Im Schatten der Insel (eBook)
368 Seiten
Piper Verlag
978-3-377-90080-7 (ISBN)
Turid Müller, Psychologin und Schauspielerin, arbeitet seit zwanzig Jahren zwischen Bühne und Couch: Ihr Ratgeber »Verdeckter Narzissmus in Beziehungen« machte sie zur Expertin für toxische Partnerschaften. In Coachings und Trainings begleitet sie Betroffene dabei, sich aus solchen zu befreien. Als »Teilzeitrebellin« steht sie mit einem eigenen Chanson-Kabarett-Programm auf der Bühne und sensibilisiert für gesellschaftsrelevante Themen wie Burnout oder Demenz. Das Meer ist der Ort, an dem sie Ruhe findet. Besonders eine kleine Insel in der Nordsee hat es ihr angetan...
Turid Müller, Psychologin und Schauspielerin, arbeitet seit zwanzig Jahren zwischen Bühne und Couch: Ihr Ratgeber »Verdeckter Narzissmus in Beziehungen« machte sie zur Expertin für toxische Partnerschaften. In Coachings und Trainings begleitet sie Betroffene dabei, sich aus solchen zu befreien. Als »Teilzeitrebellin« steht sie mit einem eigenen Chanson-Kabarett-Programm auf der Bühne und sensibilisiert für gesellschaftsrelevante Themen wie Burnout oder Demenz. Das Meer ist der Ort, an dem sie Ruhe findet. Besonders eine kleine Insel in der Nordsee hat es ihr angetan…
Reif für die Insel
Es gibt Mutter-Tochter-Gespanne, die wie beste Freundinnen sind: Unzertrennlich, innig und unfassbar harmonisch. Das ungleiche Paar, das an diesem Morgen über die Fußgängerbrücke die Fähre Uthlande bestieg, gehörte nicht dazu. Und es verging kein Tag, an dem sich Lale dieser Tatsache nicht schmerzlich bewusst war. Ob ein Seniorenheim doch für alle Beteiligten die stimmigere Lösung gewesen wäre? Aber da waren sie nun und versuchten, das Beste draus zu machen.
Zentraler Bestandteil von Lales Bemühungen, trotz ihres neuen Fulltime-Jobs als Pflegerin ihrer Mutter bei klarem Verstand zu bleiben, war die Idee mit den Reisen. Nachdem sie zusammengezogen waren, hatte sich erst mal alles einspielen müssen. Nun konnte es endlich losgehen. Und – Göttin – was hatte sie darauf gewartet!
Der Trip nach Amrum war der Testballon. Bald würde sie wissen, ob ihre Strategie aufging. Sie hatte mit etwas Nahegelegenem beginnen wollen. Rentnerfreundlich. Und dank des vertrauten Namens nicht ohne Weiteres durch eine skeptische Bemerkung ihrer Mutter vom Tisch gewischt. Es könnte sich allerdings leicht als Schnapsidee erweisen: Die Familienurlaube, die sie in ihrer Kindheit auf der Nordsee-Insel verbracht hatten, gehörten zu den Erinnerungen, von denen sie nicht wusste, wohin sie führen würden. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aber zu ihrem … Erzeuger, der sich kurz nach ihrem letzten gemeinsamen Urlaub hier aus ihrem Leben gestohlen hatte.
Lale hoffte, dass zumindest bei ihrer Mutter der Weichzeichner der Erinnerung seinen Dienst tat. Sodass ihr die vertrauten Orte ein Geländer waren, an denen sich ihr vor einigen Monaten plötzlich porös gewordener Geist entlanghangeln konnte.
Was sie selbst anging, hatte Lale eine klare Idee, wie sich der Urlaub gestalten sollte: Am Strand liegen, baden und ab und an eine tote Tante trinken, um sich aufzuwärmen. Und wer weiß, vielleicht könnte sie ja auch mal allein einen Spaziergang wagen und sich den Kopf freipusten lassen? Amrums Strände – das erinnerte sie noch von den langweiligen Sightseeingtouren, zu denen ihre Eltern ihr jugendliches Ich auf der Nordseeinsel genötigt hatten – waren die weitesten Europas. Gut für die Lale der Gegenwart: Sie würde in den nächsten zehn Tagen der Spezies Mensch ohne Anstrengung aus dem Weg gehen können. Das war es, was sie gerade am meisten brauchte. Na ja, merkte an dieser Stelle ihr durchaus analytischer Geist an, »gerade« ist wohl eher das falsche Wort für einen Zustand, der inzwischen das neue Normal ist.
»Bitte?« Lale, obwohl nicht undankbar, der kritischen Stimme in ihrem Kopf zu entkommen, brauchte einen Augenblick, um ins Hier und Jetzt zurückzufinden. Die Schlange vor dem kleinen Kiosk, schon früher im Familienurlaub stets das erste Ziel an Bord, hatte sich gelichtet. Sie war an der Reihe. Und eine leicht genervte Tresenkraft fragte mittlerweile offenbar zum wiederholten Mal nach ihrer Bestellung.
»SIE WÜNSCHEN?«
Sie entschied sich für zwei Piccolos und zwei Mal Schokoladeneis, verzichtete auf die Plastikbecher, griff sich aber in weiser Voraussicht einen Berg Servietten und hielt nach ihrer Mutter Ausschau. Doch die war nirgends zu sehen.
Der Sekt war warm und das Eis fast geschmolzen, als sie die alte Dame in dem quietschbunten Anorak endlich fand. Keine Sekunde zu früh! Denn das Schiff legte ab. Und sie wäre vermutlich versucht gewesen, von der Reling zu springen, wenn sie die bange Frage, ob ihre Mutter vielleicht wieder von Bord gegangen war, bis dahin immer noch nicht hätte klären können.
Doch da saß sie. Seelenruhig. Auf dem zugigen Sonnendeck. In angeregter Unterhaltung mit einem jungen Paar – sie schlank, weißblond und in einer Outdoor-Kluft, die »neureich« schrie; der dazu passende Er in einer dieser Steppjacken, deren charakteristisches Salmimuster zum Dresscode gehobener, konservativer Kreise gehörte.
Noch immer gab es Lale einen schmerzhaften Stich, wenn sie turtelnde Pärchen sah. Zu frisch war der Schnitt, den ihre Trennung hinterlassen hatte. Und während alle Freundinnen um sie herum Kinder kriegten, bekam sie – wie sie sich bemühte, scherzhaft zu sagen – Eltern. Na ja, ein Elter: ihre Mutter eben. Aber für Kinder verwendete man ja auch den prophylaktischen Plural, für den Fall, dass nach dem ersten noch weitere folgen würden. Wobei das Universum verhüten möge, dass sie in ihrer jungen Familie noch weiteren »Nachwuchs« dieser Art bekommen sollte! Und da käme ja auch nur einer infrage. Und dass der sich nicht meldete, darauf zumindest war Verlass!
Lale begrüßte die zwei Turteltauben mit einem »Moin«, was langes Schnacken so herrlich überflüssig machte. Und sie beschloss, darüber hinwegzugehen, dass ihre Mutter nicht wie vereinbart am Aufgang zum Deck gewartet hatte. Sie wollte nicht gleich am ersten Urlaubstag einen Streit riskieren.
Kommentarlos reichte sie ihr ein Eis. Und schneller, als sie helfen konnte, musste sie die Servietten zum Einsatz bringen. Innerlich beglückwünschte sie sich für die Geistesgegenwart, eine Überdosis der Papiertücher gehamstert zu haben. Sie hatte in den letzten Monaten viel gelernt.
»Wir sind in den Flitterwochen!«, hörte sie die junge Frau flöten, während sie ihren schlanken Arm wie eine Boa constrictor um ihren Angetrauten schlang.
Und da war er wieder, der vertraute Schmerz, der ihr zuflüsterte: Und du man nicht! Ein guter Moment, um das in der Packung flüssig gewordene Eis zu entsorgen und sich einen großen Schluck Prickelwasser zu gönnen – warm oder nicht.
Während sie die perlende Flüssigkeit den Hals hinunterrinnen ließ, und so tat, als würde sie dem Gespräch interessiert folgen, sinnierte sie über den mentalen Juckreiz, den sie diesem Paar gegenüber empfand. Er basierte zu großen Teilen auf der Tatsache, dass sie Pickel bekam bei Sätzen wie »Emanzipation ist, dass ich mich frei entschieden habe, zu Hause zu bleiben, sobald das erste Kind da ist.« – Manchmal hatte Lale das Gefühl, das einundzwanzigste Jahrhundert weitgehend allein zu bewohnen.
Sie liefen Föhr an, als die Jungvermählten – nach detailreichen Schilderungen des Heiratsantrages – gerade die Verlobungsfeier erreicht hatten. Lale spürte einen starken Drang, sich einen weiteren »Knallköm« zu besorgen. Doch dies war kein guter Moment. Nicht, dass ihre Mutter noch beschloss, der Insel einen Besuch abzustatten, auf der sie als Verschickungskind erste Erlebnisse mit dem Wattenmeer und, wie Lale vermutete, mit schwarzer Pädagogik gesammelt hatte! Also blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als sich die Zusammenfassung der zuckersüßen Reden und Toasts anzuhören, nur um dann thematisch auf ein noch heikleres Thema zuzusteuern: die Hochzeit:
»… Ich wollte ja auf der Insel heiraten! Aber Heiko hat darauf bestanden, in unserem neuen Zuhause zu feiern. Im ganz kleinen Kreis. Nur sechzig, siebzig unserer engsten …«
Lale fixierte den Horizont, so wie ihr Vater es ihr gezeigt hatte, als sie zum ersten Mal seekrank gewesen war. Damals, als sie ihn noch »Papi« genannt hatte. Vielleicht half sein Tipp auch gegen die Sorte von Schwanken unter den Füßen, die sie jetzt befiel? Auch wenn es nicht von den unruhigen Bewegungen des Schiffes beim Anlegen herrührte, sondern von der Erinnerung an die Wochen und Monate, die sie mit zugezogenen Gardinen in ihrem alten Kinderbett verbracht hatte. Als einzige Gesellschaft der unmenschliche Berg an Papierkram, den eine Scheidung auch dann mit sich brachte, wenn sie nur wenige Tage nach der Hochzeit eingereicht wurde.
Einatmen. Ausatmen. Horizont fixieren.
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte der jugendliche Held, ohne sich dabei aus der Umklammerung seiner Vorzeige-Gattin zu lösen.
»Alles okay.« Sie lächelte durch zusammengebissene Zähne Richtung Traummann.
»Siehst du? So einen hättest du dir mal an Land ziehen müssen!« Der fleischgewordene Grund für ihr Psychologiestudium fixierte sie mit gewohnter Schärfe.
»Ich geh mir noch einen Sekt holen. Möchtest du auch einen?«, antwortete sie ihrer Mutter unter Aufbietung all ihrer Selbstbeherrschung. Sollte die Überbringerin solcher Ratschläge doch beim Landgang verschütt gehen! Doch selbstverständlich gab Lale im Gehen den von ihrer Mutter offenbar ganz angetanen Jungverliebten ein Zeichen, diese ...
Erscheint lt. Verlag | 28.3.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Amrum • Bücher für den Sommer • Bücher für den Strand • Bücher für den Urlaub • Cosy Krimi • Demenz romane erzählungen • Detektivin • Deutsche Vergangenheit • Familiengeheimnis • Föhr • Frauen ab 40 • Frauenkrimi • Geheimnis Vergangenheit • Historischer Roman • Hobbydetektiv • Hobbyermittler • Kinderverschickung • Kriminalroman • Küsten-Krimi • Nordseekrimi • Nordsee-Roman • Regio-Krimi • Regionale Krimis • Schuld • Wattenmeer |
ISBN-10 | 3-377-90080-2 / 3377900802 |
ISBN-13 | 978-3-377-90080-7 / 9783377900807 |
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