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Verirrt (eBook)

Thriller
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
368 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-30914-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verirrt -  Michaela Kastel
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»Ein Monster hat mich dazu gebracht, zu den Monstern meiner Kindheit zurückzukehren«
Bei Nacht und Nebel flieht Felizitas mit ihrer kleinen Tochter aus ihrem Zuhause. Sonst, so hat sie endlich verstanden, wird ihr gewalttätiger Mann sie zerstören. Doch ihr bleibt nur ein Zufluchtsort: das Haus ihrer Mutter im tiefen Wald. Am See, in dem die Kinderleichen ruhen. Wo die Schatten der Vergangenheit sie zu verschlingen drohen. Schon bald fürchtet sie, dass ihr Mann ihre Fährte aufgenommen hat. Oder lauern die wahren Schrecken wo anders?

Michaela Kastel, geboren 1987, studierte an der Universität Wien und arbeitete viele Jahre im Buchhandel. Seit 2019 widmet sie sich ganz dem Schreiben. Ihre Romane wurden bereits mehrfach für Preise nominiert, außerdem erhielt sie den Viktor Crime Award als verheißungsvolle neue Stimme im Spannungs-Genre.

4.


Sie

Es ist eine dieser Nächte, die Kindern den Schlaf rauben. Kein Mond, keine Sterne. Alles schwarz. Die Straßenlichter sind das Einzige, was von der bekannten Welt übrig ist. An ihrem schwachen Schein orientiere ich mich. In diesem mageren, aber unerschütterlichen Leuchten erkenne ich, dass der Weg vor mir der richtige ist.

Im Wageninneren ist es angenehm warm. Vicki ist auf dem Beifahrersitz eingeschlafen. Unsere Taschen liegen sicher auf der Rückbank verstaut. Unser ganzes Leben befindet sich darin, die wenigen essenziellen Dinge, die wir für einen Neuanfang brauchen. Den Rest haben wir zurückgelassen. Es wird ihr fehlen, unser altes Leben. Es ging ihr darin sehr gut. Sie hat er nie geschlagen. Nicht einmal ein Klaps, wenn sie frech war, niemals. Er hat auch mich niemals geschlagen, wenn sie dabei war. Er hat sie aus alldem rausgehalten. Das fand ich immer am merkwürdigsten. Als wüsste er es. Als wüsste er ganz genau, was für ein Monster er ist, und würde alles tun, um das vor seiner Tochter zu verbergen.

Die Ironie ist, dass ich mich mit Monstern eigentlich sehr gut auskenne. Mein erstes sah ich, da war ich drei. Es sind verschwommene Bilder, wild durcheinandergewürfelt und ohne jeden Bezug zur Realität, aber die Gefühle sind noch genauso stark und echt wie damals. Vor allem die Angst. Eine Angst, wie man sie nur als Kind empfinden kann, überwältigend, lähmend, alles bisher Dagewesene überschattend. Eine Angst, die über Jahrzehnte hinweg nicht schwächer geworden ist, obwohl es keinen rationalen Nährboden mehr dafür gibt, bloß die bruchstückhaften Erinnerungen, die ich tief in meinem Kopf weggesperrt habe, um sie nicht länger mit mir herumzutragen.

Dennoch sind sie da. So viele Fragen, auf die ich keine Antwort weiß. Ganz plötzlich war es da, eine Erscheinung bloß, verschwommen und übermenschlich groß. Es packte mich und rannte mit mir davon, bis auf die andere Seite des Sees, wo meine Mutter uns schließlich einholte. Ich erinnere mich an seine hagere Gestalt, es hatte Arme und Beine wie ein Mensch, doch alles an ihm war so monströs, verformt, dämonisch, riesige Pranken und glühende Augen. Es sprach mit mir, ganz in Schwarz war es gehüllt, ein Trugbild, entsprungen meiner lebhaften Fantasie, und doch will mein Verstand mir einreden, dass es echt war, denn bevor meine Mutter es mit dem Schürhaken zu Boden schlug, spürte ich seine Hand. Es griff nach mir, versuchte, mich zu packen.

Dieses eine Bild hat sich mit allen Details in meinen Kopf gebrannt – eine riesige, dunkle Klaue unmittelbar vor meinem Gesicht.

Meine Mutter erzählte mir, sie habe seinen Körper im Wald verscharrt, aber es sei nicht lange dort geblieben. Das Monster sei noch am Leben. Seit zwanzig Jahren hole es Kinder zu sich in den Wald und hänge deren Kleider an die Äste der Bäume.

Seit ich denken kann, tut diese Frau nichts anderes, als mir Angst einzujagen – und jetzt möchte ich wieder zu ihr zurück? Doch ich habe keine andere Wahl. In meinem alten Leben bleiben kann ich nicht. Sie ist alles, was ich noch habe. Meine einzige Zuflucht.

Wir kommen in eine Ortschaft, und ich halte an, um zu tanken. Bald wird die Dämmerung anbrechen. In ungefähr drei Stunden sollten wir da sein, pünktlich zur Frühstückszeit.

Ich rüttle Vicki vorsichtig aus dem Schlaf, und sie richtet sich aufgeregt auf. »Sind wir da?«

»Noch nicht. Aber ich gehe kurz rein, um zu bezahlen. Möchtest du was zu essen oder trinken?«

Sie sinkt enttäuscht in den Sitz zurück und schüttelt den Kopf.

»Ich erkläre dir alles, versprochen«, sage ich sanft.

Sie sieht wortlos aus dem Fenster. Sie ist bereits neun, sie wird längst begriffen haben, was los ist. Aber welche Gedanken sich hinter dem dunklen Ponyhaarschnitt und den haselnussbraunen Augen tatsächlich drehen, kann ich nur vermuten. Vielleicht beginnt sie mich gerade zu hassen, weil wir ihren Vater verlassen haben. Dass sie ihre ganzen Sachen zurücklassen musste, nur weil ich so nicht mehr weitermachen konnte. Oder aber sie versteht mich. Ihr stiller Blick aus dem Fenster könnte alles bedeuten.

»Bin gleich zurück. Warte hier.« Ich steige aus und betrete den kleinen Shop, der zur Tankstelle gehört.

Es sind noch drei andere Kunden im Laden, ein Motorradfahrer und ein junges Pärchen, dessen VW gleich hinter meinem Auto an der Zapfsäule steht. Äußerst gut besucht für fünf Uhr morgens. Der Mann hinter dem Tresen wirkt nicht sonderlich motiviert, als ich die Tankfüllung bezahle und außerdem noch zwei Mineralwasserflaschen und ein paar Müsliriegel kaufe. Er braucht ewig, um mir mein Wechselgeld zu übergeben. Während er unter sichtlicher Anstrengung die Münzen sortiert, bemerke ich aus dem Augenwinkel, dass sich jemand meinem Auto nähert. Ein Mann in Uniform. Mein Puls schnalzt alarmiert in die Höhe, und ich ziehe panisch die Münzen vom Tresen. Der Verkäufer ruft mir nach, dass ich etwas liegen gelassen habe, offenbar einen Müsliriegel, aber ich eile nach draußen und gehe schnell, aber mit beherrschtem Gesicht auf den Polizisten zu, der gerade mit Vicki spricht. Wieso hat sie die Fensterscheibe herunterlassen?

»Hallo«, sage ich so ruhig und freundlich wie möglich. »Gibt es ein Problem?«

Der Polizist tritt vom Wagen zurück und mustert mich ausführlich. Ob ihm die geschwollene Lippe auffällt? Garantiert fällt sie ihm auf.

»Ist das deine Mutter?«, fragt er Vicki.

Sie nickt.

»Gibt es ein Problem?«, wiederhole ich.

Er behält seine strenge, abschätzende Miene konsequent bei. Erneut wandert sein Blick über mein zerschundenes Gesicht, und die Angst packt mich ganz unerwartet. Er kann nicht meinetwegen hier sein. Es ist viel zu früh. Mein Ehemann liegt tief schlummernd im Bett und träumt vom nächsten Schlag, den er mir verpassen kann. Unmöglich kann er bereits die Polizei alarmiert haben, und unmöglich können sie wissen, wohin ich unterwegs bin.

»Ist nur eine Routinekontrolle«, sagt er mit Blick auf mein Kennzeichen. »Führerschein und Zulassung bitte.«

Das wird immer merkwürdiger. Ich öffne die Fahrertür und krame die Wagenpapiere aus dem Handschuhfach, dann übergebe ich ihm meinen Führerschein. Er betrachtet alles sehr ausführlich, sieht immer wieder zu Vicki, die sichtlich nervöser geworden ist.

»Wohin sind Sie unterwegs?«, möchte er wissen.

»Zu meiner Mutter. Sie wohnt sehr weit weg, und wir möchten zeitig da sein.«

Er nickt, gibt mir meine Papiere zurück und lässt mich einsteigen.

»Hier in der Gegend ist vor Kurzem ein Mädchen verschwunden«, sagt er. »Wir behalten deswegen alles im Auge. Das verstehen Sie sicher.«

»Natürlich. Wie schrecklich.«

»Gute Weiterfahrt. Passen Sie auf sich auf. Und auf Ihre Tochter.«

Sein letzter Satz hallt in meinem Kopf wider wie ein Glockenschlag. Ich schnalle mich an und verlasse in gesittetem Tempo die Tankstelle. Im Rückspiegel beobachte ich, wie der Polizist uns nachsieht.

Dass er meine Papiere geprüft hat, ist nicht gut. Jetzt kann man meine Spur aufnehmen. Ich kann nur hoffen, dass er sich nichts weiter gedacht hat und meine Daten nirgends notiert.

»Was hat er mit dir geredet?«, frage ich Vicki, als er außer Sichtweite ist.

»Er hat wissen wollen, wie ich heiße und was ich hier mache.«

»Und was hast du ihm gesagt?«

»Dass ich hier mit meiner Mutter bin, die gerade fürs Tanken bezahlt.«

»Und sonst?«

Ihr muss der nervöse Klang meiner Stimme auffallen. Sie runzelt die Stirn. »Haben wir Probleme?«

»Nein, es ist alles gut. Nur das nächste Mal rede bitte erst gar nicht mit solchen Leuten, okay?«

»Aber er war doch Polizist.«

»Das ist egal!«, fahre ich sie an.

Erschrocken zuckt sie zusammen und murmelt ein beinahe unverständliches »Okay«.

Dann wird es still zwischen uns. Meine Angst verebbt, und ich zwinge mich, klarzusehen. Es war eine Routinekontrolle. Weil hier erst vor Kurzem ein Kind verschwunden ist. Gut, dass sie aufpassen. Es hatte nichts mit uns zu tun.

Am Horizont beginnt der Himmel sich allmählich zu lichten. Bald wird sein Wecker klingeln, und er wird aufwachen und es merken. Ich weiß gar nicht, wie er reagieren wird. Alles kurz und klein schlagen? Unser Schlafzimmer, unser Haus, alles, was einmal Bedeutung für mich hatte, zertrümmern? Oder wird er ganz ruhig bleiben? Bloß zum Telefon greifen und seinen Freunden bei der Polizei die für ihn einzige Wahrheit berichten: »Sie hat meine Tochter entführt.«

Welch abartige Ironie, dass ausgerechnet jemand wie er Polizist ist. Auf diese Weise hat er es stets verheimlichen können. Hatte alles unter Kontrolle. Weil all seine Freunde ebenfalls Polizisten sind. Die halten zusammen wie Pech und Schwefel. Die Ehefrau, die ist das Problem. Erzählt doch nichts als Lügen. Und jetzt hat sie auch noch das gemeinsame Kind entführt. Was für eine makellose Story. Er wird sich einiges ausdenken, um das hier mir in die Schuhe zu schieben, denn er kann beinahe so gut lügen, wie er zuschlagen kann.

»Er hat so wie Papa ausgesehen.«

Ich blinzle, tauche schlagartig aus meinen Gedanken auf. »Was?«

»Der Polizist. Er hat ein bisschen so wie Papa ausgesehen. Ich glaube, deswegen habe ich mit ihm geredet. Verstehst du das?«

Ich spüre einen Klumpen in meiner Kehle, der mir beim Schlucken bis in die Magengrube sackt. Ich greife nach ihrer Hand,...

Erscheint lt. Verlag 1.8.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 2024 • eBooks • Neuerscheinung • Österreich • Preisgekrönte Autorin • Psychothriller • Starke Frau • Thriller • toxische Beziehung • Verfolgte Frau • Wald
ISBN-10 3-641-30914-X / 364130914X
ISBN-13 978-3-641-30914-5 / 9783641309145
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