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Victoria. Eine Sommererzählung (eBook)

Hamsun, Knut - Deutsch-Lektüre, Deutsche Klassiker der Literatur - 14475

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
192 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962277-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Victoria. Eine Sommererzählung -  Knut Hamsun
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Wie kommt es, dass zwei, die füreinander bestimmt scheinen, sich verfehlen? Victoria und Johannes sind schon seit der Kindheit ineinander verliebt. Aber sie ist die Tochter des Grundbesitzers, er der Sohn des Müllers, und so stehen von Anfang an die Standesunterschiede zwischen ihnen. Johannes geht in die Stadt, studiert und wird Schriftsteller, Victoria dagegen muss einen anderen heiraten, einen mit Geld, denn ihr Vater hat finanzielle Sorgen  ... Eine bewegende Liebesgeschichte des großen norwegischen Autors und Nobelpreisträgers Knut Hamsun (1859-1952).

Der Nobelpreisträger Knut Hamsun (1858-1952), Sohn einer armen norwegischen Bauernfamilie, schlug sich als Schulmeister, Hilfssheriff, Ladenangestellter, Landarbeiter und Schaffner in Skandinavien und Amerika durchs Leben, ehe er sich als erfolgreicher Dramatiker und Romanautor etablierte. Er gilt als »Vater der modernen Literatur« und inspirierte unter anderem Thomas Mann, Maxim Gorki, Franz Kafka und Hermann Hesse.

Der Nobelpreisträger Knut Hamsun (1858–1952), Sohn einer armen norwegischen Bauernfamilie, schlug sich als Schulmeister, Hilfssheriff, Ladenangestellter, Landarbeiter und Schaffner in Skandinavien und Amerika durchs Leben, ehe er sich als erfolgreicher Dramatiker und Romanautor etablierte. Er gilt als »Vater der modernen Literatur« und inspirierte unter anderem Thomas Mann, Maxim Gorki, Franz Kafka und Hermann Hesse.

I


Der Sohn des Müllers ging umher und dachte nach. Er war ein kräftiger Bursche von vierzehn Jahren, gebräunt von Sonne und Wind, voll verschiedenster Ideen.

Wenn er erwachsen war, wollte er Zündholzfabrikant werden. Wie famos gefährlich, wenn er dann so mit Schwefel an den Fingern einherging, dass niemand den Mut hatte, ihn zu begrüßen. Was für einen Respekt er unter den Kameraden wegen seines unheimlichen Handwerks genießen würde!

Er sah sich nach seinen Vögeln im Wald um. Er kannte sie ja alle, wusste, wo ihre Nester lagen, verstand ihre Schreie und antwortete mit verschiedenen Zurufen. Mehr als einmal hatte er ihnen Teigkugeln gebracht, die er aus dem Mehl in der Mühle seines Vaters geknetet hatte.

Alle diese Bäume am Waldpfad entlang waren seine guten Bekannten. Im Frühling hatte er den Saft aus ihren Stämmen gezapft, und im Winter war er wie ein kleiner Vater für sie gewesen, hatte sie von Schnee befreit und ihre Zweige aufgerichtet.

Und sogar oben in dem verlassenen Granitbruch war ihm kein Stein fremd, er hatte Buchstaben und Zeichen in sie hineingehauen und sie aufgestellt, sie wie eine Gemeinde um ihren Pfarrer geordnet. Die wunderlichsten Dinge der Welt gingen in diesem alten Granitbruch vor sich.

Er bog in einen Seitenweg ein und kam an den Teich hinab, die Mühle war im Gang, ein ungeheurer und schwerer Lärm umgab ihn. Er war daran gewöhnt, hier umherzugehen und laut mit sich selber zu reden; jede Schaumperle hatte gleichsam ein kleines Leben für sich, über das man reden konnte, und dort bei der Schleuse fiel das Wasser gerade herab und sah aus wie ein blankes Gewebe, das zum Trocknen hinausgehängt war. Im Teich unterhalb des Wasserfalls waren Fische; er hatte dort gar manches Mal mit seiner Angelrute gestanden.

Wenn er erwachsen war, wollte er Taucher werden, ja, das wollte er. Dann stieg er vom Deck eines Schiffs in das Wasser und kam in fremde Länder und Reiche hinab, wo große, wunderliche Wälder standen und sich hin und her wiegten und ein Schloss aus Korallen auf dem Grund lag. Und die Prinzessin winkt ihm aus einem Fenster zu und sagt: Komm herein!

Da hört er hinter sich seinen Namen; der Vater stand da und schrie ihm zu:

»Johannes! – Man hat aus dem Schloss nach dir geschickt. Du sollst die jungen Herrschaften zur Insel hinüberrudern.«

Er machte sich schleunigst auf den Weg. Eine neue und große Gnade war dem Sohn des Müllers geschehen.

Das Herrenhaus lag in der grünen Landschaft wie ein kleines Schloss, ja, wie ein unermesslicher Palast in der Einsamkeit. Das Haus war ein weißgestrichenes hölzernes Gebäude mit vielen Bogenfenstern in den Wänden und auf dem Dach, und von dem runden Turm herab wehte eine Flagge, wenn Gäste im Haus waren. Die Leute nannten es das Schloss. Vor dem Herrenhaus aber lag auf der einen Seite die schmale Meeresbucht, und auf der andern streckten sich große Wälder; in der Ferne sah man einige kleine Bauernhäuser.

Johannes ging zur Anlegebrücke und schiffte die jungen Herrschaften ein. Er kannte sie von früher, es waren die Kinder des Schlossherrn und ihre Kameraden aus der Stadt. Alle trugen sie hohe Stiefel zum Waten, Victoria aber, die nur Spangenschuhe trug und die auch erst zehn Jahre alt war, musste ans Ufer getragen werden, als sie an der Insel waren.

»Soll ich dich hinübertragen?«, fragte Johannes.

»Darf ich es tun?«, sagte der Stadtherr Otto, ein Mann im Konfirmationsalter, und nahm sie in seine Arme.

Johannes stand da und sah zu, wie sie hoch aufs Land hinaufgetragen wurde, und hörte sie danken. Dann rief Otto zurück:

»Ja, nun gibst du wohl acht aufs Boot – wie heißt er eigentlich?«

»Johannes«, antwortete Victoria. »Ja, er gibt acht auf das Boot.«

Er blieb zurück. Die andern gingen mit Körben in den Händen landeinwärts, um Eier zu suchen. Er stand eine Weile da und grübelte; er wäre gern mit den andern gegangen, und das Boot hätten sie sehr wohl auf das Ufer ziehen können. Zu schwer? Es war nicht zu schwer. Er umklammerte das Boot mit der Faust und zog es ein Stück hinauf.

Er hörte das Lachen und Schwatzen der jungen Gesellschaft, die sich entfernte. Nun ja – auf Wiedersehn. Aber sie hätten ihn recht gut mitnehmen können. Er kannte Nester, zu denen er sie hätte führen können, wunderliche, versteckte Höhlen im Berg, wo Raubvögel mit Borsten auf dem Schnabel wohnten. Einmal hatte er auch ein Wiesel gesehen.

Er schob das Boot ins Wasser und ruderte bis an die andere Seite der Insel herum. Er hatte eine ganze Strecke gerudert, als ihm zugerufen wurde:

»Rudere zurück. Du scheuchst die Vögel auf!«

»Ich wollte Ihnen nur zeigen, wo das Wiesel ist?«, entgegnete er in fragendem Ton. Er wartete eine Weile. »Und dann könnten wir die Wurmhöhle ausräuchern? Ich habe Streichhölzer bei mir.«

Er erhielt keine Antwort. Da wendete er das Boot um und ruderte zum Landungsplatz zurück. Hier zog er das Boot aufs Ufer.

Wenn er erwachsen war, wollte er eine Insel vom Sultan kaufen und allen Zutritt dazu verbieten. Ein Kanonenboot sollte seine Küsten beschützen. »Eure Herrlichkeit«, würden die Sklaven melden, »ein Boot liegt da draußen auf dem Riff, auf dem es gestrandet ist. Die jungen Leute darin kommen um.« – »Lasst sie umkommen!«, antwortete er.

»Eure Herrlichkeit, sie rufen um Hilfe, wir können sie noch retten, und es ist eine weißgekleidete Frau unter ihnen.«

»Rettet sie!«, kommandiert er mit Donnerstimme. So sieht er die Schlosskinder nach vielen Jahren wieder, und Victoria wirft sich ihm zu Füßen und dankt ihm für ihre Errettung. »Da ist nichts zu danken! ich tat nur meine Pflicht«, antwortet er. »Geht frei umher in meinen Landen, wo es Euch beliebt.« Und dann lässt er der Gesellschaft die Pforten des Schlosses öffnen und bewirtet sie auf goldenen Schüsseln, und dreihundert braune Sklavinnen singen und tanzen die ganze Nacht. Als aber die Schlosskinder wieder abreisen wollen, da ist es Victoria nicht möglich, sie wirft sich vor ihm in den Staub nieder und schluchzt, weil sie ihn liebt. »Lasst mich hierbleiben, stoßt mich nicht von Euch, Eure Herrlichkeit, macht mich zu einer Eurer Sklavinnen.«

Von Erregung durchschauert, schlendert er landeinwärts. Ja, er will die Schlosskinder erretten. Wer weiß, vielleicht haben sie sich jetzt auf der Insel verirrt? Vielleicht ist Victoria zwischen zwei Steinen hängen geblieben und kann nicht loskommen? Er aber braucht nur den Arm auszustrecken, um sie zu befreien.

Die Kinder aber sahen ihn ganz erstaunt an, als er kam. Hatte er das Boot verlassen?

»Ich mache dich für das Boot verantwortlich«, sagte Otto.

»Ich könnte Ihnen zeigen, wo Himbeeren wachsen?«, sagt Johannes in fragendem Ton.

In der kleinen Gesellschaft herrschte tiefe Stille. Victoria griff gleich zu.

»Ach! Wo denn?«, fragte sie.

Der Stadtherr aber bezwang sich bald und sagte:

»Damit können wir uns jetzt nicht befassen.«

Johannes fuhr fort:

»Ich weiß auch, wo Muscheln zu finden sind.«

Abermaliges Schweigen.

»Sind Perlen darin?«, fragte Otto.

»Denk nur, wenn welche darin wären!«, sagte Victoria.

Johannes antwortete: Nein, das wisse er nicht; aber die Muscheln lägen weit draußen auf dem weißen Sand; man müsse ein Boot haben, und man müsse danach tauchen.

Da wurde die Idee gänzlich verlacht, und Otto meinte:

»Ja, du siehst mir auch aus wie ein Taucher.«

Johannes fing an, schwer zu atmen.

»Wenn Sie wollten, könnte ich ja dort auf den Berg hinaufgehen und einen schweren Stein in die See hinabrollen«, sagte er.

»Wozu das?«

»Ach – zu nichts. Aber dann könnten Sie es ja ansehen.«

Aber auch dieser Vorschlag wurde nicht angenommen, und Johannes schwieg beschämt. Dann begann er, fern von den andern, an einem anderen Ende der Insel Eier zu suchen.

Als die ganze Gesellschaft wieder unten am Boot versammelt war, hatte Johannes mehr Eier als die andern. Er trug sie vorsichtig in seiner Mütze.

»Wie geht es zu, dass du so viele gefunden hast?«, fragte der Stadtherr.

»Ich weiß, wo die Nester sind«, antwortete Johannes glücklich. »Jetzt lege ich sie zu den deinen, Victoria.«

»Halt!«, schrie Otto. »Weshalb tust du das?« Alle sahen sie ihn an. Otto zeigte auf die Mütze und fragte:

»Wer steht mir dafür, dass die Mütze rein ist?«

Johannes sagte nichts. Sein Glück war schnell vorbei. Er begab sich mit den Eiern ins Innere der Insel zurück.

»Was hat er nur? Wohin geht er denn?«, fragt Otto ungeduldig.

»Wohin gehst du, Johannes?«, ruft Victoria und läuft ihm nach.

Er steht still und antwortet leise:

»Ich lege die Eier wieder in die Nester zurück.«

Sie standen eine Weile da und sahen sich an.

»Und dann gehe ich heute Nachmittag zum Steinbruch«, sagte er.

Sie erwiderte nichts.

»Dann könnte ich dir die Höhle zeigen.«

»Ja, aber ich habe solche Angst«, antwortete sie. »Du sagtest, sie sei so dunkel.«

Da lächelte Johannes trotz seiner großen Betrübnis und sagte mutig:

»Ja, aber ich bin ja bei dir!«

Er hatte sein ganzes Leben lang oben in dem alten Granitbruch gespielt. Die Leute hatten ihn dort oben arbeiten und reden hören, obwohl er allein war; zuweilen war er der Pfarrer gewesen und hatte Gottesdienst abgehalten.

Der Ort lag seit langer Zeit verlassen da, jetzt wuchs Moos auf den Steinen, und alle Spuren von Menschenhänden waren verwischt. Aber drinnen in der geheimnisvollen Höhle hatte der Sohn des Müllers Ordnung geschaffen...

Erscheint lt. Verlag 17.5.2024
Reihe/Serie Reclams Universal-Bibliothek
Übersetzer Mathilde Mann
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Armut • Arrangierte Ehe • Deutsch • Deutsch-Unterricht • Erzählungen • Ferien • Ferienlektüre • gelb • gelbe bücher • Klassenlektüre • Lektüre • Literatur • Literatur Klassiker • Norwegen • norwegische Literatur • Reclam Hefte • Reclams Universal Bibliothek • Schullektüre • Sommer • Sommerlektüre • Urlaub • Weltliteratur • Zweckehe
ISBN-10 3-15-962277-0 / 3159622770
ISBN-13 978-3-15-962277-4 / 9783159622774
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