Teufelsgabe (eBook)
530 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3197-3 (ISBN)
Anders Roslund (Jahrgang 1961) hat als eine Hälfte der erfolgreichen Autorenteams Roslund & Hellström und Roslund & Thunberg zehn Bücher veröffentlicht. Diese wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und brachten ihm international viele Auszeichnungen ein. Mit Teufelsgabe hat er bereits den vierten Roman unter seinem eigenen Namen veröffentlicht.
Anders Roslund (Jahrgang 1961) hat als eine Hälfte der erfolgreichen Autorenteams Roslund & Hellström und Roslund & Thunberg zehn Bücher veröffentlicht. Diese wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und brachten ihm international viele Auszeichnungen ein. Nach Geburtstagskind ist Schlaft, Kinder, schlaft der zweite Roman, den er unter seinem eigenen Namen veröffentlicht.
Drei Monate zuvor
Der Maltesholmsgården war ein schönes Haus an einem schönen Ort, der Seelen heilte. Zumindest in Ewert Grens. Für jemanden wie Michél, den jungen Mann im Zimmer gegenüber, der ein richtig guter Freund zu werden begann, schien es eine erheblich längere Reise zu sein; er bewegte sich im Kreis, permanent auf dem Weg zurück zu dem Ausgangspunkt, dem er zu entrinnen versuchte.
Manche hatten wohl schlicht und ergreifend mehrere Abgründe, in die sie hinabstürzten.
Der Kriminalkommissar erhob sich von dem runden Tisch mit der roten Decke im Aufenthaltsraum, kehrte der Aussicht auf einen grün belaubten Garten und den Schotterweg den Rücken, der zu der kleinen Ortschaft führte, die er nie besucht hatte. Stattdessen pflegte er seinen Nachmittagsspaziergang entlang der Innenseite des hohen Zauns zu machen. Exakt achthundertsiebenunddreißig Schritte. Drei Runden waren perfekt, zweitausendfünfhundertundelf Schritte.
Schwere, dunkle Wolken öffneten just in diesem Moment ihre Schleusen, und es begann, in Strömen zu regnen, doch das störte ihn nicht, prasselnder Niederschlag erstickte die Stille, die er noch nie ertragen hatte. Grens lauschte den hart aufschlagenden Tropfen, er konnte kaum noch etwas erkennen, der Zaun war verschwommen, das Hausdach besaß keine Tiefe mehr. Er formte die Hände zu einer Schale, fing die Nässe auf, benetzte Stirn und Wangen, fuhr sich durchs Haar und strich dünne und widerspenstige Strähnen in dieselbe Richtung.
Es kam vor, dass er an die Frau dachte, die er zu lieben gewagt hatte und die ihn dann wie Abfall weggeworfen hatte. Aber vor allem dachte er an ihre Tochter, die er sehr gernhatte. Seine Patentochter. Elin, die ihm vertraut hatte wie einem Familienmitglied – bis zu dem Morgen, an dem er gezwungen gewesen war, ihre Mutter festzunehmen und in Untersuchungshaft zu überführen. Ein fünfzehnjähriges Mädchen, vorübergehend ohne Gesichtsausdruck, das verrückt vor Wut gewesen war, aber Gleichgültigkeit gemimt hatte. Er würde nie vergessen, wie sie ihn angestarrt hatte, wie sie auf dem Rücksitz eines vorbeifahrenden Autos langsam ihren Arm gehoben, den Zeigefinger vor- und den Daumen nach oben gestreckt, mit ihrer Hand eine Waffe geformt, gezielt und geschossen hatte. Es hatte sich angefühlt, als sei er getroffen worden, als sei er gestorben. Von Zeit zu Zeit fragte er sich, wo sie jetzt war. Ihr Vater war seit vielen Jahren tot, und ihre Mutter saß seinetwegen im Gefängnis.
Wunderbar durchnässt durchquerte er den Eingangsbereich und ging in vor Wasser quietschenden Schuhen über den Holzfußboden zu dem schlichten Zimmer, das für ein paar Monate seines war. Michél hatte seine Zimmertür geschlossen, vermutlich war es einer dieser Tage. Für Grens waren die ersten freiwilligen Therapiestunden seines Lebens erfolgreich verlaufen, ebenso wie die Medikation, die man ihm anfangs verordnete, doch allem voran waren es die Gespräche mit dem traurigen jungen Mann, die ihn dazu gebracht hatten, in eine andere Richtung blicken zu wollen.
Seltsam.
Einem anderen Menschen so nahezukommen.
Hier. In der Klapse.
Die Besuche waren gleichfalls Momente, die Grens zeigten, wie das Leben sein konnte. Wer er wieder werden wollte. Mariana Hermansson und Piet Hoffmann waren inzwischen seine nächsten Menschen in der Welt außerhalb, und sie besuchten ihn jede Woche; genau wie Hugo, der ganz genau wusste, was er tat, wenn er ihn mit seinen dreizehnjährigen Augen musterte und ihn Ersatzopa nannte.
Der Gedanke war Grens schon früher gekommen, und im Maltesholmsgården dachte er ihn immer häufiger.
Wenn man sich mit dem Leben aussöhnt, kommt man wieder auf die Beine. Man kehrt zurück. Aber nicht, um das alte Leben wie gewohnt weiterzuführen, sondern anders, und manchmal ist anders der einzige Weg.
Als Gedanke hatte das großartig geklungen, richtig und klug, Worte, die wichtig und erwachsen gewirkt hatten.
Doch erst jetzt begriff er ihre wahre Bedeutung.
Als Grens an diesem Nachmittag tropfnass und regenglänzend sein Zimmer betrat, saß sein heutiger Besucher auf dem Bettrand. Ein eher ungewöhnlicher Gast, der sich auf dem einzigen Sitzplatz, den er hatte finden können, nicht ganz wohlzufühlen schien. Oder treffender: der sich sichtlich unwohl fühlte, überhaupt da zu sein, Ewert Grens’ Blick zu begegnen, mit seinem Freund und Kollegen zu reden. Aber er war gekommen, weil der Kriminalkommissar ihn angerufen und ihn darum gebeten hatte.
»Dir scheint es besser zu gehen.«
»Mir geht es besser.«
»Und du bist ziemlich nass.«
»Klitschnass. Bis auf die Haut. Du solltest öfter im strömenden Regen spazieren gehen, Wilson. Dabei lässt es sich wunderbar nachdenken.«
Erik Wilson war nicht nur der Mensch, der vor gut einem halben Jahr zusammen mit Mariana Hermansson nach einem lauten Schuss eine Bürotür des Polizeipräsidiums aufgebrochen hatte und zu dem reglosen Körper mit dem zerschossenen Gesicht gestürzt war. Er war auch Ewert Grens’ Chef und damit die Person, die darüber entschied, wer bei der Stockholmer Mordkommission, wie sich ihre Abteilung trotz aller Umorganisationen des schwedischen Polizeiapparats noch immer nannte, arbeitete.
»Und … ja …«
Wilson deutete mit dem Kopf auf Grens’ Augenklappe und die eingefallene Wange. Auf das, was schief war.
»… deine physischen Verletzungen?«
»Beim Auge ist nicht viel zu machen. Die Klappe werde ich behalten, denke ich. Aber was den Rest angeht, sind die Ärzte heutzutage offenbar recht patent. Plastische Chirurgie. In ein paar Monaten. Und niemand wird wohl guten Gewissens behaupten, dass ich vorher eine strahlende Schönheit gewesen wäre. Schlimmer wird es also kaum werden.«
Grens lächelte. Es sollte ein warmes, freundliches Lächeln werden, doch das Ergebnis geriet eher bizarr, das Schiefe schien in unterschiedliche Richtungen zu wandern, und keine Gesichtspartie wollte zu einer anderen passen.
Während der Kriminalkommissar sich umzog, um den Regen loszuwerden, wartete sein Chef im Aufenthaltsraum am runden Tisch mit der roten Decke. Der Kaffee, den Grens, in trockener und sorgfältig gebügelter Kleidung, kurz darauf mit an den Tisch brachte, hatte frisch gekocht in der Küche des Maltesholmsgården gestanden, und die Porzellantassen waren bis zum Rand gefüllt.
Sie saßen nebeneinander und ließen ihre Blicke auf dem Grünen und Friedvollen vor dem Fenster verweilen.
Man konnte verstehen, dass Menschen in dieser Umgebung gesundeten, wieder einen Sinn im Leben sahen.
»Ich ahne, warum du um meinen Besuch gebeten hast.«
»Gut, Wilson. Also wann …«
»Aber ich weiß nicht recht, wie ich es dir erklären soll.«
»… kann ich zurückkommen?«
Wieder dieses verunglückte Lächeln. Es würde eine Weile dauern, sich daran zu gewöhnen.
»Ewert, du bist mit Abstand der schwierigste, nervigste, anstrengendste Pain-in-the-Ass-Polizist, dem ich jemals begegnet bin. Aber ich hatte nie ein Problem damit. Weil meiner Erfahrung nach die schwierigsten, nervigsten, anstrengendsten Pain-in-the-Ass-Polizisten oft auch die richtig guten Leute sind; die nicht immer tun, was man ihnen sagt. Und du – du tust definitiv nie das, was ich dir sage, und bist mit Abstand der Beste, dem ich je begegnet bin.«
»Ich dachte, in zwei Wochen. Wie klingt das für dich? Zurück im Präsidium.«
»Aber nichtsdestotrotz, Ewert, trotz deiner Kompetenz, trotz der Tatsache, dass du und ich mittlerweile recht gut miteinander auskommen, trotz all … Es wäre keine gute Idee.«
»Was?«
»Dass du …«
»Was wäre keine gute Idee?«
»… zurückkommst, wieder als Polizist arbeitest.«
Es war schwer zu sagen, ob Grens noch immer lächelte.
Oder ob es Schmerz war.
»Was zum Teufel sagst du …«
»Ewert – ich schlage vor, dass du offiziell in Pension gehst. Mit den neuen Rentenbestimmungen könntest du natürlich noch drei Jahre im Dienst bleiben, bis du neunundsechzig bist, und ich weiß, dass wir uns darauf geeinigt haben. Aber das war vor … ja, davor.«
»Aber mir geht es gut. Gut!«
»Du hast dir deine Dienstwaffe in den Mund geschoben und dir eine Kugel in den Kopf geschossen. Es ist großartig, dass du lebst. Dass es dir besser geht. Darüber bin ich unendlich froh. Aber das bedeutet nicht, dass du imstande bist, wieder als Polizist zu arbeiten, dich mit den Höllen anderer Menschen zu befassen.«
In etwa da stand Ewert Grens auf.
»Ich verstehe nicht.«
Als sei er auf dem Weg.
Fort.
»Verstehe nicht.«
In dem Versuch, ihn zurückzuhalten, streckte Wilson den Arm aus, aber es war zu spät, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als die Stimme zu heben, damit seine allerletzten Worte beim Adressaten ankamen.
»Ewert? Es tut mir leid, und ich habe keine Ahnung, wie ich es dir am besten sage, aber ich kann mich unter keinen wie auch immer gearteten Umständen für deinen...
Erscheint lt. Verlag | 27.6.2024 |
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Reihe/Serie | Ewert Grens ermittelt | Ewert Grens ermittelt |
Übersetzer | Ulla Ackermann |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Beweise • Burnout • DNA • DNS • Ermittler • Gefängnis • Intrigen • Krimi • Mord • Psychiatrische Klinik • PTBS • Serienmörder • Thriller • Verrat |
ISBN-10 | 3-8437-3197-7 / 3843731977 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3197-3 / 9783843731973 |
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