Mauer des Schweigens. Die Akte Leipzig (eBook)
400 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3285-7 (ISBN)
Grit Poppe, geboren 1964 in Boltenhagen, studierte am Literaturinstitut in Leipzig und arbeitet als freiberufliche Autorin. Ihr Jugendroman Weggesperrt wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher. Für den Jugendroman Verraten erhielt sie den Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreis. Zuletzt erschienen sind das Sachbuch Die Weggesperrten. Umerziehung in der DDR - Schicksale von Kindern und Jugendlichen, zusammen mit Niklas Poppe, sowie der Kriminalroman Rabenkinder. Die Akte Torgau. Sie lebt in Potsdam. https://www.grit-poppe.de/
Grit Poppe, geboren 1964 in Boltenhagen, studierte am Literaturinstitut in Leipzig und arbeitet als freiberufliche Autorin. Ihr Jugendroman Weggesperrt wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher. Für den Jugendroman Verraten erhielt sie den Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreis. Zuletzt erschienen sind das Sachbuch Die Weggesperrten. Umerziehung in der DDR - Schicksale von Kindern und Jugendlichen, zusammen mit Niklas Poppe, sowie der Kriminalroman Rabenkinder. Die Akte Torgau. Sie lebt in Potsdam. https://www.grit-poppe.de/
1
Die Kreide rieselte in feinem Staub auf ihre frisch geputzten Schuhe, während Ina Reinhardt die Sechser-Malfolge für die dritte Klasse an die Tafel schrieb. Sie hörte hinter sich das Rascheln von Papier, das Flüstern eines Kindes, dann war es still.
Die Lehrerin drehte sich um und lächelte. Sie hatte sich ein bestimmtes Lächeln angewöhnt, um den Schülern zu begegnen. Ein sehr schmales, dünnes Lächeln, brüchig wie Eis. Komm zu mir, wenn du magst, aber komm mir nicht zu nahe, hieß es. Nicht, dass sie sich vor den Kindern fürchtete. Es ging um den Respekt, den sie sich täglich neu verschaffen musste. Gerade in diesen Zeiten des Umbruchs und der allgemeinen Verunsicherung, der – wie sie es empfand – Unordnung und des Chaos.
Sie wusste nicht, was die Zukunft bringen und ob sie ihren Job behalten würde. Es sah nicht danach aus. Der neue Direktor, der stets glatt rasiert in die Schule kam, hatte ihr und ihren Kolleginnen und Kollegen »mit großem Bedauern« eröffnet, dass bis zum Ende des Jahres 1991 Entlassungen erfolgen würden. Nicht nur in dieser Polytechnischen Oberschule, in ganz Leipzig. Die Zahl 7.000 fiel. 7.000 Lehrerinnen und Lehrer allein in Leipzig. Aber es werde »Einzelfallprüfungen« geben, und er persönlich würde sich selbstverständlich für den Erhalt jeder einzelnen Arbeitsstelle einsetzen.
Ina Reinhardt gab nichts auf diese vollmundigen Versprechungen. Der neue Direktor kannte sie ja kaum richtig. Und in ihrer Kaderakte stand, dass sie nach einem entsprechenden Studium als Freundschaftspionierleiterin eingestellt worden war. Auch wenn sie von Beginn an lieber in der Unterstufe unterrichtete, hatte sie ihre politische Funktion erfüllt, gewissenhaft, für die SED, für den Staat DDR. Sie hätte sich nicht träumen lassen, dass ihr gerade das mal auf die Füße fallen würde.
Die Mädchen und Jungen schrieben die Aufgaben mechanisch in ihre Hefte. Sie konzentrierten sich auf die Tafel und schauten an der Lehrerin vorbei. Nur Elsa schrieb wieder einmal nicht. Sie hockte teilnahmslos auf ihrem Platz in der mittleren Reihe und starrte sie an.
»Elsa, hast du eine Frage?« Die Lehrerin veränderte ihren Gesichtsausdruck nicht; sie wollte weder freundlicher zu Elsa sein als zu den anderen Kindern noch unfreundlicher.
Elsa schüttelte den Kopf.
»Warum schreibst du dann nicht?«
Das Kind zuckte mit den Schultern und murmelte etwas. Die Lehrerin verstand nur das Wort »vergessen«.
»Hast du deinen Füller vergessen?« Sie wischte sich mit der Kreide in der Hand eine Strähne aus dem Gesicht. Die Kreide legte sie selten beiseite. Der Staub auf ihrer Haut beruhigte sie: Sie war die Lehrerin, sie gehörte hierher. Die Schülerinnen und Schüler hatten ihren Anweisungen zu folgen, auch Elsa.
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Hast du dein Heft vergessen?« Ihre Stimme blieb ruhig. Die Kinder schrieben. Nur zwei oder drei von ihnen hoben die Köpfe und blickten neugierig zu ihrer Mitschülerin.
»Nicht das Heft«, antwortete das Kind leise.
»So. Also nicht das Heft. Was dann?«
Elsa schwieg. Sie zog ihre Unterlippe zwischen die Zähne.
»Was dann?«
»Meinen Schulranzen.«
Die Lehrerin schluckte. Elsa vergaß oft etwas. Mal die Federtasche, mal ein Buch. Die Hausaufgaben sowieso. Aber ohne Schulranzen in die Schule zu gehen, dazu gehörte schon einiges an Kopflosigkeit. Es lag bei diesem Kind jedoch nicht an mangelnder Intelligenz, das wusste Ina. Sie war ein durchschnittlich begabtes Mädchen; es schien allerdings so, als lebte sie in ihrer eigenen Welt, als sei sie eines dieser Kinder, die sich verträumt und unaufmerksam treiben ließen; die am Nachmittag nicht mehr wussten, wo sie am Morgen ihr Fahrrad abgestellt hatten.
»Dann komm bitte nach vorn, und löse die Aufgaben an der Tafel.« Ihre Stimme klang jetzt streng, fremd, verärgert; das Lächeln verrutschte seltsam. Sie nahm sich vor, in der Pause mit dem Kind zu reden.
Sie wollte es nicht vor der Klasse demütigen. Sie wollte es auf keinen Fall demütigen. Ina musste auf der Hut sein; auf der Hut vor den Fallen ihres Berufes. Es gab viele Fallen und viele Fallensteller. Die Kollegen, die Kinder, der Direktor, die Eltern …
Immer häufiger und ungenierter hörte sie ihren Spitznamen, den ihr die älteren Schüler gaben. Vor ein paar Tagen verbot sie einem Jungen das Rauchen auf dem Schulhof; er schnipste die Kippe in hohem Bogen durch die Luft, so dicht an ihr vorbei, dass der Rauch ihr in die Nase stieg. Sie trat die Glut aus, eher instinktiv als absichtlich, und der Junge murmelte etwas. Sie tat, als hätte sie ihn nicht verstanden, und drehte ihm den Rücken zu.
Er sagte es noch einmal, leise, gehässig: »Narbengesicht.«
Sie ließ sich nicht provozieren, ging steif weiter. Narbengesicht. Dabei sah man ihre Narben kaum noch. Nur bei genauem Hinschauen erkannte man die auf der Wange und die winzige unter ihrem Kinn.
Seit der Wende wurden die Schüler aufsässiger, ließen sich von ihr, der ehemaligen Pionierleiterin, kaum noch etwas sagen, wehrten Ermahnungen mit höhnischem Gelächter ab. Aber natürlich gab es auch erfreuliche Tage, hilfsbereite Kollegen und nette Schüler.
Die Schule genoss einen verhältnismäßig guten Ruf: Sie lag verkehrsgünstig, bot ein vergleichsweise preiswertes Mittagessen, die Wände waren erst kürzlich in hellen grüngelben Farben gestrichen worden. Lehrer, Eltern und Schüler hatten bei der Umgestaltung der Schule mitgeholfen. Eine neue Zeit begann. Ernst Thälmann hatte ausgedient. Sie musste nicht mehr darauf achten, dass die immer gleich aussehenden Wandzeitungen über den Arbeiterführer gerade hingen, oder darauf, dass das Thälmann-Foto wieder mal staatsfeindlich verunstaltet wurde – ein durchaus beliebter Sport unter den Jugendlichen. Die Wandzeitungen waren abgeschafft worden, die sozialistischen Parolen waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben, der Fahnenappell fand nicht mehr statt, es gab keine Pioniere und FDJler mehr. Sie war jetzt nur noch eine ganz normale Lehrerin.
»Komm bitte an die Tafel, Kind. Worauf wartest du?«
Elsa erhob sich immerhin. »Ich kann nicht«, sagte sie.
Ina fühlte die Kreide in ihrer Hand schmierig werden. Sie hatte nicht wenig Lust, sie dem Kind an den Kopf zu werfen. Mit Kreide zu werfen war nicht unüblich gewesen. Die Schüler kannten das und lachten meist, wenn das Stück durch den Raum flog. Aber sie befand sich in der Zeit der Überprüfung. Sie durfte sich keinen Fauxpas mehr leisten. Mit 36 würde sie nicht so ohne Weiteres einen neuen Job bekommen, keinen, der ihr gefiel, jedenfalls.
»Jetzt komm her. Stell dich nicht so an«, sagte sie leise. »Hast du mich gehört?«
»Ja, Frau …« Offenbar kam das Kind nicht auf ihren Namen. Es schob sich langsam an der Schulbank entlang.
Ina wandte sich der Tafel zu und schrieb die Zusatzaufgabe auf die olivgrüne Fläche. Unruhe breitete sich in der Klasse aus, jemand unterdrückte ein Kichern, und das Tuscheln hörte auch nicht auf, als sie sich wieder umdrehte.
Elsa stand dicht neben ihr und sah zu ihr hoch. In ihren kieselsteingrauen Augen lag ein Lauern. Sie hielt die Hand ausgestreckt, als erwarte sie Schläge mit einem Rohrstock. »Darf ich die Kreide bitte?«, fragte sie.
Die Lehrerin erschrak leicht vor den Worten und der fordernden Hand. »Natürlich«, sagte sie hastig. Das Gewisper und Geflüster in der Klasse hatte noch zugenommen, und schließlich, als sie ihre Kreide an das Kind weitergab, erkannte sie den Grund. Elsa trug weder Schuhe noch Strümpfe; sie stand barfuß vor ihr.
»Aber, Mädchen!«, entfuhr es ihr. Es war Ende März, manchmal herrschte noch Frost in der Nacht, und es war nicht besonders warm im Klassenzimmer. »Wo sind deine …« Sie deutete stumm hinab, als wäre das Wort »Schuhe« angesichts der nackten Tatsachen etwas Unaussprechliches.
»Vergessen«, murmelte Elsa. Sie wandte sich der Tafel zu und begann zu schreiben.
Ina sagte nichts. Sie starrte auf die schmutzigen Zehen, auf die Hacken, die rot aussahen, wie wund gescheuert. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie musste auf der Hut sein. Sie durfte sich nicht nachsagen lassen, sie hätte die Zeichen übersehen.
Das Quietschen an der Tafel hörte auf. Es war merkwürdig still in der Klasse geworden. Trotzdem sammelte sie zwei Stifte ein, die im Weg lagen, und reichte sie dem pausbäckigen Jungen, dem sie gehörten. Alles war in Ordnung. Sie hatte alles im Griff. Für jedes Problem gab es eine Lösung. Auf beinahe jede Frage konnte auch eine Antwort gefunden werden.
Sie hob den Blick.
Elsa stand barfüßig und breitbeinig da, den Kopf erhoben, die Fäuste in die Hüften gestemmt. Die Kreide klemmte wie eine weiße Zigarre zwischen ihren Lippen. An der Tafel ballte sich der pure Unsinn. Elsa hatte hinter jede Aufgabe dieselbe Zahl geschrieben. Seltsame Zeichen und Fratzen leisteten der Zahl Gesellschaft.
Ina betrachtete das Bild nicht ohne...
Erscheint lt. Verlag | 2.1.2025 |
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Reihe/Serie | Morduntersuchungskommission Leipzig |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Arbeit im Polizeiteam • Auerbachs Keller • Culture Clash • DDR Buch • DDR Krimi • Ermittlerin • Frank GOLDAMMER • Jugendwerkhof • Leipzig • Mauerfall • Montagsdemos • Ostdeutschland • Ost West • Sachsen • Titus Müller • Wende • Westdeutschland |
ISBN-10 | 3-8437-3285-X / 384373285X |
ISBN-13 | 978-3-8437-3285-7 / 9783843732857 |
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