Das letzte Mahl (eBook)
432 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-215-6 (ISBN)
Anne Holt ist mit über 12 Millionen verkauften Büchern weltweit eine der erfolgreichsten Krimiautor:innen Skandinaviens. Sie ist ehemalige Justizministerin Norwegens, Anwältin, Journalistin, TV-Nachrichtenredakteurin und Moderatorin. Zu großem Ruhm als Autorin gelangte sie mit den zwei Krimiserien um Inger Johanne Vik (verfilmt als »Modus. Der Mörder in uns«) und Hanne Wilhelmsen. Ihre neueste Serie dreht sich um die Juristin Selma Falck.
Anne Holt ist mit über 12 Millionen verkauften Büchern weltweit eine der erfolgreichsten Krimiautor:innen Skandinaviens. Sie ist ehemalige Justizministerin Norwegens, Anwältin, Journalistin, TV-Nachrichtenredakteurin und Moderatorin. Zu großem Ruhm als Autorin gelangte sie mit den zwei Krimiserien um Inger Johanne Vik (verfilmt als »Modus. Der Mörder in uns«) und Hanne Wilhelmsen. Ihre neueste Serie dreht sich um die Juristin Selma Falck.
4
Billy T. war fasziniert. Er hielt sein Glas ins Licht und betrachtete einen rubinroten Punkt, der in zerstoßenes rosa Eis eingeschossen war, Russian Slush war bei Weitem nicht das köstlichste Getränk, das er kannte. Aber es sah gut aus. Er drehte das Glas im Licht des Kronleuchters und kniff die Augen zusammen.
»Entschuldigung …« Billy T. streckte die Hand nach einem Kellner in blauer Hose und kreideweißem, kragenlosem Hemd aus. »Was ist das hier eigentlich?«
»Russian Slush?« Der Kellner verzog einen Mundwinkel fast unmerklich, als wage er nicht so recht, das Lächeln zu erwidern. »Zerstoßenes Eis, Wodka und Preiselbeeren, der Herr.«
»Ach. Danke.«
Billy T. trank, obwohl er streng genommen im Dienst war. Er hatte nicht vor, die Rechnung der Spesenkasse zu präsentieren; es war Montag, der 6. Dezember, sieben Uhr abends, und ihm war alles schnurz. Er saß da und spielte mit dem Glas, während er seine Blicke durch das Lokal schweifen ließ.
Das Entré war im Moment ganz einfach angesagt.
Billy T. war in Grünerløkka geboren und aufgewachsen. In einer Zweizimmerwohnung im Fossevei hatte seine Mutter ihn und seine drei Jahre ältere Schwester durchgebracht, indem sie sich in einer Wäscherei ein Stück die Straße hoch abplackte und nachts durch Flickarbeiten noch etwas dazuverdiente. Seinen Vater hatte Billy T. nie kennengelernt. Noch immer wusste er nicht, ob der Mann sich einfach davongemacht hatte oder ob er von der Mutter noch vor der Geburt des Sohnes vor die Tür gesetzt worden war. Jedenfalls war der Vater nie erwähnt worden. Das Einzige, was Billy T. über ihn wusste, war, dass er auf Socken zwei Meter gemessen hatte und ein begnadeter, wenn auch durch und durch alkoholisierter Frauenheld gewesen war. Was vermutlich zu einem ziemlich frühen Tod geführt hatte. Billy T. hatte die vage Erinnerung, dass seine Mutter eines Tages überraschend früh von der Arbeit gekommen war. Er mochte damals so um die sieben gewesen sein, und wegen einer kräftigen Erkältung war er an jenem Tag nicht in die Schule gegangen.
»Er ist tot«, hatte die Mutter gesagt. »Du weißt schon, wer.«
Ihre Augen hatten jegliche Frage untersagt. Sie war ins Bett gegangen und erst am nächsten Morgen wieder aufgestanden.
In der Wohnung im Fossevei hatte es nur ein Bild des Vaters gegeben; ein Hochzeitsbild der Eltern, das aus irgendwelchen Gründen an der Wand hängen blieb. Billy T. hatte den Verdacht, dass seine Mutter es als Beweis dafür nutzen wollte, dass die Kinder ehelich geboren waren – sollte jemand die Unverschämtheit besitzen, daran zu zweifeln. Wer auch immer einen Fuß in die überfüllte Wohnung setzte, erblickte als Erstes das Hochzeitsbild. Bis zu dem Tag, an dem Billy T. in strammer Uniform nach Hause zurückkehrte, nachdem er sein Examen an jener Institution bestanden hatte, die damals Polizeischule genannt wurde. Er war den ganzen Weg gerannt. Unter dem Kunstfasergewebe brach ihm der Schweiß aus. Seine Mutter legte ihre dünnen Arme um seinen Hals und wollte ihn gar nicht mehr loslassen. Im Wohnzimmer saß seine Schwester und öffnete lachend eine Flasche billigen Sekt. Sie hatte zwei Jahre zuvor ihr Examen als Krankenschwester abgelegt. Noch am selben Tag wurde das Hochzeitsbild von der Wand genommen.
Billy T. hatte erst mit dreißig angefangen, Alkohol zu mögen.
Inzwischen war er vierzig, und noch immer konnten Wochen vergehen, in denen er nur Cola und Milch trank.
Seine Mutter wohnte nach wie vor im Fossevei. Seine Schwester war mit ihrem Mann und inzwischen drei Kindern nach Asker gezogen, Billy T. dagegen war in Grünerløkka geblieben. Er hatte seit Beginn der Sechzigerjahre das ganze Auf und Ab im Stadtteil miterlebt. Er war mit einem Plumpsklo groß geworden und erinnerte sich an den Tag, an dem die Mutter, stolz und den Tränen nahe, mit der Hand über ein in einer ehemaligen Abstellkammer frisch installiertes Wasserklosett gestrichen hatte. Er hatte zugesehen, wie die Stadtsanierung in den Achtzigern den sozialen Wohnungsbau in der Gegend abgewürgt hatte, er hatte Trends und Moden kommen und gehen sehen wie Zugvögel auf Kuba.
Billy T.s Liebe zu Grünerløkka war keinem Trend unterworfen. Er war nicht frisch verliebt in die winzigen, überfüllten Bars und Cafés in der Thorvald Meyers gate. Billy T. lebte am Rande der Løkka-Gemeinschaft, wie sie sich während der vergangenen vier oder fünf Jahre herausgebildet hatte. Und deshalb fühlte er sich alt. Nie war er im Sult gewesen, um eine Stunde auf einen Tisch zu warten. In der Bar Boca, in die er sich einmal getraut hatte, um ein Glas Cola zu trinken, hatten ihm nach einigen klaustrophobischen Minuten am Tresen die Augen gebrannt. Billy T. ging lieber mit seinen Kindern zu McDonald’s gegenüber. Die Welt vor den Fenstern war zu etwas geworden, das ihn nichts anging.
Billy T.s Liebe zu Grünerløkka machte sich an den Gebäuden fest. An den Häusern, ganz einfach, den alten Mietskasernen. Unterhalb der Grüners gate standen sie auf Lehmboden, und ihre Fassaden waren von Rissen durchzogen. Als Kind hatte er geglaubt, die Häuser hätten Falten, weil sie so alt waren. Er liebte die Straßen, vor allem die kleinen. Die Bergverksgate war nur einige Meter lang und endete am Hang vor dem Akerselv. Die Strömung kann dich mitreißen, erinnerte er sich; du darfst nicht baden, die Strömung kann dich mitreißen. Jeden Sommer hatte ein roter Ausschlag seine Haut bedeckt. Seine Mutter hatte geklagt und geschimpft und mit wütenden Bewegungen seinen Rücken mit Salbe eingerieben. Trotzdem war er am nächsten Tag wieder in das verschmutzte Wasser gesprungen. Sommer für Sommer. Für ihn waren das großartige Ferien gewesen.
Das Entré lag an der Südwestecke der Kreuzung zwischen Thorvald Meyers gate und Sofienberggate. Ein Laden mit altmodischen Damenkleidern, die nie verkauft wurden, hatte der Schickimickisierung der Gegend viele Jahre lang widerstanden. Aber am Ende hatte das Kapital doch den Sieg davongetragen.
Er saß allein an einem Tisch bei der Tür. Selbst an einem Montag war das Restaurant voll besetzt. Das provisorische Schild an der Tür war mit Filzstiften geschrieben, die Farbe hatte sich durch das Papier gedrückt. Billy T. konnte den Text von seinem Tisch aus in Spiegelschrift lesen.
UNSER CHEFKOCH BREDE ZIEGLER IST VON UNS GEGANGEN. ZUR ERINNERUNG AN SEIN LEBEN UND SEIN WERK IST DAS RESTAURANT ENTRÉ HEUTE GEÖFFNET.
»O verdammt«, sagte Billy T. und schlürfte ein Stück Eis in sich hinein.
Er hätte hier nicht sitzen dürfen. Er hätte zu Hause sein müssen. Auf jeden Fall hätte Tone-Marit dabei sein müssen, wenn er ausnahmsweise einmal im Restaurant aß. Sie waren seit Jennys Geburt nicht mehr zusammen ausgegangen. Seit fast neun Monaten also.
Ein Backenzahn tat schrecklich weh. Billy T. spuckte das Eisstück in eine halb geballte Faust und versuchte, es unbemerkt auf den Boden fallen zu lassen.
»Stimmt etwas nicht?«
Der Kellner deutete eine Verbeugung an und stellte ein Glas Chablis vor ihn hin.
»Nein. Alles in Ordnung. Sie … Sie haben heute geöffnet. Meinen Sie nicht, dass das auf viele … anstößig wirkt, irgendwie?«
»The Show must go on. Brede hätte das so gewollt.«
Der Teller, der eben vor Billy T. gelandet war, sah aus wie eine künstlerische Installation. Billy T. starrte die Mahlzeit hilflos an, hob Messer und Gabel und wusste nicht, wo er anfangen sollte.
»Entenleber auf einem Bett aus Waldpilzen, an Spargel mit einer Andeutung von Kirsche«, erklärte der Kellner. »Bon appétit!«
Der Spargel ragte wie ein Indianertipi über der Leber auf.
»Essen im Gefängnis«, murmelte Billy T. »Und wo zum Teufel steckt die Andeutung?«
Eine einsame Kirsche thronte am Tellerrand. Billy T. schob sie in die Mitte und seufzte erleichtert auf, als das Spargelzelt in sich zusammensackte. Zögernd schnitt er ein Stück von der Entenleber ab.
Erst jetzt entdeckte er den Tisch gleich neben der gediegenen Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte. Auf einer kreideweißen Decke stand zwischen zwei silbernen Kerzenhaltern ein großes Bild von Brede Ziegler. Um eine Ecke war ein schwarzes Seidenband geschlungen. Eine Frau mit hochgesteckten Haaren näherte sich dem Tisch. Sie nahm einen bereitliegenden Stift und schrieb etwas in ein Buch. Danach griff sie sich an die Stirn, als sei sie kurz vorm Weinen.
»Man könnte meinen, der Kerl wär ein König gewesen«, murmelte Billy T. »Der hat doch verdammt noch mal kein Kondolenzbuch verdient!«
Brede Ziegler hatte alles andere als königlich ausgesehen, als die Polizei ihn fand. Irgendwer hatte bei der Wache angerufen und ihnen nuschelnd empfohlen, einen Blick auf ihre Hintertreppe zu werfen. Zwei Polizeianwärter hatten sich die Mühe gemacht, diesen Rat zu befolgen. Gleich darauf war der eine atemlos zurück in die Wache gestürmt.
»Der ist tot. Da liegt wirklich einer. Tot wie …«
Beim Anblick von Billy T., der nur einige Unterlagen abholen wollte, barfuß und ansonsten nur mit Unterhemd und Shorts bekleidet, war der Junge verstummt.
»… wie ein Hering«, hatte Billy T. für den jungen Uniformierten den Satz vollendet. »Tot wie ein Hering. Ich komme gerade vom Training, weißt du. Brauchst mich also nicht so anzuglotzen!«
Diese Szene lag jetzt achtzehn Stunden zurück. Billy T. war nach Hause gegangen,...
Erscheint lt. Verlag | 15.5.2024 |
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Reihe/Serie | Hanne-Wilhelmsen-Reihe | Hanne-Wilhelmsen-Reihe |
Übersetzer | Gabriele Haefs |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Hanne Wilhelmsen • Japanisches Messer • Koch • Mosaik • Norwegen • Restaurant • Scandicrime • Skandinavien • weibliche Ermittlerin |
ISBN-10 | 3-03792-215-X / 303792215X |
ISBN-13 | 978-3-03792-215-6 / 9783037922156 |
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