbar, wenn uns Worte unmittelbar erregen, und ist doch immer präsent, weil kein Löschblatt zwischen die Sprache und uns passt.

Non coerceri maximo, contineri minimo, divinum est: Durch das Größte nicht eingeschränkt, durch das Kleinste umschlossen zu werden ist göttlich. Dieses Epitaph am Grab des Ignatius von Loyola stellt Hölderlin seinem Hyperion voran.[34] Es unterstreicht einen der zentralen Aspekte der Praxis – einen unermüdlichen Glauben daran, dass das Aufschließen von Strukturen im Kleinen auch die großen Rätsel öffnen kann; dass es auf der anderen Seite aber einer übergeordneten Struktur bedarf, damit das Einzelne, das einem in der Welt begegnet, überhaupt in einen Sinnzusammenhang gestellt wird.

Kleine wie große Strukturen sind dennoch im Schreiben irreduzibel; und der Analyseprozess vom einen zum anderen findet irgendwann ein Ende. Susan Lowell de Solorzano: »Take table salt, no matter how hard you look, you will not find the yellow-green of the chlorine or the silver of the sodium; if you reduce the salt any further, back to the component elements, you will lose all of the qualities of the salt.«[35] Die Praktikerin darf nicht verleitet werden zu glauben, dass lauter unzusammenhängende Mikroskopierungen dasselbe seien wie Präzision. Analytische Gedanken geben uns aber auch keine Erklärungen für die unmittelbare Sinnesqualität, die uns im Alltag begegnet.

Das heißt leider auch: Eine Poetikvorlesung stößt notwendigerweise irgendwo an eine Grenze – und diese Grenze kann nur die Praxis überwinden.

3. Die Elemente der Praxis dürfen nicht wie die hacks eines Selbstoptimierers unverbunden nebeneinanderstehen, mit einem Wort, clevere Tricks sein, die auf einen kurzen Dopaminausstoß abzielen. Diese Manöver entbehren eines Klebstoffs, der sie in der Tiefe zusammenhält. Eine existenzielle Leere steigt aus ihnen auf, sobald man den kleinen Zaubertrick begreift, sobald man »sieht, wie sie gemacht wurden«. Der Sinn der Praxis ist es deswegen auch, eine Plattform zu erschaffen, auf der sich die Handlungen entfalten können – eine, die sie trägt, statt nur auf ein kurzlebiges Ergebnis aus zu sein.

Die Plattform ist nicht nur für einen selbst da. Auf ihrem Grund kann man sich mit anderen verständigen und gemeinsam Erkundungen anstellen. Der wirkliche Grund für die Praxis ist es, das Feuer für die Literatur zu erhalten und es an die nächste Generation weiterzugeben. Praxis heißt auch Kontinuität.

4. Praxis bedeutet oft Problemlösung. Man entdeckt immer neue Ebenen, in denen sich die Dinge spießen, und ist gezwungen – einer Seefahrerin gleich, die unermüdlich Modifikationen an ihrem Schiff vornehmen muss[36] – sich selbst und seine Methode zu ändern. Wie erzeuge ich Stimmung A, wie verweise ich auf Idee B, ohne dass man sie gleich identifizieren kann? Wie erkläre ich ein Konzept im Text, ohne es noch selbst zu verstehen? Wie kann ich in einem Dialog die Erzählstimme kompromittieren? Wie kann ich etwas so andeuten, dass der*die Leser*in es garantiert nur unbewusst wahrnimmt?

Jeder Morgen beginnt mit einer Aneinanderreihung unauflösbarer Widersprüche und entfaltet sich in der Verwendung von Apparaturen, die es noch gar nicht gibt.

Eines meiner Lieblingszitate stammt von Thomas Edison und lautet: »When you have exhausted all possibilities, remember this – you haven’t.« Die Möglichkeiten liegen, so Edison, nicht umher wie versteckte Bodenschätze – sondern sie werden durch eine bestimmte Art des Suchens erst erschaffen.

5. Die Sprache ist ein endloses, in sich gefaltetes, verwinkeltes Feld von Inventionen, in das Expeditionen möglich sind, die sich im Kleinen wie im Großen nie erschöpfen. In diesem Feld gilt es, weitere stets miteinander verbundene Felder abzustecken, die als Versuchsanordnungen dienen. Diese nenne ich zum Beispiel einen Roman. In meiner Idealvorstellung ist die vorherrschende Emotion, die einen beim Lesen ergreift, Neugier: Neugier auf offene Fragen und rätselhafte Formen und der an den*die Leser*in weitergegebene Drang zu entdecken und erforschen.

Wir denken das Lösen schwieriger Probleme, tiefgehender Freilegungen, komplizierter Analysen als identisch mit sogenannter »harter Arbeit«. Genauso wichtig aber können Leichtigkeit, Sanftheit und das Spielerische sein. Ohne dass der Praktiker Freude empfindet, kann das Ergebnis nichts Brillantes haben. Man muss aber wissen, dass Freude nicht mit Spaß haben zu verwechseln ist. Wie der kanadische Ruderer Jake Wetzel einmal sagte: »Rowing doesn’t need to be fun to be fun.«

6. Die Praxis selbst hat weder Äußeres noch Inneres; eigentlich alles kann in sie Eingang finden. Wahrnehmungsschulung ist daher ebenso wichtig wie das Schreiben direkt zu üben. Kochen oder Programmieren lernen sind mögliche Schulungen, aber man kann es natürlich auch direkter angehen. Eine der vielversprechendsten Perspektivenverschiebungen, die ich Autor*innen empfehle, nenne ich die Routinen des Vergessens.

Im Feld jeder Praxis gibt es zwei grundlegende Richtungen: anabole und katabole Vorgänge. Anabole sind...

Erscheint lt. Verlag 7.9.2024
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Autorin 2024 • Dave • Fiktionalität • Inkommensurablen • Literarisches Schreiben • Literatur • Literatur und Sprache • Metapher • Metapherologie • Naturgesetze • Naturwissenschaft • Ontologie • Österreichischer Buchpreis • Pataphysik • Philosophie • Philosophische Theorien • Poetik • Poetikvorlesung • Schreiben • Zeichen und Papier
ISBN-10 3-7681-9851-0 / 3768198510
ISBN-13 978-3-7681-9851-6 / 9783768198516
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