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Anständige Leute (eBook)

Kriminalroman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
400 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31185-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Anständige Leute -  Leonardo Padura
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Havanna im Ausnahmezustand: Der historische Besuch Obamas und das legendäre Rolling-Stones-Konzert stehen kurz bevor. Amerikanische Touristen johlen in den Straßen, exklusive Bars servieren teure Drinks. Inmitten der Aufbruchstimmung ermittelt Conde in einem unliebsamen Fall: Ein berüchtigter Kunst-Zensor wird tot aufgefunden, ein Mann, der etliche Leben zerstörte. Gleichzeitig vertieft sich Conde in eine kubanische Legende: 1909, als der Halley'sche Komet für Weltuntergangsstimmung sorgt, entzündet ein Mord im Rotlichtmilieu eine Fehde zwischen zwei Gangsterbossen. Zu Condes Überraschung ergeben sich zwischen Gegenwart und Vergangenheit ungeahnte Verbindungen. In einem Havanna zwischen Rausch und Verzweiflung beschwört ein epischer Kriminalfall Echos eines bewegten Jahrhunderts herauf.

Leonardo Padura, geboren 1955 in Havanna, zählt zu den meistgelesenen kubanischen Autoren. Sein Werk umfasst Romane, Erzählbände, literaturwissenschaftliche Studien sowie Reportagen. International bekannt wurde er mit seinem Kriminalromanzyklus Das Havanna-Quartett. Im Jahr 2012 wurde ihm der kubanische Nationalpreis für Literatur zugesprochen, 2015 erhielt er den spanischen Prinzessin-von-Asturien-Preis in der Sparte Literatur, 2023 den Pepe Carvalho Preis. Leonardo Padura lebt in Havanna.

Leonardo Padura, geboren 1955 in Havanna, zählt zu den meistgelesenen kubanischen Autoren. Sein Werk umfasst Romane, Erzählbände, literaturwissenschaftliche Studien sowie Reportagen. International bekannt wurde er mit seinem Kriminalromanzyklus Das Havanna-Quartett. Im Jahr 2012 wurde ihm der kubanische Nationalpreis für Literatur zugesprochen, 2015 erhielt er den spanischen Prinzessin-von-Asturien-Preis in der Sparte Literatur, 2023 den Pepe Carvalho Preis. Leonardo Padura lebt in Havanna.

1


Zu spät«, verkündete er.

Er erinnerte sich noch genau. Er hatte in seinem Leben – das dabei war, sich erschreckend in die Länge zu ziehen – schon so manches vergessen, und er wusste, dass dieses Vergessen oft genug reine Überlebensstrategie war: Man musste Ballast abwerfen, um sich über Wasser zu halten, man durfte sich nicht in seinen Groll verbeißen, sich nicht immer wieder dieselben Enttäuschungen vor Augen führen. Selbst jemand wie er, der normalerweise hartnäckig, ja unerbittlich an seinen Erinnerungen festhielt, musste seinem Gedächtnis gelegentlich aus Gründen der Seelenhygiene die eine oder andere Säuberungsmaßnahme zugestehen, um nicht vollständig im Morast aus Überdruss und Frustration zu versinken. Vor allem aber, um sich nicht sagen zu müssen, dass vielleicht doch ein anderes Leben möglich gewesen wäre und seines ein einziger großer, seinem eigenen Versagen wie auch den ihm auferlegten Zwängen geschuldeter Irrtum gewesen war.

Was damals geschehen war – er hatte es fast als mystische Offenbarung erlebt –, erinnerte er jedoch haargenau. Er konnte die Szene – manchmal angereichert durch ein paar Tropfen Wut oder einen Schuss Wehmut – in einer Präzision und einem Farbenreichtum vor seinem inneren Auge ablaufen lassen, dass er sich manchmal misstrauisch fragte, ob sie sich tatsächlich in dieser Intensität abgespielt hatte. Und doch stand außer Zweifel, dass sich ihm jene Begegnung so unauslöschlich eingeprägt hatte wie die erste Begegnung mit der Liebe, der Literatur, der Angst oder die erste große Enttäuschung. Oder die Begegnung mit Gott, falls sie einem widerfährt. Eine wahre Initiation.

Jeder in der Nachbarschaft kannte Motivito. Alle Jungs, vor allem aber die Mädchen wussten, wer er war. Seinen richtigen Namen hatte Mario Conde längst vergessen, was die Erinnerung an ihn – wenigstens für Conde selbst – aber nur umso glaubwürdiger machte. Der Betreffende hieß also Motivito, und das reichte völlig, denn als »motivito«, »Anlässchen«, bezeichnete er jede mehr oder weniger gut besuchte und mehr oder weniger gut organisierte Feier, Hausparty, Festivität und sonstige Ausschweifung, zu der er seine musikalischen Schätze beisteuerte. »Heute ist wieder so ein Anlässchen, und morgen habe ich auch eins«, war seine ständige Rede. Und da Motivito im Besitz der besten beziehungsweise neuesten Musik war und die ganze Nachbarschaft verrückt danach, durfte er bei keiner dieser Zusammenkünfte fehlen.

Um seiner Beliebtheit und seinem Ansehen gerecht zu werden, lief Motivito in genau dem Aufzug herum, der in den Sechzigerjahren als modern galt: Wildledersandalen, superenge Röhrenhosen, weite bunte Hemden mit Stehkragen und V-Ausschnitt, Armband mit Metallschließe, alte Nickelbrille mit grünen Gläsern und, einer hochwirksamen Pomade sei Dank, eng am Kopf anliegendes, zur Mitte gescheiteltes Haar. Kurz: Motivito war ein waschechter Geck.

Am Tag seiner großen Begegnung mit Motivito war Mario Conde acht oder neun gewesen, folglich musste sie 1964 stattgefunden haben, im berühmten »Jahr der Wirtschaft«. Sehr witzig! Das Jahr davor war auf den Namen »Jahr der Organisation« getauft worden, und das danach sollte das der Landwirtschaft werden, während das »Jahr der Planung« bereits geschafft war. Ein halbes Jahrhundert später war auf der Insel jedoch, na so was, weiterhin die Rede davon, in welch katastrophalem Zustand sich Wirtschaft, Planung und Organisation befanden, während es der Landwirtschaft leider, leider immer noch nicht gelungen war, wieder für ausreichend Süßkartoffeln, Avocados, Bananen und Guaven auf den kubanischen Märkten zu sorgen.

Es musste eine kalte Nacht gewesen sein, denn die Haustür, die für gewöhnlich offen stand, war zu, als Klopfen und ein Pfiff zu hören waren, woraufhin Mario Conde aufmachte und seinen Vetter Juan Antonio vor sich sah – in Begleitung von keinem Geringeren als Motivito!

»Na, Kleiner, wie gehts?«, legte sein Vetter los, nur um sogleich, sich in dem ungewohnten Glanz der Umstände sonnend, hinzuzufügen: »Sag mal, funktioniert euer Plattenspieler noch?«

Stumm vor Begeisterung nickte der kleine Mario Conde bloß. Seit er denken konnte, gab es bei ihm zu Hause einen RCA Victor, den sein Vater einst in der nicht mehr existierenden Sears-Filiale von Havanna gekauft hatte.

»Bei meinem ist die Nadel im Arsch«, sagte Juan Antonio, »und Motivito muss ’ne Scheibe ausprobieren, die ihm jemand zum Kauf angeboten hat.«

Conde nickte noch einmal. Während sein wie üblich wenig einfühlsamer Vetter auf ihn einredete, starrte er den sagenumwobenen Motivito an, den geckenhaftesten Gecken des ganzen Viertels, der in diesem Augenblick leibhaftig vor ihm stand und auf etwas herumkaute, was eigentlich nur ein Kaugummi sein konnte (wo zum Teufel hatte er den her?) – und der offensichtlich erschienen war, um ihn um einen Gefallen zu bitten.

Immer noch stumm – er wagte es einfach nicht, den Mund aufzumachen – forderte Conde die Besucher mit einer Handbewegung auf, einzutreten. Seine Eltern tauchten in der Erinnerung an diese mystische Nacht nirgendwo auf. Stattdessen ging es jetzt weiter mit der Suche nach dem Plattenspieler, den er hektisch vom Staub befreite und aufklappte. Danach steckte er feierlich den Stecker in die Steckdose, überprüfte, ob der Teller sich vorschriftsmäßig drehte, und fühlte sich unglaublich wichtig, ja wie ein Auserwählter, woran die Tatsache nichts änderte, dass Motivito ihn während der ganzen Zeit kein einziges Mal angesprochen oder auch nur angesehen hatte. Dafür hatte er mitanhören dürfen, wie der König aller Gecken aus seinem Viertel seinem Vetter Juanito erklärte, dass jemand ihm die Scheibe für sage und schreibe zwanzig Pesos zum Kauf anbiete und dass es sich bei dem stolzen Preis schon um eine äußerst gute Aufnahme handeln müsse.

Neben anderen weltbewegenden und unvergesslichen Dingen lernte Mario Conde an diesem Abend, was das war – eine »Scheibe«. Das Schallplattenangebot auf Kuba ließ mittlerweile beträchtlich zu wünschen übrig, und neue Importware gab es selbstverständlich überhaupt nicht mehr, und dennoch oder gerade deshalb hatte der nationale Erfindergeist einen seiner bemerkenswertesten technischen Innovationserfolge errungen: Auf geheimnisvolle Weise war es gelungen, alte LPs und 78er-Schellack-Platten mit einer Vinylschicht zu überziehen, auf die sich Aufnahmen aus dem Jenseits (der verrückten, korrupten kapitalistischen Welt) überspielen ließen, sodass auch die Inseljugend in den Genuss der neuesten Hits kam. Diese Raubkopien, denen manchmal auch nur Scheiben aus dicker Pappe als Unterlage dienten, übernahmen zugleich die Aufgabe, die jungen Leute hierzulande über die in besagtem verrückten, korrupten kapitalistischen Jenseits geschaffene Musik auf dem Laufenden zu halten; Musik, die im kubanischen Radio kaum je, um nicht zu sagen: nie gespielt werden durfte, betrachtete man sie doch als ein Werkzeug der ideologischen Unterwanderung, das, wie ein gewisser Jemand scharfsinnig erkannt hatte, der düsteren Außenwelt dazu diente, sich auf subtile Weise in das Bewusstsein jener neuen Menschen einzuschleichen, die auf dieser Insel dabei waren, sich mit schnellen und sicheren Schritten in vorbildliche Wesen zu verwandeln. Für diese Menschen gab es nur drei große Aufgaben und ein gemeinsames Ziel: lernen, arbeiten, kämpfen – bis zum Sieg!

Als das Gerät schließlich einsatzbereit war, ließ sich Motivito gnädig dazu herab, sich an den immer noch völlig verdatterten acht oder neun Jahre alten Mario Conde zu wenden und ihm dadurch weitere unauslöschliche Erinnerungen einzubrennen: »Also, Kleiner, was du gleich zu hören bekommst, falls es wirklich was zu hören gibt, das hat bis jetzt noch kein Mensch auf Kuba oder sonst wo in der Gegend zu hören bekommen … Das kommt nämlich direkt aus«, er betonte die Worte besonders gestelzt, »dem Vereinigten Königreich, kapiert? Ich meine … hast du schon mal was von den Beatles gehört?«

Immer noch unfähig, auch nur ein Wort zu sagen, schüttelte Conde den Kopf.

Motivito lachte. Und sein Vetter Juan Antonio lachte auch. Ha, ha, ha … wirklich süß, der Kleine – so was von ahnungslos!

»Was Größeres gibts nicht auf der Welt, Kleiner. Diese Typen sind einfach … das Allergrößte!«, rief Motivito, nachdem er sich das Haar glatt gestrichen hatte. Er legte die kostbare Scheibe liebevoll auf den Plattenteller, drückte auf den Startknopf und setzte die Nadel behutsam in die Rille. Erwartungsvolles Schweigen. Ein Kratzen, noch eins, und noch eins. Und dann geschah das Wunder:

It’s been a hard day’s night,

And I’ve been working like a dog …

Conde verstand kein Wort, spürte aber sofort, wie es ihn packte und von ihm Besitz ergriff, jeder Widerstand war zwecklos. Trotzdem sah er noch, dass sein Vetter den Mund aufriss wie ein Idiot (was er bis heute war) und Motivito vor Begeisterung die Tränen in die Augen traten.

In genau diesem Augenblick, an ebendiesem Abend (the day’s night), überquerte Mario Conde, ohne sich der Bedeutung des Geschehens bewusst zu sein, aber sehr wohl wissend, dass etwas Großes vor sich ging, eine Grenze, jenseits von der es kein Zurück mehr gab, niemals. Mithilfe seiner mit mehreren kostbaren Beatles-Songs bestückten Raubkopie von A hard day’s night hatte Motivito ihn auf...

Erscheint lt. Verlag 8.7.2024
Übersetzer Peter Kultzen
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Exil • Freiheit • Havanna • Karibik • Kommunismus • Kriminalroman • Kuba • Kunst • Lateinamerika • Liebe • Prostitution • Spannung • Zensur • Zuhälter
ISBN-10 3-293-31185-7 / 3293311857
ISBN-13 978-3-293-31185-5 / 9783293311855
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