Tödlicher Schall (eBook)
320 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-44877-9 (ISBN)
Vincent Kliesch wurde in Berlin-Zehlendorf geboren, wo er bis heute lebt. Im Jahre 2010 startete er mit dem Bestseller »Die Reinheit des Todes« seine erste erfolgreiche Thriller-Serie, weitere folgten. Die »Auris«-Reihe um den forensischen Phonetiker Matthias Hegel schreibt Vincent Kliesch nach einer Idee seines Freundes Sebastian Fitzek.
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Vincent Kliesch wurde in Berlin-Zehlendorf geboren, wo er bis heute lebt. Im Jahre 2010 startete er mit dem Bestseller »Die Reinheit des Todes« seine erste erfolgreiche Thriller-Serie, weitere folgten. Die »Auris«-Reihe um den forensischen Phonetiker Matthias Hegel schreibt Vincent Kliesch nach einer Idee seines Freundes Sebastian Fitzek.
1
DIENSTAG
Hegel
Die Töne piepten so unangenehm in seinen Ohren, dass Hegel zusammenzuckte und missmutig das Gesicht verzog. Was ist denn das, verdammt noch mal? Schon wieder meinte Hegel diese schrecklichen Klänge wahrgenommen zu haben. Auch wenn sie nur ganz leise und keiner konkreten Ausgangsquelle zuzuordnen waren. So als versuchten sie, sich zu verstecken. Subtil, im Grunde kaum da, aber dann eben doch. Diese quälende Tonfolge, die unmelodisch war und allein schon deswegen nicht von irgendwoher aus einem der Kopfhörer seiner Mitfahrer zu ihm vorgedrungen sein konnte. Abgesehen davon, dass sich niemand, der auch nur halbwegs bei Verstand war, diese komplett unsinnige Aneinanderreihung von Tönen anhören würde.
Matthias Hegel war sich im Klaren darüber, dass er Geräusche hören konnte, die den Ohren vieler Menschen verborgen blieben. Sein extrem empfindliches und zugleich absolutes Gehör war eine ihm angeborene Eigenschaft. Hegels Ohren waren beinahe so empfindlich wie die einer Fledermaus, und wenn ihn dies auch zu einem der besten Phonetiker der Welt gemacht hatte, so war es doch jetzt, in diesem Zugabteil, weit mehr Fluch als Segen. Wo kann denn dieses grausame Gepiepe bloß herkommen? Hegel sah sich ein weiteres Mal im Abteil um, doch nach wie vor ließ keiner der Passagiere auch nur irgendeine Reaktion auf die beißenden Klänge erkennen. Er hatte wegen dieser schrecklichen Geräusche sogar das Abteil gewechselt, und schon im vorigen Wagen schien er der Einzige gewesen zu sein, der die Töne hatte wahrnehmen können. Zumindest hatte auch dort niemand außer ihm auf die Laute reagiert. Doch dass diese nun hier, weit von dem vorigen Abteil entfernt, in seinem Ohr tosen würden, ergab keinen Sinn.
Hegel atmete tief durch, als die Laute endlich verklungen waren. Er wartete noch einige Sekunden, ob sie wiederkehren würden, doch da dies nicht geschah, atmete er durch und lehnte sich erleichtert in seinen Sitz zurück. Lass deine Gedanken einfach frei fließen. Das monotone Rauschen, das der Zug beim Rollen über die Gleise verursachte, beruhigte Hegel schnell wieder. Er musste sogar schmunzeln, als er sich plötzlich als Kind vor seinem inneren Auge sah.
Von klein auf hatte er es geliebt, mit der Bahn zu fahren. Sein Vater war Diplomat gewesen und seine Mutter eine wohlhabende Unternehmerin. Die drei waren viel gereist und hatten an verschiedenen Orten auf der Welt gelebt. Und auch wenn seine Eltern kaum Verständnis dafür aufgebracht hatten, dass ihr Sohn anstelle eines kurzen Fluges eine lange Bahnfahrt mit oft mehreren Umstiegen bevorzugte, hatten sie ihm diesen Gefallen getan, wann immer es die Reiseroute ermöglichte. Hegel war damals vielleicht drei oder vier Jahre alt gewesen, sodass er seinen Eltern noch nicht hatte erklären können, aus welchem Grund er so gern mit dem Zug fuhr. Dass es die spezifischen Fahrgeräusche der Bahn auf ihren Gleisen waren, die er dem ruppigen Klang von Flugzeugturbinen vorzog, war ihm damals selbst noch nicht bewusst gewesen. Ganz abgesehen von der Veränderung des Luftdrucks, sobald das Flugzeug sich auf seinen Weg in die Wolken aufmachte. Was für normale Menschen eine Kleinigkeit war, die sich mit einem simplen Druckausgleich beheben ließ, hatte den jungen Matthias regelmäßig zu Tränen gequält. Meine Eltern mussten ganz schön viel mit mir durchmachen, aber sie haben sich nie beklagt. Wie schade, dass ich mich dafür nicht mehr bei ihnen bedanken kann. Hegel verspürte einen Schauer von Wehmut, bevor er wieder die Augen schloss und sich entspannte. Das Fiepen blieb verschwunden, und das wunderbare Rauschen des Zuges über die Gleise schien ihn nun wie ein Baby in der Wiege zu schaukeln.
»Ist Ihnen bewusst, dass Sie im Grunde schon tot waren?« Die Worte der Oberärztin klangen in Hegels Erinnerung nach. »Die Leute sagen ja immer, dass Ärzte die schlimmsten Patienten seien, aber in dieser Art und Weise hätten Sie das nun wirklich nicht bestätigen müssen! Ihr Aneurysma stand kurz davor, Sie ins Jenseits zu befördern. Und das Koma nach der Operation hätten Sie auch vermeiden können, wenn Sie nicht so unvernünftig gewesen wären.«
Sie hatte vollkommen recht gehabt, keine Frage. Doch Hegel wusste selbst nach langem Nachdenken noch nicht, was er hätte anders machen können. Wann immer er während seiner Reha in den vergangenen Wochen Überlegungen dazu angestellt hatte, war er stets von Neuem zu dem Schluss gelangt, dass er alles ganz genau so wieder machen würde, wie er es getan hatte. Natürlich, sein Handeln war verantwortungslos und lebensgefährlich gewesen. Dennoch hatte er aber das einzig Richtige getan. So fasste er die Tatsache, dass er entgegen jeder statistischen Wahrscheinlichkeit trotz allem noch am Leben und sogar vollständig genesen war, nicht etwa als ein Geschenk des Schicksals auf. Vielmehr betrachtete Hegel die zusätzliche Lebenszeit, die sein Glück und die Arbeit seiner Ärzte ihm beschert hatten, als einen Auftrag.
Zweifellos hatte er in der Vergangenheit viele Fehler gemacht. Und auch wenn ihm bewusst war, dass er meist keine andere Wahl gehabt hatte, war es jetzt doch Demut, die er in sich spürte. Wie oft hatte er sich gefragt, was wohl aus seiner geliebten Tochter Mathilda geworden wäre, wenn er die Folgen seines Handelns nicht überlebt hätte. Die Kleine lebte zwar die meiste Zeit des Jahres bei ihren Großeltern, doch Margrit und Bodo Konradi waren nicht mehr die Jüngsten, und nachdem Mathilda schon ihre Mutter verloren hatte, wäre sein Tod ein kaum zu überwindendes Trauma für seinen kleinen Engel gewesen. Eines Tages, so dachte Hegel voll Wehmut, würde er seiner Tochter erzählen müssen, wie es zum Tod ihrer Mutter gekommen war.
Immerhin gab es außer ihm vermutlich niemanden mehr, der die ganze Wahrheit um den Mord an Johanna Konradi kannte. Aber das hat noch Zeit. Jetzt genieße ich einfach die Zuggeräusche, das leichte Ruckeln und den Geruch der alten Polster. Tiefe Zufriedenheit zeichnete sich in Hegels Gesicht ab, und für wenige Sekunden war seine Welt vollkommen in Ordnung.
»Sagen Sie mal, kenne ich Sie nicht aus der Abendschau?« Die grelle Stimme der Frau auf dem Sitz ihm gegenüber riss Hegel nach wenigen Minuten aus seiner Ruhe.
Er öffnete die Augen und traf den Blick der älteren Dame, die sich zu ihm vorgebeugt hatte, als wolle sie ihn hypnotisieren. »Meinen Sie mich?«
Es schien heftig im Kopf der Frau zu arbeiten. »Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor. Das war doch in der Presse! Kann es sein, dass ich Sie in der Zeitung gesehen habe?« Sie starrte Hegel an, als sei er ein Museumsexponat.
Natürlich hatte die Frau mit ihrer Frage auch die Aufmerksamkeit der umsitzenden Fahrgäste auf Hegel gelenkt. Sowohl der korpulente Herr mit dem etwas selbstverliebt wirkenden Zwirbelbart sowie die Frau am Gang mit den drei übereinandergezogenen Jacken sahen ihn nun prüfend an. Hegel überdachte seine Optionen. Dass er gestanden hatte, Mathildas Mutter ermordet zu haben, war schon eine Weile her, doch die Medien, gerade die regionalen, hatten viel darüber berichtet. Die Ermittlungen der jungen Podcasterin Jula Ansorge, der es schließlich gelungen war, seine Unschuld aufzudecken, waren überwiegend über Julas Podcast im Internet zu verfolgen gewesen. Aus dem Internet kennt sie mich eher nicht, sie sieht nicht so aus, als wüsste sie, was ein Podcast ist.
Was hätte sie noch über ihn gesehen oder gelesen haben können? Nach seiner Haftentlassung war er entführt worden und hatte in der Folge gemeinsam mit Jula Ansorge große Teile einer international agierenden Verbrecherorganisation auffliegen lassen. Das könnte der Abendschau einen Bericht wert gewesen ein. Und dann war da ja auch noch diese Schießerei in seiner Agentur, nachdem er innerhalb weniger Stunden einen komplizierten Todesfall aufgeklärt hatte und kurz darauf ins Koma gefallen war. Okay, was von alledem hat die Gute wohl in der Abendschau gesehen?
»Ich bin Lyriker.« Hegel lächelte mit einer dezenten Note von Bescheidenheit. »Man hat mir vor Kurzem den Kleeberg-Preis verliehen für meinen lyrischen Gedichtband Gespräche mit dem spanischen Mädchen. Sie haben mich vermutlich in einer Kultursendung des RBB gesehen.«
Die Frau hüpfte leicht in ihrem Sitz hoch und klatschte erleichtert in die Hände. »Genau das war’s, ich wusste es! Ich vergesse nämlich niemals ein Gesicht, das ist eine Gabe von mir. Sie sind also Autor? Das ist ja toll! Ich wollte auch mal ein Buch schreiben, über mein Leben. Was ich schon alles erlebt habe, ich sage Ihnen, diese Höhen und Tiefen … Aber ich habe leider keine Zeit zum Schreiben, ich muss ja arbeiten. Wo nehmen Sie denn die Ideen für Ihre Texte her?«
Hegel bereute es bereits, dass er sich zu diesem Scherz hatte hinreißen lassen. Wenn ich gesagt hätte, dass ich als brutaler Frauenmörder in den Medien war, hätte sie sofort Ruhe gegeben. Das Schöne an der Wahrheit ist, dass sie einem nie jemand glaubt. Okay, das sollte ich mir fürs nächste Mal merken. Hegel sah beiläufig aus dem Fenster und erkannte zu seiner Erleichterung, dass sich der Zug allmählich dem Berliner Hauptbahnhof näherte. Sehr lange würde er diese Farce also nicht mehr mitspielen müssen. »Wissen Sie, wenn man mit dem spanischen Mädchen spricht, dann benötigt man keine Ideen. Die Worte dieser jungen Frau, ihre Gedanken, ihre ganze Aura – das ist so inspirierend, danach bewegen sich die Finger wie von selbst über die Tastatur.«
Die Frau wollte den Blick nun anscheinend gar nicht mehr von Hegel wenden. Doch gerade als sie mit großer Geste zu einer weiteren Frage...
Erscheint lt. Verlag | 1.7.2024 |
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Reihe/Serie | Ein Jula und Hegel-Thriller | Ein Jula und Hegel-Thriller |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
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ISBN-10 | 3-426-44877-7 / 3426448777 |
ISBN-13 | 978-3-426-44877-9 / 9783426448779 |
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