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Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken (eBook)

Essays und Reden
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
304 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01130-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken -  Daniel Kehlmann
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Ob Gabriel García Márquez, Heimito von Doderer, George Orwell, Salman Rushdie, Karl Kraus oder Jonathan Franzen: Daniel Kehlmann ist als Leser ein scharfsinnig Rühmender, ein kritisch Liebender, ein Lernender. Dasselbe gilt für ihn als Kinogänger, wenn er sich etwa von Michael Haneke oder Lars von Trier begeistern lässt. Auskunft über den Autor und Zeitgenossen Daniel Kehlmann gibt er in seinen großen Reden. Anlässlich der Entgegennahme des Anton-Wildgans-Preises stellt er sich die Frage, ob er ein österreichischer Autor ist. In der titelgebenden Marbacher Schillerrede denkt er über den historischen Roman nach. Und ein Konzert im KZ Mauthausen wird ihm zum Exempel dafür, dass Kunst keinen Ort abseits von der Welt beanspruchen darf.

Daniel Kehlmann, 1975 in München geboren, wurde für sein Werk unter anderem mit dem Candide-Preis, dem Per-Olov- Enquist-Preis, dem Kleist-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Sein Roman Die Vermessung der Welt war einer der erfolgreichsten deutschen Romane der Nachkriegszeit, und auch sein Roman Tyll stand monatelang auf den Bestsellerlisten und schaffte es auf die Shortlist des International Booker Prize. Daniel Kehlmann lebt in Berlin.

Daniel Kehlmann, 1975 in München geboren, wurde für sein Werk unter anderem mit dem Candide-Preis, dem Per-Olov- Enquist-Preis, dem Kleist-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Sein Roman Die Vermessung der Welt war einer der erfolgreichsten deutschen Romane der Nachkriegszeit, und auch sein Roman Tyll stand monatelang auf den Bestsellerlisten und schaffte es auf die Shortlist des International Booker Prize. Daniel Kehlmann lebt in Berlin.

In eigener Sache


Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken


Über Historie und Erfindung

I

Im Jahr 1978 beginnt der amerikanische Auslandsgeheimdienst CIA das Stargate Project. Es geht um den kontrollierten Einsatz paranormaler Fähigkeiten, vor allem um das sogenannte Remote Viewing. Das Strategic Research Institute in Menlo Park im Silicon Valley wird damit beauftragt, Hellseher auszubilden.

Man geht mit akribischem Ernst zu Werk. Im Dezember 1986 verfassen die Herren Scott Hubbard und Gary Langford ein Papier mit dem Auftrag A Suggested Remote Viewing Training Procedure. «A number of individuals», liest man da, «have demonstrated the ability to accurately perceive information inaccessible through the ‹conventional› ‹senses› and to convey their impressions in words and symbols. At times they can describe events, places, people, objects, and feelings with very high quality.»

Es brauche, schreiben Hubbard und Langford, 25 bis 30 Trainingssitzungen, am besten in stiller und kühler Umgebung, bis sich geeignete viewer – übersetzen wir ruhig mit «Seher» – vom Mittelmaß zu unterscheiden begännen und, zunächst in kurzen Erkenntnisblitzen, dann in ausführlicher und konsistenter Weise, Informationen über ihr target empfangen könnten. «The term ‹target› can include almost anything imaginable, e.g.: objects, events, people, places.»

Man mag schon verstehen, dass einem Nachrichtendienst derlei Fähigkeiten zupasskämen. Und so liest man mit beglückter Verblüffung jene inzwischen der Öffentlichkeit freigegebenen Forschungsdokumente, in welchen das SRI seine telepathischen Experimente schildert. Jede Menge Skizzen und Graphiken gibt es da, die meisten von eher dadaistischer Natur, andere wenigstens im Ansatz durchschaubar. Wichtig sei die Reduktion von noise, also allem Ablenkenden. Ablenkung könne naturgemäß von außen, aber auch von innen geschehen. An einem ruhigen, kühlen Ort also solle der remote viewer tätig werden und in großer Konzentration. Trance könne helfen, sei aber nicht unbedingt notwendig. Habe man solche Bedingungen hergestellt, könne dem viewer eine Aufgabe gegeben werden, etwa: «Describe the individual who committed a certain offense on a specified date.» Und dieser, so versichern die Herren Hubbard und Langford, zeichne dann ein «very accurate portrayal of the facial characteristics» der gesuchten Person.

II

Der Feldherr ist müde. Sein kühnes Unterfangen, der Griff nach dem Thron, ist gescheitert, er hat vom Leben nichts mehr zu erwarten, die Gefolgsleute verlassen ihn, und in einer Geste, die halb Resignation und halb Güte ist, entlässt er zuletzt noch seinen treuen Kammerdiener:

Der arme Mensch! Er hat im Kärntnerland

Ein kleines Gut und sorgt, sie nehmens ihm,

Weil er bei mir ist. Bin ich denn so arm,

Daß ich den Dienern nicht ersetzen kann?

Nun! Ich will niemand zwingen. Wenn du meinst,

Daß mich das Glück geflohen, so verlaß mich.

Heut magst du mich zum letztenmal entkleiden,

Und dann zu deinem Kaiser übergehn –

Gut Nacht, Gordon!

Ich denke einen langen Schlaf zu tun,

Denn dieser letzten Tage Qual war groß,

Sorgt, daß sie nicht zu zeitig mich erwecken.

«Er geht ab», sagt die Regieanweisung. «Kammerdiener leuchtet. Seni folgt. Gordon bleibt in der Dunkelheit stehen.»

Wallenstein wird den Morgen nicht erleben. Sein letzter Satz hat drei Bedeutungen, dicht ineinandergefaltet: Erstens, er ist ein gebrochener Mann, er ist sehr, sehr erschöpft. Zweitens, sein Schlaf wird länger währen, als er denkt, denn er geht nicht in eine erquickende Nachtruhe, sondern in den Tod. Und drittens ist die Anweisung, nicht zu früh geweckt zu werden, nicht nur an den Diener, sondern auch an die sich erinnernde Zukunft gerichtet: Schreibt nicht zu bald über mich, beschwört mich nicht zu früh auf die Bühne. Für einen Moment wird die Illusion durchscheinend, und neben Wallenstein taucht nebelhaft, doch in den Konturen erkennbar, der Schriftsteller Schiller auf, der rund hundertsechzig Jahre später – ja, Schiller steht Wallenstein zeitlich näher als wir ihm – ebendies tun, nämlich Albrecht von Wallenstein aus seinem Schlaf erwecken wird. Nicht zu zeitig solle dies geschehen – man muss das wohl so verstehen, dass Schiller Abstand für wichtig hielt, also: alles Nötige über die Figur zu wissen, aber vielleicht auch nicht zu viel. Haben die Zeugen das Feld verlassen, beginnt erst der erfindende Autor sein Werk.

Die Frage des richtigen Abstandes, nicht nur in zeitlicher Hinsicht, beschäftigt einen ständig, wenn man über Menschen schreibt, die tatsächlich gelebt haben. Das war immer schon eine Domäne der Literatur: Auch König Macbeth hat einst Schottland regiert, Henry V. hat nicht nur bei Shakespeare, sondern auch im realen Azincourt die Franzosen besiegt, Torquato Tasso und Lenz waren so real, dass sie uns Werke hinterlassen haben, die kaum weniger bedeutend sind als jene, in denen sie vorkommen, und Alexander Hamiltons Gesicht prangte schon auf der Zehndollarnote, bevor Lin-Manuel Miranda sein Meisterwerk über ihn schrieb.

Allerdings hat das Theater es hier erkenntnistheoretisch leichter als die Prosa. Wenn Wallenstein auf der Bühne steht, dann steht dort letztlich ein Mann, von dem jede Person im Publikum weiß, dass er nicht der Herzog von Friedland ist, sondern ein Darsteller im Kostüm. Auch wenn man sich dazu bringen kann, diesen Umstand in einer suspension of disbelief zu verdrängen, so handelt es sich dabei doch um eine hochkultivierte Selbsttäuschung, der man nur scheinbar verfällt. Selbst im Film, der realistischsten Fiktionsgattung, ist man über den ontologischen Status dessen, was man sieht, nie im Zweifel: Wir wissen in jeder Sekunde, dass keine Kamera bewegte Großaufnahmen der ersten Königin Elizabeth oder Adolf Hitlers im Bunker aufgenommen hat, ebenso wie wir wissen, dass Olivia Coleman nicht die zweite Königin Elizabeth ist; während wir aber, wenn wir auf einer aus einem Prosatext gerissenen Seite die Namen Wallenstein, Hamilton, Tasso oder Hitler lesen, noch nicht sicher sein können, mit welcher Art Sprechakt wir es zu tun haben.

Dieser Unterschied ist nicht trivial: Seinetwegen gibt es um historische Figuren in erzählender Prosa immer ein Flackern, eine Unsicherheit, eine Grundverwirrung, die wir im Theater oder im Film nicht erleben. Ein Dramentext ist, in den schönen Worten Tom Stoppards, für sich genommen noch kein Werk, sondern die Beschreibung eines künftigen Ereignisses – und dieses Ereignis wird per definitionem von sich verstellenden Leuten gestaltet. Bei einem Prosatext liegen die Dinge nicht so klar: «Sie zerrten aneinander, dachten auf ihre Weise sich Wallensteins zu entledigen. Er knirschte und krachte ihnen, wie sie noch saßen, sein Begehren über Nacken und Schultern. Er vermöge, ließ er sich schallend aus Prag vernehmen, keinen Unterschied zu sehen zwischen seinen Leistungen und denen des Kurfürsten Maximilian nach der Prager Schlacht.» Ob das von einem leicht exzentrischen Historiker verfasst ist oder von einem Romancier, in diesem Fall Alfred Döblin, wird nicht an jeder Stelle deutlich, eine Vagheit liegt über solchen Sätzen, die etwas im besten Sinn Unseriöses an sich haben. Denn vergessen wir nicht, das Unseriöse war immer schon der Ort, wo die Kunst sich entfalten konnte.

III

Der remote viewing process, schreiben Langford und Hubbard, sei dreistufig: Erstens «accessing the information concerning the target», zweitens «objectifying our feelings, perceptions and physical information in written and verbal form», drittens «qualifying the renderings, taking care to separate and label data related to the target from that which is extraneous to the task». Zunächst sei die Konzentration des viewers darauf gerichtet, aus dem Gewirr der Eindrücke und des noise das Relevante herauszufiltern. Dann aber, Schritt für Schritt, werde die trainierte Person fähig, ihre telepathisch erlangten Kenntnisse auch anderen mitzuteilen: «Gradually, the novice is exposed to techniques designed to convey their feelings to others in written and verbal communication. Only then can work be started on interpreting these feelings.» Denn sich anderen in geordneter Form mitteilen zu können, sei das Wesentliche, es sei aber auch die größte Schwierigkeit: «Expert level remote viewers spend nearly 100 % of their time on Step 3.» Eigentlich, fahren die Autoren fort, sei fast jeder zum remote viewing befähigt, aber der Lärm des Alltagslebens verhindere meist, dass man diese Möglichkeit kultivieren und dann auch lernen könne, das Erkannte adäquat mitzuteilen.

Bedauerlicherweise hatte das Stargate Project nie ein praktisches Ergebnis, nie konnte der Geheimdienst auf Agenten verzichten und einfach durch Magie spionieren. Dennoch lief es, wie so manche nutzlosen Projekte, erstaunlich lange weiter, und zwar bis zum September 1995. Der abschließende CIA-Report An Evaluation of Remote Viewing ist zwar buchstäblich vernichtend, aber zugleich nicht ohne Respekt: «The...

Erscheint lt. Verlag 10.12.2024
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte engagierte Literatur • Essays • Film • Historischer Roman • Kritiken • Literaturpreise • Österreichische Literatur • Reden
ISBN-10 3-644-01130-3 / 3644011303
ISBN-13 978-3-644-01130-4 / 9783644011304
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