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Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
270 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962295-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens -  Gabriele Reuter
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Effi Briests vergessene Schwester Die junge, verträumte Agathe wächst in einem großbürgerlichen Haushalt auf und möchte eigentlich alles richtig machen. Doch immer wieder eckt sie in der konservativen Gesellschaft des jungen Kaiserreichs an, weder ihre jugendliche Sehnsucht nach Freiheit und Selbstentfaltung noch ihr Wunsch nach Liebe erfüllen sich. Als ihr Bruder ihre Mitgift verspielt, steht ihr nicht einmal mehr eine Vernunftehe offen. Agathe verzweifelt und wird in eine Heilanstalt eingewiesen. Gabriele Reuter wurde mit dem Roman schlagartig berühmt und dieser zu einem Bestseller. »Ein bekannter ?Frauenrechtler? soll, so las ich, geäußert haben, wenn er Kultusminister wäre, so würde er dieses Buch in Hunderttausenden von Exemplaren drucken und verteilen lassen. Er täte ungemein wohl daran.« Thomas Mann

Gabriele Reuter (1859-1941) war eine bedeutende deutsche Schriftstellerin und zu Lebzeiten sehr erfolgreich. Mit Aus guter Familie (1895) wurde sie über Nacht berühmt. Tobias Schwartz, geb. 1976, ist Schriftsteller, Übersetzer und Literaturkritiker. Er schreibt u.a. für den Tagesspiegel und hat zuletzt Werke von Virginia Woolf und Aphra Behn übersetzt. 2024 erschien seine Erzählung Im Nebel.

Gabriele Reuter (1859–1941) war eine bedeutende deutsche Schriftstellerin und zu Lebzeiten sehr erfolgreich. Mit Aus guter Familie (1895) wurde sie über Nacht berühmt. Tobias Schwartz, geb. 1976, ist Schriftsteller, Übersetzer und Literaturkritiker. Er schreibt u.a. für den Tagesspiegel und hat zuletzt Werke von Virginia Woolf und Aphra Behn übersetzt. 2024 erschien seine Erzählung Im Nebel.

II.


Die Freundschaft zwischen Agathe Heidling und Eugenie Wutrow bestand schon sehr lange – seitdem sie eines Morgens mit weißen Schürzchen und neuen Tafeln und Fibelbüchern zum ersten Mal in die Schule gebracht wurden und ihre Plätze nebeneinander angewiesen bekamen. Da hatten sie die Bonbons aus ihren Zuckertüten getauscht, und nun waren sie Freundinnen. Ihre beiden Mamas schickten sie in diese kleine vornehme Privatschule, denn in der staatlichen höheren Töchterschule kamen doch immerhin Kinder von allerlei Leuten zusammen, und sie konnten leicht ein hässliches Wort oder gewöhnliche Manieren mit nach Haus bringen. Entweder holte Agathe die kleine Wutrow zum Schulweg ab, oder Eugenie klingelte um dreiviertel auf acht Uhr bei Heidlings, wozu sie sich auf die Zehen stellen musste, bis Mama Heidling ein Strickchen an den gelben Messingring des Glockenzuges band. Auch in ihren Freistunden steckten die Mädelchen beständig zusammen. Am liebsten war Agathe bei Eugenie, dort blieben sie ungestörter mit ihren Puppen und Bildchen und Seidenflöckchen, mit ihren Geheimnissen und ihrem endlosen Gezwitscher und Gekicher.

Das große alte Kaufmannshaus, welches Eugenies Eltern gehörte, barg eine Unmenge von Ecken und Winkeln, köstlich zum Spielen und um sich zu verstecken. Dunkle Korridore gab es da, in denen auch bei Tage einsame Gasflammen brannten und dünnbeinige Kommis eilig an den kleinen Mädchen vorüberstrichen – hinter vergitterten, staubigen Fenstern das Comptoir, und darin saß Herr Wutrow, ein verschrumpftes, taubes, grobes Männchen, auf einem hohen Drehstuhl – ein Hof mit ungeheuren leeren Kisten und graue, schmutzige Hintergebäude, angefüllt mit einer Schar Arbeiter und Arbeiterinnen, die in kahlen Räumen Zigarren drehten. Die Fabrik – das Comptoir – die Korridore – alles roch nach Tabak. Der süßlich-scharfe Geruch drang sogar bis in die großen Wohnzimmer des Vorderhauses. Hier ließ Frau Wutrow beständig das Parkett bohnern und die Spiegelscheiben der Fenster putzen, deshalb war es immer kalt und zugig. Aber der Tabaksgeruch blieb trotzdem haften.

Auf Agathe übte das Haus, in dem alles ganz anders war als bei ihren Eltern, eine geheimnisvolle Anziehung aus. Sie fürchtete sich vor den Kommis und den Arbeiterinnen und noch mehr vor Herrn Wutrow selbst, sie hatte eine instinktive Abneigung gegen Frau Wutrow, und mit Eugenie zankte sie sich sehr oft, lief dann schluchzend nach Haus und hasste ihre Freundin. Aber Eugenie holte sie immer wieder, und alles blieb wie zuvor. Eugenie konnte niemals ordentlich spielen. Sie hatte ihre Puppen nicht wirklich lieb und glaubte nicht, dass es eine Puppensprache gäbe, in der Holdewina, die große mit dem Porzellankopf, und Kathchen, das Wickelkind, munter zu plaudern begannen, sobald ihre kleinen Mütter außer Hörweite waren.

Agathe verdankte ihrer Freundin verschiedene Strafpredigten, weil Eugenie sie verführte, mit ihr in allerlei Nebengassen der Stadt herumzubummeln, an den Klingeln zu reißen und dann fortzulaufen, alten Damen, die an Parterrefenstern hinter Blumentöpfen saßen, die Zunge herauszustecken und sich mit Schuljungen zu unterhalten.

Am liebsten hielt Eugenie sich in der Fabrik auf. Sie schlich sich an die Männer heran und streichelte die schmutzigen Röcke der Arbeiterinnen und steckte ihnen Kuchen und Äpfel zu, die sie heimlich aus ihrer Mutter Speisekammer holte, damit die Mädchen ihr dafür Geschichten erzählten. Beständig mussten die Aufseher sie fortjagen – im Umsehen war sie wieder da.

Ja – und Eugenie wusste auch, dass Walter eine Braut hätte, mit der er sich küsste, und wenn die Lehrer das hörten, käme er vor die Konferenz. Meta Hille aus der dritten Klasse wäre sein Schatz – na so eine! – Ja – ja – ja – ganz gewiss, wahrhaftig!!

Hatte Eugenie etwas Derartiges herausgespürt, so schüttelte sich ihr kleines, schlankes Körperchen vor Vergnügen, sie kniff ihre grauen Augen zusammen und blinzelte triumphierend über ihr hübsches Näschen hinweg.

Hei – das war fein!

Eines Sonntags nachmittags saßen die kleinen Freundinnen auf dem untersten Ast des niedrigen alten Taxusbaumes in Wutrows Garten. Sie hielten ihre Battiströckchen mit den Fingerspitzen und wehten damit hin und her, denn sie waren von einer bösen Fee in zwei Vögel verwandelt und schüttelten nun ihr weißes und rosenrotes Gefieder. Das Spiel hatte Agathe angegeben. Sie wollte immer so gerne fliegen lernen.

Und dann wussten sie nicht mehr, was sie anfangen sollten, um den Sonntagabend hinzubringen.

Arm in Arm gingen sie an den Beeten mit blühenden Aurikeln oder Stiefmütterchen, an ihren steifen Buchsbaum-Einfassungen entlang. Zwischen den Mauern der Hinterhäuser, die den altmodischen, zierlich gepflegten Stadtgarten einschlossen, wurde es schon grau und dämmerig, während hoch über den Kindern eine rosa Wolke am grünlichen Aprilhimmel langsam verblasste.

»Du«, flüsterte Agathe ganz leise, »es ist doch nicht wahr – das von den kleinen Kindern … Meine Mama …«

»Pfui – geklatscht! Du Petzliese!«

»Nein – ich habe ja bloß gefragt!«

»Ach, deine Mama … Mütter lügen einem immer was vor!«

»Meine Mutter lügt nicht!«, schrie Agathe gekränkt.

Aus dem Streit entspann sich ein heimliches Tuscheln und Flüstern zwischen den kleinen Freundinnen. Agathe rief ein paar Mal: »Pfui, Eugenie – ach nein, das glaube ich nicht …«

Hilfeschreie, die aus dem Abendschatten unter dem alten Taxusbaum, wo die kleinen Mädchen zusammenkauerten, hervorklangen, wie eine geängstete Vogelstimme, wenn die Katze zum Nest schleicht. Und vor Aufregung und Scham und Neugier frierend und glühend, horchte und horchte sie doch und fragte leise, sich dicht an Eugenie pressend und schließlich in ein maßloses Gekicher verfallend.

Das war zu komisch – zu komisch …

Aber Mama hatte doch gelogen, als sie ihr erzählte, ein Engel brächte die kleinen Babys.

Eugenie wusste alles viel besser.

Wie sie beide erschraken und in die Höhe fuhren, als Frau Wutrows scharfe Stimme sie hineinrief. Agathe klopfte das Herz entsetzlich – es war beinahe nicht auszuhalten. Sie getraute sich nicht in das Zimmer mit der hellen Lampe, holte eilig ihren Hut vom Flur und lief davon, ohne Adieu zu sagen.

Was Eugenie ihr sonst noch erzählt hatte – nein, das war ganz abscheulich. Pfui – pfui – ganz greulich. Nein, das konnte gar nicht wahr sein. Aber – wenn es doch wahr wäre?

Und ihre Mama und ihr Papa … Sie schämte sich tot.

Als Mama kam, ihr einen Gutenachtkuss zu geben, drehte sie hastig den Kopf nach der Wand und wühlte das heiße Gesicht in die Kissen. Nein – sie konnte ihre Mama niemals – niemals wieder nach so etwas fragen.

Am andern Morgen trödelte Agathe bis zum letzten Augenblick mit dem Schulgang. Nun war es schon viel zu spät, um Eugenie noch abzuholen. Als sie in der Klasse hörte, dass Eugenie sich erkältet habe und zu Haus bleiben müsse, wurde ihr leichter. Mit wahren Gewissensqualen musste sie sich fortwährend vorstellen: Eugenie könnte vielleicht sterben … Und dann würde kein Mensch auf der Welt erfahren, was sie gestern miteinander gesprochen hatten. Das wäre doch zu grässlich – ach – wenn doch Eugenie lieber stürbe!

»Frau Wutrow schickte schon zweimal, du möchtest herüberkommen«, sagte Frau Heidling zu ihrer Tochter. »Warum gehst du nicht hin? Habt ihr euch gezankt?«

»Ich kann Eugenie nicht mehr leiden.«

»O, wer wird seine Freundschaften so schnell wechseln«, sagte Frau Heidling tadelnd. »Was hat dir denn Eugenie getan?«

»Gar nichts.«

»Nun, dann ist es nicht hübsch von meinem kleinen Mädchen, ihre kranke Freundin zu vernachlässigen. Bringe Eugenie die Vergissmeinnicht, die ich auf dem Markt gekauft habe. Eugenie ist manchmal ein bisschen spöttisch, aber mein Agathchen ist auch sehr empfindlich. Du kannst viel von Eugenie lernen. Sie macht so hübsche Knickse und hat immer eine freundliche Antwort bereit, lässt nie das Mäulchen hängen, wie mein Träumerchen!«

Agathe sah ihre Mutter nicht an, mürrisch packte sie ihre Bücher aus. Es tat ihr schrecklich weh im Halse, als wäre ihr da alles wund. Sie hätte sich am liebsten auf die Erde geworfen und laut geschrien und geweint. Doch nahm sie gehorsam und ohne weiter etwas zu sagen den Strauß und ging. Unterwegs traf sie eine Bürgerschülerin, die sie kannte. Da warf sie die Blumen fort und schlenderte mit dem Mädchen.

Als sie auf ihren ziellosen Streifereien wieder am Hause ihrer Eltern vorüberkamen, sah Mama aus dem Fenster und rief sie zum Essen.

Agathe antwortete nicht und ging ruhig weiter. Sie hörte ihre Mutter hinter sich herrufen und ging immer weiter. Sie wollte überhaupt nicht wieder nach Hause zurück.

Auf einem freien Platz mit Blumenbeeten setzte sie sich auf eine der eisernen Ketten, die, zwischen Steinpfeilern herabhängend, die Anlagen schützen sollten, hielt sich mit beiden Händen fest und baumelte mit den Beinen. Das taten nur die allergemeinsten Kinder! Das Mädchen aus der Bürgerschule setzte sich auch auf eine von den Ketten. So unterhielten sie sich. Von Amerika. Wie weit es wäre, um dorthin zu kommen. Der Lehrer hatte ihnen erklärt,...

Erscheint lt. Verlag 19.7.2024
Nachwort Tobias Schwartz
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Adel • Alltag einer unabhängigen Frau • Bildungsroman • Briefroman • Bürgerlichkeit • Coming of Age • Ehe • Emanzipation • Feminismus • Frauenbewegung • Freiheit • gesellschaftliche Konvention • Gesellschaftlicher Druck • Großbürgertum • Heilanstalt • Herrn Dames Aufzeichnungen • Kaiserreich • Liebe • männliche Liebhaber • Münchner Bohème • Naturalismus • Psychiatrie • Psychologie • Psychologischer Roman • Rollenmodelle • Roman Gesellschaftskritik • Roman Liebesabenteuer • Roman Liebesleben • Sanatorium • Schwabinger Gräfin • Selbstentfaltung • Skandalgräfin • Vernunftehe • Zweckehe
ISBN-10 3-15-962295-9 / 3159622959
ISBN-13 978-3-15-962295-8 / 9783159622958
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