Eulenschrei (eBook)
496 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-30924-4 (ISBN)
Max Bentow wurde in Berlin geboren. Nach seinem Schauspielstudium war er an verschiedenen Bühnen tätig. Für seine Arbeit als Dramatiker wurde er mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet. Seit seinem Debütroman »Der Federmann« hat sich Max Bentow als einer der erfolgreichsten deutschen Thrillerautoren etabliert, alle seine Bücher waren große SPIEGEL-Bestsellererfolge.
EINS
SONNTAG, 19. NOVEMBER, ABENDS
Er mochte die Zeit, wenn es draußen dunkel wurde. Stille herrschte in seinem Atelier. Nur der Wind war zu hören, der leise ums Haus strich. Er liebte die intensiven Momente am Ende des Tages, da sich die Gedanken beruhigten und es nur ihn und sein Werk gab. Er tauchte in die Farben auf der Leinwand ein und war so fokussiert, dass sich das Bildnis, mit dem er beschäftigt war, wie von selbst erschuf.
Es störte ihn nicht, bei künstlichem Licht zu arbeiten. Er hatte verschiedene Tageslichtlampen aufgestellt, sie waren so ausgerichtet, dass keine Schatten fielen. In diesem Raum, etwa fünfzehn mal zehn Meter breit, verbrachte er nun schon seit vielen Jahren seine Abende. Er hatte den Überblick über die genaue Anzahl seiner Gemälde verloren. Nur seine Frau und sein Galerist führten darüber Buch. Er schätzte sich glücklich, von seiner Arbeit leben zu können. Doch letztlich war es ihm egal.
Robert Lumen war ein Kunstmaler, der ganz in seinem Werk aufging. Er saß kerzengerade auf dem Schemel vor der Staffelei, daneben ein Spiegel, in den er gelegentlich einen prüfenden Blick warf.
Mit einem Kohlestift hatte er eine Woche zuvor die Umrisse seines Gesichts auf die Leinwand aufgetragen. Danach hatte er lange auf dem Hocker gebrütet, dessen Holz vom stundenlangen Sitzen blank poliert war, und auf Eingebung gewartet. Es brauchte einige Zeit, bis er ein Gefühl für die richtige Farbgebung entwickelte.
Nun mischte er die Farben an, in der Linken die Palette, in der Rechten einen Rosshaarpinsel, und trug sie auf, gefühlvoll strichelnd, dann wieder großflächig markierend. Seine Bewegungen hatten Schwung, seine Mimik war hoch konzentriert.
Noch nie hatte er ein Porträt von sich selbst erschaffen. Doch nun, im Alter von Mitte fünfzig, hielt er es für an der Zeit, sein Gesicht für die Ewigkeit zu konservieren. Es war kantiger geworden, die Wangen schmaler, die Stirn höher, sein frühzeitig ergrautes Haar war längst schlohweiß.
Er fand es beschämend, andere Männer in den Fünfzigern hatten zum Teil noch dunkle Haare. Mit einem eleganten Silber wäre er schon zufrieden. Während er den Pinsel führte, zwang er sich, liebevoller über sein Äußeres zu denken, doch die großen Ohren störten ihn, die Wulst über seinen Augen, die buschigen Brauen.
Seine Frau Karla wurde nicht müde zu betonen, er habe einen Charakterkopf.
Lumen mengte Blau für seine Augen in das Gemälde, vermischte es mit Weiß. Die Augen waren das Schwierigste, das wusste er aus langjähriger Erfahrung.
Werk für Werk mühte er sich ab, die Menschen, die er porträtierte, mit einem besonderen Augenaufschlag abzubilden, der ihn seit seiner Jugend beschäftigte.
Es war der Grund, weshalb er Kunst studiert hatte.
Auf all seinen Bildern schienen seine Modelle entrückt, verloren und doch wie erlöst zu sein. Beinahe selig schauten sie aus einer anderen Welt auf den Betrachter herab.
Lumen stand auf, entfernte sich von der Leinwand und dachte nach. Würde ihm das mit seinem Selbstbildnis auch gelingen? Er sah sich in seinem Atelier um. Seine jüngsten Arbeiten waren an die Wand gelehnt, allesamt Porträts von Frauen, Männern, die meisten alt, aber auch Jüngere waren darunter, sogar ein Kind.
Ihre Augen. Das war das Wichtigste. Nur darum ging es ihm.
Diesen einen Blick einzufangen. Zu verewigen.
Er schaute in den Spiegel. Dann auf sein Porträt.
Er setzte sich wieder und arbeitete weiter.
Plötzlich war ihm, als würde er sich selbst als Toten malen. Er schauderte.
Unsinn, dachte er. Sind nur die Nerven. Wenn er mit einem neuen Bild begonnen hatte, vergaß er alles um sich herum und malte bis an den Rand der Erschöpfung. Karla warnte ihn häufig vor diesen Zuständen, mahnte ihn, er solle Pausen einlegen.
Doch sie wusste auch, wie wichtig der Schaffensdrang für ihn war. Das Grübeln, Skizzieren, die langen Planungsphasen für ein Gemälde, die mindestens ebenso wichtig waren wie der eigentliche Malprozess, drückten auf seine Stimmung, machten ihn gereizt. Nur wenn er endlich loslegen konnte und wie berauscht vom Geruch nach Farbe und Terpentin war, lief er zur Hochform auf.
Die Zeit verstrich. Das Bildnis wuchs. Er arbeitete am Hintergrund. Das weiße Haar, wild verwirbelt, sein markanter Kopf, der grimmig entschlossene Mund, all das schien aus den Farbflächen herauszustechen. Nun war die Wirkung der Augen noch stärker. Nur zu, dachte er, weiter so. Er traute sich mehr, spachtelte die Farbe, bis er wieder filigraner arbeitete, mit feinem Pinsel, manchmal berührte er mit der bloßen Fingerspitze die Leinwand und arbeitete sacht eine Kontur heraus.
Da ließ ihn ein Geräusch zusammenfahren. Es knackte, kurz darauf heulte es vorm Fenster.
Nur der Wind, versuchte er sich zu beruhigen. Doch die Konzentration war dahin.
Er hielt inne und lauschte. Das Heulen dämpfte sich zu einem Säuseln.
Wie Stimmen. Ganz entfernt meinte er, jemand riefe seinen Namen.
Lumen legte Pinsel und Palette weg, erhob sich von seinem Schemel und trat ans Fenster.
Es war Ende November, der Winter nahte. Ein eisiger Wind, der am Fenster rüttelte, das nicht richtig schloss. Die Tanne vorm Haus wogte hin und her.
Auf dem Rasen bewegte sich noch etwas. Sah aus wie eine Gestalt mit zerzaustem Haar. Etwas Helles blitzte auf, als sich kurzzeitig der Mond hinter den Wolken hervorschob und den Vorgarten in gleißendes Licht tauchte.
War das ein Gesicht?
Schon war es weg.
Möglicherweise ein Irrtum.
Achselzuckend wandte sich Lumen vom Fenster ab.
Ein erneuter Windstoß, und dann hörte er es so deutlich, dass er erneut zusammenzuckte.
Robert, wisperte eine Stimme.
Das kam nicht von draußen. Es war nicht der Wind.
Ich bin hier. Hier.
Er sah sich um. Das Gemurmel so nah, als sei es im Gebäude. Spielten ihm seine Nerven einen Streich? War er schon zu lange mit seinem Porträt beschäftigt?
Hier bin ich. Noch immer hier.
Er schaute auf die Gemälde an der Wand. Für einen Moment war ihm, als würde sich eines der gemalten Modelle bewegen.
Nein, das war nicht möglich.
Robert.
Die Stimme wirkte erschreckend echt.
So nah an seinem Ohr, als stünde jemand direkt hinter ihm. Hastig drehte er sich um. Doch da war niemand. Nur sein erschrockenes Gesicht, das sich in der Fensterscheibe spiegelte.
Plötzlich legte sich der Wind, und alles war still.
Bloß sein Herzschlag war zu vernehmen.
Verlor er allmählich den Verstand? Verbrachte er zu viel Zeit mit seiner Kunst?
Ich muss hier raus, dachte er. Kurzentschlossen wusch er die Pinsel aus und räumte die übrigen Arbeitsutensilien weg. Er warf einen letzten Blick auf sein Selbstporträt, dann schlüpfte er in seinen Mantel.
Er zog das Handy aus der Tasche und schaltete es ein.
Drei Textnachrichten in Abwesenheit, allesamt von Karla: Arbeitest du noch lange?
Eine Stunde später war die nächste eingetroffen. Wo bleibst du?
Und die letzte: Ich gehe jetzt zu Bett.
Lumen löschte das Licht und ging die Stufen ins Erdgeschoss hinunter. Er hatte dieses Haus schon vor vielen Jahren erworben. Es war alt und zugig, das Dach in schlechtem Zustand, das Mauerwerk feucht. Doch er mochte es. Er brauchte den Abstand zu seinem Privathaus, um in Ruhe arbeiten zu könne.
Er trat in den Vorgarten hinaus. Fröstelnd schlug er den Mantelkragen hoch.
Plötzlich berührte ihn etwas im Gesicht, und er wich entsetzt zurück.
Wieder fuhr das Mondlicht hinter den Wolken hervor.
Ein Gesicht starrte ihn an. Zwei Augen, ein geschwungener Mund.
Erst mit einiger Verzögerung erkannte er, was dort vor ihm hing. Es war mit einem Bindfaden an einem Zweig der Tanne befestigt.
Ein Lebkuchenmann, etwa so groß wie eine Hand. Augen und Mund aus Zuckerguss.
Das wie ein Mensch geformte Gebäckstück bewegte sich sacht hin und her.
Es lächelte ihn an.
Lumen brauchte mit dem Auto nicht länger als eine Viertelstunde bis nach Hause. Er sah an der Fassade hoch. Hinter dem Schlafzimmerfenster brannte Licht. Also war Karla wohl noch wach.
Der Gedanke kam heftig, und unwillkürlich presste er die Kiefer zusammen. Sie sollte lieber schlafen. Er wollte heute Abend nicht mehr mit ihr sprechen.
Sofort tat es ihm leid. Er musste geduldig mit ihr sein.
Er schloss auf, zog seinen Mantel aus und hängte ihn an die Flurgarderobe. Er ging so leise wie möglich nach oben, falls sie doch schon eingeschlafen war.
Langsam näherte er sich der angelehnten Tür und spähte ins Schlafzimmer. Das Bett war leer.
Er wandte sich um. Ein Streifen Licht unter der Tür zum Bad.
»Karla?«
Stille.
»Ja, Robert«, kam es schließlich leise zur Antwort.
»Alles in Ordnung bei dir?«
Ein Schweigen, das nichts Gutes verhieß.
Dann, kaum hörbar: »Hilf mir. Bitte.«
Beherzt öffnete er die Tür.
Das Erste, was er sah, war ihr Krückstock. Er lag auf dem Boden. Dann sah er ihre nackten Knie. Sie hockte auf dem Badewannenrand, trug ihr weißes Nachthemd.
»Was ist passiert?«
»Mir wurde schwindlig. Und jetzt schaffe ich es nicht mehr hoch.«
Er griff ihr unter die Arme und zog sie an sich. Wacklig kam sie zu stehen. Ihre Blicke trafen sich, und er atmete durch.
Sie war noch immer...
Erscheint lt. Verlag | 1.7.2024 |
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Reihe/Serie | Ein Fall für Carlotta Weiss und Nils Trojan |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2024 • Berlin • carlotta weiss • eBooks • Ein Fall für Nils Trojan • Ermittlerduo • Neue Reihe • Neuerscheinung • Psychothriller • spiegel-bestseller autor • Thriller |
ISBN-10 | 3-641-30924-7 / 3641309247 |
ISBN-13 | 978-3-641-30924-4 / 9783641309244 |
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