Darwyne (eBook)
303 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77899-9 (ISBN)
In Bois Sec, einem kleinen, elenden Slum im Amazonasgebiet von Französisch-Guayana, lebt der zehnjährige Darwyne mit seiner Mutter Yolanda. Yolanda ist schön, stark und klug. Darwyne ist klein, ein wenig körperlich beeinträchtigt und meistens schmutzig. Er möchte so sehr von seiner Mutter geliebt werden, sie aber hält ihn für ein Monster.
Sieben ihrer Liebhaber sind bis jetzt spurlos im Dschungel verschwunden. Ein achter, Jhonson, taucht gerade auf. Auch er bekommt keinen Draht zu Darwyne. Im Gegensatz zu Mathurine, einer Sozialarbeiterin, die versteht, dass Darwyne eine besondere Beziehung zur Natur hat, anscheinend mit den Tieren und den Pflanzen kommunizieren kann und dass er in der Tat »anders« ist, irgendetwas zwischen den Spezies.
Und ihr drängt sich mit der Zeit der Verdacht auf, dass Darwyne womöglich mit dem Verschwinden der ersten sieben Lover etwas zu tun hat. Nach einem dramatischen Erdrutsch, der den Slum vernichtet, fliehen Yolanda und Jhonson - ausgerechnet in den Dschungel.
Colin Niel, geboren 1976 in Clamart, Studium der Evolutionsbiologie und Ökologie, arbeitete als Agrar- und Forstingenieur im Bereich Biodiversität, u. a. mehrere Jahre in Französisch-Guayana. 2017 erhielt er für Nur die Tiere (2021) u. a. den Prix Landerneau Polar und den Prix Polar en séries. Auch Unter Raubtieren (2022) wurde enthusiastisch gefeiert. Colin Niel lebt in Marseille. Er gehört zu den aufregendsten französischen Schriftstellern unserer Tage.
Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Herausgeber der »global crime«-Reihe metro in Kooperation mit dem Unionsverlag (1999 – 2007), der Reihe »Penser Pulp« bei Diaphanes (2013-2014). Gründete 2013 zusammen mit Zoë Beck und Jan Karsten den (E-Book-)Verlag CulturBooks und gibt ein eigenes Krimi-Programm für Suhrkamp heraus. Co-Herausgeber des Online-Feuilletons CULTurMAG.
Anne Thomas, 1988 in Karl-Marx-Stadt/Chemnitz geboren, ist seit 2013 als freiberufliche literarische Übersetzerin tätig (u.a. Yves Gaudin, Colin Niel, Éric Plamondon). Sie lebt hauptsächlich in Paris. Regelmäßige Arbeitsaufenthalte in Berlin und London.
Nature Writing vom Allerfeinsten. Und eine große, tragische Geschichte über Eltern und Kinder, über Außenseiter, über die dringende Notwendigkeit, das Verhältnis von Mensch und Natur neu zu sortieren — originell, faszinierend und rasend spannend.
Ein Thriller, der nicht nur Genre-Grenzen hinfällig macht.
»Ein Roman, der an die Grenzen des Fantastischen gleitet, verstörend und berauschend.«
1
»Seine Lie-hie-be währet ewiglich …«
Darwyne liebt nichts so sehr wie die Lobgesänge aus dem Mund der Mutter.
»Seine Lie-hie-be vertreibt die Furcht …«
Wenn er es recht bedenkt, mag er kaum etwas an diesen morgendlichen Gottesdiensten der Kirche Dieu en Christ. Das Gefühl des synthetischen Hemdes, das ihm an der feuchten Haut klebt, mag er nicht. Wie die anderen Jungen ihn von der Bank aus, auf der sie jeden Sonntag sitzen wie an einem Schultag, ansehen und denken, er merkt es nicht, mag er nicht.
»Seine Lie-hie-be erweckt uns ganz sanft …«
Den Diakon mit Krawatte mag er auch nicht, den, der neben dem Gitarristen steht. Die weit aufgerissenen Augen und der Schnurrbart erinnern ihn an die Zeit, als die Mutter um Gebete ersucht hatte, gegen die bösen Geister, die ihren Sohn plagten. Das ist schon eine Weile nicht mehr vorgekommen, und Darwyne war damals noch klein, aber er erinnert sich ganz genau daran. Er erinnert sich an die Hände auf Kopf und Schultern, und an Worte, die er nicht verstand, aber die damit zu tun hatten, wie er war. Er erinnert sich an die Arme dieses Mannes, die seinen Oberkörper festhielten, damit er nicht zu seiner Mutter konnte; die war mit geschlossenen Augen ins Gebet vertieft und ignorierte das Weinen und die ausgestreckten Hände. Nein, den Diakon mag er wirklich nicht.
»Seine Lie-hie-be heilt jeden Schmerz …«
Aber seine Mutter von ihrer Liebe zu Gott, unserem Retter, und Jesus Christus, seinem Sohn, singen zu hören, das liebt Darwyne über alles. Er weiß, das darf man nicht sagen, denn sie wird niemals irgendjemanden so lieben wie den Herrn, aber ihm scheint, dass von dieser grenzenlosen Liebe, die sie ganz und gar erfüllt, auch ein kleines Stückchen für ihn selbst bestimmt ist.
Ja, ganz gewiss, ein Stückchen ist für ihn.
Er steht in der schwarzen Hose neben ihr, beobachtet jede Bewegung ganz genau; die zur Zwischendecke erhobenen Hände, wie der Kopf im Takt der Musik auf und ab wippt. Ihre Gesichtszüge, Ohren, Augen, Nase, das Haar straff zu einem tadellosen Knoten hochgesteckt. Und ihren Schmuck und die lackierten Nägel. Darwyne kann nicht anders, er hat zwar andere Frauen beobachtet, wie sie mit dem Kanister in der Hand an der Quelle warten, aber die Mutter findet er einfach herrlich. So eine Mutter, das ist gewiss, gibt es nur einmal in Bois Sec, und vielleicht sogar auf der ganzen Welt, denkt er manchmal. Man muss ja nur mal darauf achten, wie die anderen Gläubigen sie ansehen, die Männer in den geblümten Hemden, die Frauen in den grauen Röcken, die herausgeputzten Kinder. Fast ist es, als würde sie den Gottesdienst leiten und nicht die Pastorin im blitzeblauen Hosenanzug vorne auf dem Podium. Niemand singt die Lobpreisungen mit solcher Inbrunst wie sie. Niemand würde es wagen, ihre tiefe Gläubigkeit anzuzweifeln.
»Seine Lie-hie-be tilgt unsere Makel …«, verkündet sie lautstark mit ausgebreiteten Armen, um sich dem Herrn besser hingeben zu können.
Girlanden aus Krepp schlängeln sich beiderseits des kürzlich erworbenen Beamers unter dem Kirchendach. Stoff- und Plastikblumen in Vasen stehen im ganzen Raum verteilt, und auch das mag Darwyne nicht besonders: Die grellen Farben und der Staub, der sich auf die Blütenblätter legt, haben überhaupt nichts mit echten Blumen zu tun, findet er.
Die Messe zieht sich den ganzen Vormittag hin, auf die Lobgesänge folgen Hoffnungsgesänge, Bekenntnisse, Bibellesungen, die Gläubigen lesen auf dem Smartphone mit. Hundertmal wird der Herr gelobt, wird angefleht, über die Opfer des Brandes zu wachen, der vergangene Woche in einem Viertel ganz in der Nähe zwanzig Häuser verwüstet hat, gottlob gab es keine Toten. Darwyne windet sich auf der hölzernen Kirchenbank, denkt an seine aktuelle Schnitzfigur, die zu Hause in der Wellblechhütte, dem petit carbet, auf ihn wartet und die er hoffentlich bald fertig bekommt, all die kleinen Vorhaben in seinem Kopf, die nichts mit Jesus Christus zu tun haben. Aber er hütet sich, aufzumucken: Er weiß, Gottesdienst ist wichtig. Sehr wichtig sogar. Er sieht, wie der Plastikbehälter für die Opfergaben herumgereicht wird, hört die Pastorin sagen, Wir wollen Gott nicht enttäuschen, und dass man ihn verehren muss bis in den Tod. Er genießt die letzten Liebesbezeugungen aus dem Mund der Mutter. Und kann nach beendeter Messe endlich aufstehen.
Wenn die Gemeinde noch in Grüppchen vor der weißen Fassade stehen bleibt und sich auf dem lädierten Asphalt Gespräche entspinnen, Gerüchte über anstehende Zwangsräumungen durch die Ordnungskräfte oder dass ein Verein kostenlose ärztliche Sprechstunden anbietet, halten Darwyne und seine Mutter sich nie auf. Sie mag keinen Tratsch, das ist die offizielle Erklärung. Aber Darwyne glaubt, dass es ein bisschen mit ihm zu tun hat, damit, wie er in seiner durchgeschwitzten Kleidung aussieht, Kleidung, die andere Kinder wunderbar tragen können, aber er überhaupt nicht. Die Mutter spannt einen großen Regenschirm auf, damit sie ein wenig Schatten haben, nimmt ihn bei der Hand. Und sagt:
»Los, komm, kleines Opossum. Ab nach Hause.«
Darwyne humpelt hinter ihr her, stolpert über Schlaglöcher. Bis nach Bois Sec ist es ein Stück. Dort gibt es keine Kirche: Falls die Behörden eines Tages beschließen, das Viertel dem Erdboden gleichzumachen, wie es anderswo bereits geschehen ist, soll das Gotteshaus nicht in Gefahr sein. Deshalb marschieren sie unter der Äquatorsonne die brennend heiße Straße entlang, ein ungleiches Paar, sie hochgewachsen und stolz, er linkisch und gebeugt. Sie kommen an der Mechanikerwerkstatt vorbei, Autos mit offenen Bäuchen bis zur Straße. Briefkästen mit ausgebeulten Türchen auf Stangen. Am Eingang einer Gasse steht ein Strommast, er biegt sich unter dem Gewicht von Kletterpflanzen und Kabeln, die in heillosem Durcheinander ans Stromnetz angeschlossen sind: Die beiden gehen nach rechts, ins Viertel hinein. Darwyne ignoriert die Blicke, die an ihm haften wie an einer Kuriosität, schlüpft mit seiner Mutter in die Eingeweide von Bois Sec. Mutter und Sohn kommen an Blech, altem Bauholz, Metallgittern, zerfledderten Planen vorbei: notdürftig zusammengeschusterte Wände von petits carbets, so nennt man hier das, was man eigentlich nicht als Häuser bezeichnen kann. Sie arbeiten sich durch die Siedlung und erklimmen den Hügel, dort oben wohnen sie.
Es hätte ein Sonntag wie jeder andere sein können.
Schon seit einer Stunde sitzt Darwyne an seiner Schnitzarbeit. Er hockt auf einem umgefallenen Baumstumpf, genau zwischen Waldrand und Hütte, und hält die zukünftige Pfeife in der Hand wie ein Künstler sein Meisterstück. So langsam nimmt es Gestalt an, seit drei Tagen arbeitet er daran. Er presst die Lippen zusammen, runzelt die Stirn. Sein Werkzeug ist das Küchenmesser der Mutter, das benutzt sie jeden Abend, und nicht nur zum Kochen. Es ist so lang wie sein Unterarm, aber Darwyne handhabt es mit der Sorgfalt eines Goldschmieds, mit der Klinge macht er Kerben, mit der Spitze Löcher. Tierknochen oder Holzstücke, keiner weiß, wo er die Materialien herhat, die Mutter erwischt ihn manchmal dabei, wie er in der kleinen Rinne herumstochert, in die alle alles Mögliche hineinschmeißen. Er wischt die Späne weg, bläst probehalber ins Mundstück, schmeckt dem so erzeugten Ton nach: Nein, das ist es noch nicht. Er blickt auf, ihm entfährt ein Pfiff, wie nur er es versteht, kurz und hoch aus gespitzten Lippen. Er will die Mutter auf sich aufmerksam machen, die an ihrem Zuber herumfuhrwerkt. Er sieht sie kurz intensiv an, denkt, Hast du das gehört? Schau mal, was ich geschnitzt habe.
Aber die Mutter reagiert nicht, ihr Blick ist fest auf die Wäsche geheftet, als würde sie ihr eigenes Leben waschen. Ihre Hände stecken im schaumigen Wasser, und ununterbrochen rollt sie zusammen und wringt aus, um den Schmutz ihres Alltags loszuwerden. Da verzieht Darwyne das Gesicht und macht sich wieder ans Werk. Er denkt, du weißt doch ganz...
Erscheint lt. Verlag | 17.6.2024 |
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Übersetzer | Anne Thomas |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Darwyne |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Amazonas • Dschungel • Französisch-Guayana • Geheimnis • Krimalroman • Krimi • Krimi Neuerscheinung • Mutter-Kind • Mysterium • Nature writing • Regenwald • Slum • Spannung • ST 5424 • ST5424 • suhrkamp taschenbuch 5424 • Zufluchtsort |
ISBN-10 | 3-518-77899-4 / 3518778994 |
ISBN-13 | 978-3-518-77899-9 / 9783518778999 |
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