Die Sehenden und die Toten (eBook)
416 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-30909-1 (ISBN)
Die ehemalige Mordermittlerin Carla Seidel hat sich von Hamburg ins idyllische Wendland versetzen lassen. Dort wagt sie mit ihrer hochsensiblen Tochter Lana in einem alten Fachwerkhaus einen Neuanfang. Doch dann wird der 18-jährige Justus tot aufgefunden, seine Augen auf grausame Weise durch Spiegelscherben ersetzt. Carla übernimmt den Fall und hat schnell das ungute Gefühl, dass niemand, nicht einmal die Eltern, Justus richtig kannte. Als Lana bei einer Mitschülerin ein Tattoo entdeckt, das der tote Junge als Narbe auf seinem Oberschenkel trug, überschlagen sich die Ereignisse, und Carla wird klar: Die Vergangenheit holt dich immer ein ...
Sia Piontek ist das Pseudonym einer ehemaligen Verlagsprogrammleiterin, die bereits mehrere Romane veröffentlicht hat. »Die Sehenden und die Toten« ist der Auftakt ihrer im Wendland angesiedelten Kriminalromanreihe um die Ermittlerin Carla Seidel. Wenn sie nicht gerade schreibt, arbeitet Sia Piontek als Schreibcoach und freie Lektorin. Sie lebt mit ihrer Tochter in Hamburg und im Wendland.
KAPITEL 1
»So ein Mist«, fluchte Carla und stieg genervt von der Leiter. Das hätte ihr der Immobilienmakler vor zwei Jahren aber auch mal sagen können, dass man diesen elenden Kirschlorbeer, der sich über gut zwanzig Meter an der Ostseite ihres Grundstücks erstreckte und damit einen willkommenen Sichtschutz zum Nachbarhaus bildete, mindestens zweimal im Jahr zurückschneiden musste. Jetzt war mit ihrer kleinen elektrischen Heckenschere kein Durchkommen mehr. Die Äste waren einfach zu dick. Und überhaupt war die ganze Hecke nicht nur in die Höhe, sondern auch viel zu sehr in die Breite gewachsen. An die Wucherungen in der Mitte kam sie selbst mit ihrer Leiter nicht mehr ran. »Idiot«, schimpfte sie und meinte damit vielleicht nicht nur den Makler.
Eigentlich liebte sie dieses Vierständerfachwerkhaus, das sie vor gut zwei Jahren hier im Niemandsland zwischen Hitzacker und Dannenberg, keine hundert Meter von den Elbtalauen entfernt, für ein kleines Vermögen erstanden hatte. Und sie war bereit, aus der Großstädterin in ihr, die Kino, Bars, Restaurants und ein funktionierendes Abwassersystem zu schätzen wusste, eine echte Landfrau zu machen, die mit dem riesigen Grundstück und dem zugigen Haus problemlos klarkam und Sickergruben auch viel ursprünglicher fand. Aber manchmal stieß sie bei dieser Transformation eben auf Grenzen. So wie jetzt.
Sie fasste die schweißnassen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Zum Friseur müsste sie auch dringend. Auf die blonden Strähnchen in ihrem halblangen braunen Haar konnte sie hier gut verzichten, aber sie hielt es nicht aus, wenn die Haare bei dieser Hitze im Nacken festklebten. Obwohl es erst halb zehn war, brannte die Sonne bereits gnadenlos heiß von dem blauen Wendland-Himmel.
Sie beschloss, schnell in den Baumarkt zu fahren und sich eine vernünftige Heckenschere mit Akku zu kaufen. Die drei Kabeltrommeln, mit denen sie bislang den Strom vom Haus bis zu ihrer Grundstücksgrenze verlängert hatte, erschienen ihr nicht effizient und die Gefahr, dass sie das Kabel im Eifer des Gefechtes irgendwann durchsäbelte, zu groß.
Gerade als sie Schere und Gartenhandschuhe auf den Terrassentisch legte, kam der schwarz-weiße Streunerkater Karlchen auf sie zugetapst.
»Na«, sagte sie und bückte sich, »dich habe ich ja lange nicht gesehen. Sind wir mal wieder an der Reihe?« Da niemand wusste, wo das Tier genau herkam, war er irgendwann zum Gemeinschaftskater von ganz Penkefitz geworden. Ihm schien diese Rolle zu gefallen. Sie streichelte ihn kurz, stand auf und betrat dann den geräumigen Wohn-Ess-Bereich, den Ort, den Carla in diesem Haus am meisten liebte. Der Boden war komplett mit Terrakottafliesen in einem warmen Rotton ausgelegt, und wegen der bodentiefen Fenster und Türen war der Raum lichtdurchflutet. Neben der modernen hellgrauen Einbauküche befand sich das Herzstück des Raums – ein heller Holzesstisch, der für sie und ihre Tochter Lana viel zu groß war, der Carla aber das Gefühl von Gastlichkeit und Gemeinschaft gab. Außerdem roch er so herrlich nach dem Holzöl, mit dem sie ihn erst kürzlich behandelt hatte.
Im Wohnbereich stand ein dänischer Kaminofen, eingerahmt von einer Sofalandschaft und einem hellen bodenlangen Leinenvorhang, den Carla für gemütliche Abende vor das Tennenfenster zog. Für sie war es der perfekte Ort, um abends bei einem Glas Wein ein Buch zu lesen oder Handwerkermagazine durchzublättern.
Carla trat hinaus auf die schwarz-weiß geflieste Diele.
»Lana?«, rief sie nach oben.
Keine Antwort. Typisch. Wahrscheinlich lag ihre Tochter wie üblich in ihrem abgedunkelten Zimmer und sah mit AirPods in den Ohren irgendwelche YouTube-Videos.
»Lana?«, rief sie lauter.
»Hm?«, erklang es mürrisch von oben.
Carla schüttelte den Kopf und ging ins Gästebad, um sich die Hände zu schrubben. Auch wenn sie die Entscheidung, Hamburg hinter sich zu lassen, nie bereut hatte, fand sie die Launen ihrer Siebzehnjährigen hier manchmal anstrengender. Womöglich waren sie im Lärm der Großstadt anders untergegangen. Trotzdem ging es auch Lana hier besser, davon war Carla überzeugt. Das, was ihre Tochter durchgemacht hatte, brauchte eben seine Zeit. Das war bei ihr selbst ja nicht anders.
Sie war jeden Tag dankbar, dass sie seinerzeit ihr Versetzungsgesuch beim Innenministerium gestellt und tatsächlich die freie Stelle in der Polizeistation Dannenberg bekommen hatte. Zwar war sie als Kriminalkommissarin für diesen Job eindeutig überqualifiziert, doch es war ihr nur recht gewesen. Ihr Bedarf an Gewalterfahrungen war hinreichend gedeckt.
»Lana, ich fahr noch mal schnell nach Lüchow in den Baumarkt, ja?«
»Okay.«
»Brauchst du was?«
»Nö.«
»Stell Karlchen etwas Futter hin.«
»Ach, ist er mal wieder da?« Das klang schon etwas interessierter.
»Ja.«
Carla trocknete sich die Hände an der Hose ab, griff nach dem Autoschlüssel und schlüpfte in ihre ausgelatschten Crocs. Auch das empfand sie als Luxus: Es war so herrlich egal, was man auf dem Land anhatte. Gerade als sie ihr Handy aus der Küche holte, begann es zu klingeln.
Sie runzelte die Stirn. Es war Constantin Becker, Leiter der Polizeistation Dannenberg. Was wollte der denn am Sonnabendvormittag von ihr? Sie hatte frei und würde sich bestimmt keine Schicht aufschwatzen lassen, nur weil Anneke mal wieder Stress mit dem Baby oder Lars keinen Bock hatte. Carla drückte die grüne Annahmetaste.
»Also, ich hab echt keine Zeit«, meldete sie sich. »Bin grad auf dem Weg nach Lüchow. Sorry.«
»Dir auch einen guten Morgen«, erwiderte ihr Chef ungerührt. »Ich glaube aber, die Zeit solltest du dir nehmen.«
»Constantin, ehrlich, wegen Fahren ohne Führerschein oder Beschwerden über Landmaschinenlärm brauchst du mich wirklich nicht.« Nach Carlas heimlicher Statistik waren dies im Sommer neben Trunkenheit am Steuer die häufigsten Ordnungswidrigkeiten im Landkreis.
»Wir haben eine Leiche«, platzte Constantin Becker heraus.
Carla rutschte fast das Handy aus der Hand. Wenn er es so betonte, klang es nicht gerade nach einem Hitzschlag. »Ihr habt was?«
»Einen Leichenfund drüben bei Hitzacker, in den Auen bei der Alten Jeetzel, um genau zu sein. Wäre gut, wenn du dir das mal ansehen könntest. Ich denke nicht, dass der Junge beim Wandern ausgerutscht ist.«
Carla spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte und Adrenalin ins Blut gepumpt wurde. Er war sofort wieder da, der Instinkt der ehemaligen Mordermittlerin, der in der Zeit bei der Kripo Hamburg regelmäßig zum Einsatz gekommen war. Das aufgeregte Prickeln, die innere Anspannung. Sie hatte es nicht bewusst vermisst, aber jetzt, da sie das Rauschen in ihren Adern spürte, war er wieder da, der Kick.
»Wisst ihr schon, wer das Opfer ist?«, fragte sie.
»Es handelt sich vermutlich um den achtzehnjährigen Justus Libermann aus Satemin bei Lüchow, der vor drei Tagen als vermisst gemeldet wurde.«
»Ach du Scheiße«, entfuhr es ihr. Sie erinnerte sich an die Vermisstenanzeige, die die Eltern aufgegeben hatten. Justus’ Vater war ein einflussreicher Mann im Landkreis. »Bin in einer Viertelstunde da«, sagte sie und legte auf. In Richtung ihrer Tochter rief sie: »Lana, es gibt eine kleine Planänderung, ich muss nach Hitzacker!« Sie lauschte nach oben, hörte ein leises Kichern, aber keine Reaktion. Achselzuckend verließ sie das Haus.
In ihrem zwölf Jahre alten VW Polo machte sie sich auf den Weg. Er führte an der sogenannten Tauben Elbe vorbei, einem Altarm des Flusses, der jetzt ein See war. Mit seinem schilfbewachsenen Ufer und der Umgebung, die an eine Moorlandschaft erinnerte, verlieh er der Gegend bei Penkefitz einen ganz besonderen Charme. Außerdem konnte man im Sommer hier wunderbar baden. Eine Möglichkeit, die es sonst im Wendland eher selten gab.
Carla fuhr die Elbuferstraße entlang, einmal quer durch das pittoreske Hitzacker in Richtung des Buchenwaldes, der aufgrund seiner Tallage hier irreführend »Wolfsschlucht« hieß und mit seinen steilen Hängen und dem unvergleichlichen Blick auf Elbe und Jeetzel jedes Wochenende Scharen von Touristen und Wanderern anzog. Schon von Weitem sah sie am Waldrand das Blaulicht eines einzelnen Polizeiwagens neben dem Notarztfahrzeug. Sie runzelte die Stirn. Die Spurensicherung war offenbar noch nicht vor Ort. Hatte Constantin Becker die Kriminaltechnik gar nicht benachrichtigt? Oder mussten die Kollegen erst aus Lüneburg anrücken? Carla hatte keine Ahnung von den Abläufen hier, denn sie hatte in den letzten zwei Jahren in keinem Mordfall mehr ermittelt.
Sie parkte den Wagen auf dem Grünstreifen neben der Fahrbahn und stieg aus. Als sie durch das Gras in Richtung Waldrand stakste und Becker kurz zuwinkte, bereute sie, nicht wenigstens ihre Sneaker angezogen zu haben. Und unter dem weißen ärmellosen Top keinen BH zu tragen, war vielleicht auch nicht das ideale Outfit, wenn man seinem Chef gegenübertrat. Nun denn, das war jetzt auch nicht mehr zu ändern. Hoffentlich holte sie sich hier wenigstens keine Zecken.
»Moin«, sagte Carla.
»Moin, moin«, erwiderte Becker aufgeregt und rieb sich die Hände.
»Wo ist die Verstärkung?«, wollte Carla wissen.
»Welche Verstärkung?«
»Die Spurensicherung zum Beispiel.«
»Die hab ich informiert. Der Notarzt ist schon fertig. Unnatürliche Todesursache, sagt er, war ja naheliegend. Aber ich dachte mir, ich lass dich da erst mal einen Blick drauf werfen. Bist ja schließlich ein alter Hase, was Mord und Totschlag angeht«, bemerkte er...
Erscheint lt. Verlag | 1.4.2024 |
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Reihe/Serie | Ein Carla-Seidel-Krimi | Ein Carla-Seidel-Krimi |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2024 • Anette Hinrichs • carla seidel • eBooks • Escort • Heimatkrimi • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Mord • Mutter-Tochter-Beziehung • Nele Neuhaus • Neuerscheinung • online-challenges • Regionalkrimi • spannend • weibliche Ermittlerin • Wendland |
ISBN-10 | 3-641-30909-3 / 3641309093 |
ISBN-13 | 978-3-641-30909-1 / 9783641309091 |
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