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Wer findet das Opfer (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
320 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61469-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wer findet das Opfer -  Ross Macdonald
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Auf dem Weg nach Sacramento findet Privatdetektiv Archer am Rand des Highways einen angeschossenen Anhalter, der kurz darauf tot zusammenbricht. Bis der Fall geklärt ist, hängt Archer in Las Cruces fest, wo jeder jeden kennt und niemand alles sagt, was er weiß. Alkohol und Drogenschmuggel, Gangs und Banküberfälle. Die Ereignisse überschlagen sich, und unter der Oberfläche schwelen alte Konflikte: In dieser Kleinstadt ist jeder ein Verdächtiger und jeder ein Opfer.

Ross Macdonald (1915-1983) zählt zu den besten amerikanischen Kriminalautoren des 20. Jahrhunderts. Er wird in Großbritannien und Amerika und nun auch bei uns wiederentdeckt. Seine Kriminalromane gelten als Spiegel der amerikanischen Gesellschaft. Ross Macdonald war Präsident der Mystery Writers of America. 1964 gewann er den Silver, 1965 den Gold Dagger Award.

Er war der gruseligste Tramper, den ich je mitgenommen habe. Er bäumte sich im Graben auf. Seine Augen waren schwarze Löcher in dem gelben Gesicht, sein Mund eine grellrote Schmierspur, wie eine aufgeschminkte Clownsmaske. Der erhobene Arm brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er fiel wieder nach vorne aufs Gesicht.

Ich trat auf die Bremse und setzte die knapp hundert Meter dorthin zurück, wo er lag, ein dunkelhaariger Mann in Jeans und grauem Arbeitshemd, bäuchlings zwischen den Stechapfelsträuchern. Jetzt war er still wie der Tod. Doch als ich mich neben ihn hockte, hörte ich ihn stöhnen und röcheln.

Ich stützte seine Hüfte mit dem Knie ab, legte eine Hand unter seinen leblosen Kopf und drehte den Körper auf den Rücken. Das Blut an seinem Mund warf winzige Bläschen. Die Hemdbrust war dunkel und feucht. Als ich das Hemd aufknöpf‌te, sah ich zwischen den klatschnassen Brusthaaren das runde Loch, aus dem noch immer kleine helle Spritzer schossen.

Ich zog mir die Jacke aus und riss mir das Hemd vom Leib. Zusammengeknüllt legte ich es auf die Einschussstelle und band es mit meiner Krawatte fest. Der Verwundete rührte sich und stöhnte. Die Lider über den staubig schwarzen Augen zuckten. Er war ein junger Mann, und er lag im Sterben.

Ich sah Richtung Süden, dann Richtung Norden. Keine Autos, keine Häuser, gar nichts. Irgendwo nördlich von Bakersf‌ield hatte ich eine Autoschlange überholt, danach niemand mehr. Es herrschte eine Art Zeitflaute, in der man sein Herz das Leben herunterzählen hört, sonst nichts. Die Sonne war hinter dem Küstengebirge untergegangen, Dämmerlicht erfüllte das Tal. Ein Schwarm Schwarzdrosseln kreuzte den Himmel wie ein scharfer, peitschender Wind.

Ich hob den Mann hoch, wobei sein Kopf gegen meine Brust sackte, und trug ihn zum Auto. Es war nicht so einfach, er war weder groß noch schwer, nur völlig schlaff. Ich schaffte ihn auf die Rückbank, bettete seinen Kopf auf meine Reisetasche, damit er nicht erstickte, und warf die Autodecke über ihn.

In dieser Haltung blieb er die nächsten neun, zehn Kilometer. Ich kippte meinen Rückspiegel nach unten, sodass ich ihn im Auge hatte. Während draußen das Dämmerlicht allmählich schwand, verschwand im Spiegel sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit.

Ich kam an einem Schild vorbei: CAMP FREMONT, U.S. MARINE CORPS BASE. Ein Maschendrahtzaun erstreckte sich entlang des Highways. Dahinter standen reihenweise verwitterte Baracken bis zum buckligen Horizont Spalier. Kein Anzeichen von Leben. Die Wellblechhangars der angeschlossenen Airbase hätten auch Hügelgräber sein können, von einem untergegangenen Volk von Riesen errichtet.

Dann erschienen Lichter am Straßenrand, dahinter ein Städtchen aus Lichtern. Neon verfärbte die dunstige Luft grün und gelb: KERRIGAN’S COURT – DELUXE MOTOR HOTEL. Die Lobby und die ein Pueblo bildenden Gästehäuser waren hell erleuchtet. Ich hielt vor der Lobby an und ging hinein.

Sie war ganz in blondem Furnierholz gehalten, die Polstermöbel aus grünem Kunstleder. Die Frau an der Empfangstheke war ebenfalls blond. Ihre schmalen blauen Augen musterten mich und machten mir bewusst, dass ich halb nackt war. Ich knöpf‌te mir beim Herantreten die Jacke zu.

»Kann ich Ihnen helfen?«, sagte sie kühl.

»Ein Mann in meinem Auto braucht dringend Hilfe. Ich bringe ihn herein, und Sie rufen einen Arzt.«

Ihre Augenbrauen wanderten abwärts, eine Sorgenfalte tat sich zwischen ihnen auf. »Ist er krank?«

»Bleivergiftung. Er wurde angeschossen.«

Hektisch stand sie auf und öffnete eine Tür hinter sich. »Don, komm mal einen Moment.«

»Er braucht sofort einen Arzt«, sagte ich. »Wir haben keine Zeit für viele Worte.«

»Keine Zeit wofür?« Ein großer Mann füllte den Türrahmen. Breitschultrig, in hellem Gabardineanzug, bewegte er sich wie ein Athlet, der aus der Form geraten war. »Was ist denn jetzt schon wieder? Kannst du nicht ein Mal etwas selbst erledigen?«

Ihre schlanken Hände rangen miteinander. »Ich dulde es nicht, dass du so mit mir redest.«

Er lächelte schmallippig. Das Gesicht unter dem rotblonden Bürstenhaarschnitt war von Alkohol oder Zorn erhitzt. »In meinem Haus rede ich, wie es mir passt.«

»Du bist betrunken, Don.«

»Du hast mich noch nie betrunken gesehen.«

Sie standen sich dicht gegenüber, hinter der Theke, Auge in Auge, in Ingrimm vereint.

»Draußen verblutet ein Mann. Wenn Sie ihn nicht aufnehmen wollen, könnten Sie wenigstens einen Krankenwagen rufen«, sagte ich.

Der Mann wandte sich mir zu, die Augen graue Dreiecke unter doppelten Lidfalten. »Verbluten? Wer?«

»Ich kenne ihn nicht. Rufen Sie nun Hilfe oder nicht?«

»Ja, natürlich«, sagte die Frau.

Sie holte ein Telefonbuch unter der Theke hervor, suchte die Nummer heraus und wählte. Der Mann ging hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

»Kerrigans Motor Court«, sagte sie. »Mrs. Kerrigan am Apparat. Wir haben hier einen Verletzten. – Nein. Er ist offenbar angeschossen worden. – Ja. Scheint ernst zu sein. Ein Notfall.«

Sie legte auf. »Das Bezirkskrankenhaus schickt einen Krankenwagen.« Mit gesenkter Stimme, kaum mehr als ein Flüstern, fügte sie hinzu: »Tut mir leid, was eben passiert ist. In unserer Familie zeigen wir in der Not keine Größe, wir werden kleingeistig.«

»Nicht so schlimm.«

»Doch. Es tut mir wirklich leid.«

Sie beugte sich über den Tresen zu mir herüber. Ihre hellen glatten Haare waren stramm aus dem Gesicht gekämmt, wie um seine ausgeprägte Schönheit zu unterstreichen.

»Kann ich sonst gar nichts tun?«, fragte sie, und ihre Stimme wurde immer höher. »Die Polizei rufen?«

»Das macht das Krankenhaus. Dazu ist es gesetzlich verpflichtet. Danke für Ihre Mühe, Mrs. Kerrigan.«

Sie folgte mir zur Tür, eine aufgewühlte Frau, die ihre Chance, sich als Mensch zu erweisen, vertan hatte, und es nicht dabei bewenden lassen konnte. »Es muss schrecklich für Sie sein. Ist er ein Freund von Ihnen?«

»Er bedeutet mir nichts. Ich habe ihn auf dem Highway gefunden.«

Sie berührte meinen Arm, als wollte sie Fühlung mit der Wirklichkeit aufnehmen, zog aber die Hand schnell zurück, als würde der Kontakt ihr Angst machen. Ihre Augen ruhten auf meiner Brust. Ich sah auf die trocknende blutverschmierte Stelle, wo der Kopf gelegen hatte.

»Sind Sie auch verletzt? Kann ich irgendwas für Sie tun?«

»Nein. Nichts«, sagte ich und ging nach draußen.

Kerrigan beugte sich durch die geöffnete Autotür über die Rückbank. Als er meine Schritte auf dem Kies vernahm, richtete er sich abrupt auf.

»Atmet er noch?«

»Ja, er atmet.« Das alkoholhaltige Blut war aus seinem Gesicht gewichen und hatte Flecken hinterlassen. »Wir sollten ihn nicht bewegen, denke ich, aber wenn Sie es wünschen, tragen wir ihn ins Haus.«

»Er könnte Ihren Teppich beschmutzen.«

»Sie brauchen nicht gleich unfreundlich zu werden, Kollege. Sie haben doch gehört, dass ich angeboten habe, ihn ins Haus zu tragen.«

»Geschenkt.«

Er trat näher an mich heran, die Augen im Scheinwerferlicht trüb und steingrau. »Wo haben Sie ihn gefunden?«

»Im Straßengraben, ein paar Kilometer südlich der Marine Base.«

»Warum haben Sie ihn ausgerechnet hierhergebracht, bis auf meine Schwelle, wenn ich fragen darf?«

»Sie dürfen. Es war das erste Haus, an dem ich vorbeikam. Das nächste Mal fahre ich weiter.«

»So habe ich es nicht gemeint. Ich habe mich nur gefragt, ob es Zufall war.«

»Warum? Kennen Sie ihn?«

»Ja. Er fährt einen Truck für die Spedition Meyer in der Stadt. Er heißt Tony Aquista.«

»Kennen Sie ihn gut?«

»Das würde ich nicht sagen. Durch meinen Betrieb habe ich flüchtigen Kontakt zu den meisten Pennern in Las Cruces. Aber mit mexikanischen Truckern verkehre ich nicht.«

»Schön für Sie. Haben Sie eine Ahnung, wer auf ihn geschossen haben könnte?«

»Blöde Frage.«

»Sie könnten sie trotzdem beantworten.«

»Wer gibt Ihnen das Recht, Fragen zu stellen, Kollege?«

»Sagen Sie nur Kollege zu mir. Das macht mich heiß.«

»Sie haben sich gar nicht vorgestellt.«

»Stimmt.«

»Vielleicht sollte ich Ihnen auch ein paar Fragen stellen«, sagte er. »Sie haben nicht zufällig selbst auf ihn geschossen?«

»Sie sind sehr scharfsinnig. Natürlich habe ich auf ihn geschossen. Bevor ich geflohen bin.«

»War ja nur eine Frage. Mir ist das Blut an Ihnen aufgefallen.«

Er lächelte hämisch. Sein Mundwerk, bald sensibel, bald brutal, zog meine Faust an wie ein Magnet ein Stück Eisen. Er war recht groß und noch nicht so alt, aber ein bisschen benebelt. Ich steckte die Faust in die Tasche und ging auf die andere Seite des Autos.

Ich schaltete das Deckenlicht an. Tony Aquista stieß noch immer seine traurigen kleinen Luftbläschen aus. Seine Augen waren jetzt fest geschlossen. Er war blind und taub vor Anstrengung, sich am Leben festzuhalten. Auf der Straße seufzte der Krankenwagen.

Ich folgte ihm auf der Rückfahrt durch die Vororte entlang des Highways, vorbei an Motels und Hütten und Trailer Parks, wo Soldaten und Geschäftsreisende, Touristen und Wanderarbeiter zeitweilig die Nächte verbringen, mit zeitweiligen Bettgenossen. An einer sechsspurigen Zusammenführung zweier Hauptstraßen bog der Krankenwagen vom Highway links ab.

Ich verpasste den grünen Pfeil und musste warten. In der Ferne war das Krankenhaus zu erkennen, ein langer weißer, von Lichtern...

Erscheint lt. Verlag 26.6.2024
Reihe/Serie Privatdetektiv Lew Archer
Privatdetektiv Lew Archer
Übersetzer Thomas Stegers
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Find a Victim
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Beziehung • Donna Leon • Familiengeheimnis • Frauenschicksal • Geheimnis • Hard Boiled • Highway • Kleinstadt • Krimiklassiker • Lew Archer • Neuübersetzung • Privatdetektiv • Reihe • Sacramento • Spannung • Verbrechen
ISBN-10 3-257-61469-1 / 3257614691
ISBN-13 978-3-257-61469-5 / 9783257614695
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