Die Wahrheit dahinter (eBook)
416 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-216-3 (ISBN)
Anne Holt ist mit über 12 Millionen verkauften Büchern weltweit eine der erfolgreichsten Krimiautor:innen Skandinaviens. Sie ist ehemalige Justizministerin Norwegens, Anwältin, Journalistin, TV-Nachrichtenredakteurin und Moderatorin. Zu großem Ruhm als Autorin gelangte sie mit den zwei Krimiserien um Inger Johanne Vik (verfilmt als »Modus. Der Mörder in uns«) und Hanne Wilhelmsen. Ihre neueste Serie dreht sich um die Juristin Selma Falck.
Anne Holt ist mit über 12 Millionen verkauften Büchern weltweit eine der erfolgreichsten Krimiautor:innen Skandinaviens. Sie ist ehemalige Justizministerin Norwegens, Anwältin, Journalistin, TV-Nachrichtenredakteurin und Moderatorin. Zu großem Ruhm als Autorin gelangte sie mit den zwei Krimiserien um Inger Johanne Vik (verfilmt als »Modus. Der Mörder in uns«) und Hanne Wilhelmsen. Ihre neueste Serie dreht sich um die Juristin Selma Falck.
Donnerstag, 19. Dezember
Der Hund war alt. Seine Hüften waren durch Verkalkungen steif und ungelenk geworden. Durch die Krankheit ähnelte das Tier fast einer Hyäne, mit kräftiger Brust und einer gewaltigen Nackenpartie, die zu dem mageren Hinterteil hin jählings schmaler wurde. Der Schwanz krümmte sich um die Hoden.
Das räudige Tier kam und ging. Niemand konnte sich daran erinnern, wann es zuerst aufgetaucht war. Es gehörte in gewisser Weise zu dieser Gegend dazu; eine Unannehmlichkeit, die man nicht vermeiden konnte, wie das Scheppern der Straßenbahnen, die falsch geparkten Wagen und die bei Glatteis nicht gestreuten Wege. Man musste sich eben vorsehen. Die Kellertüren verschlossen halten. Die Katze über Nacht ins Haus holen. Im Hinterhof sorgfältig die Deckel auf die Mülltonnen legen. Manchmal beschwerte jemand sich bei der Gesundheitsbehörde, wenn an drei Morgen hintereinander Essensreste und andere Abfälle bei den Fahrradständern herumlagen. Eine Reaktion kam nur selten, und nie wurde auch nur der Versuch unternommen, das Tier zu fangen.
Wenn sich jemand die Frage gestellt hätte, wie dieser Hund eigentlich lebte, dann wäre die Antwort gewesen, dass er sich nach einem gewissen Muster durch den Stadtteil bewegte, einem Muster, das unregelmäßig und deshalb nicht so leicht zu durchschauen war. Wenn jemand sich dafür interessiert hätte, hätte dieser Jemand erkennen können, dass der Hund nie weit weg war, dass er selten sein Revier verließ und dass dieses Revier nur fünfzehn oder sechzehn Häuserblocks umfasste.
So lebte der Hund seit fast acht Jahren.
Er kannte sein Revier und machte um andere Tiere einen großen Bogen. Er wich Schoßhunden an bunten Nylonleinen aus und wusste schon längst, dass Rassekatzen mit einer Glocke am Hals eine Versuchung darstellten, der er besser nicht erlag. Er war ein herrenloser Bastard in Oslos nobelstem Westend und blieb deshalb lieber in Deckung.
Die unerwartet hohen Temperaturen vor Weihnachten lagen hinter ihnen. Ein eiskalter Frost hatte den Asphalt überzogen. In der Luft lag ein Hauch von Schnee. Der Hund kratzte mit seinen Krallen über das Eis, und er zog ein Hinterbein nach. An der linken Seite seines Hinterteils leuchtete im Laternenlicht eine Schramme, sie schimmerte im spärlichen Fell violett und war verschmiert mit gelbem Eiter. Er war am Vorabend an einem Nagel hängen geblieben, auf der Suche nach einem Schlafplatz.
Der Wohnblock lag ein Stück abseits der Straße. Ein Plattenweg durchschnitt den Vorgarten. Feuchtes, totes Gras und ein von einer Plane bedecktes Blumenbeet lagen in einem auf Kniehöhe von einer schwarz angestrichenen Kette abgegrenzten Bereich. Rechts und links des Eingangs stand je ein mit elektrischen Kerzen geschmückter Weihnachtsbaum.
Der Hund unternahm an diesem Abend schon den zweiten Versuch, in ein Haus zu gelangen. In der Regel gab es immer irgendeinen Weg. Natürlich war es bei unverschlossener Tür am einfachsten. Ein leichter Sprung, ein Pfotenhieb gegen die Klinke. Ob die Tür sich nach außen oder nach innen öffnete, spielte normalerweise keine Rolle, unverschlossene Türen waren sowieso eine Kleinigkeit. Sie waren aber auch selten. In der Regel musste er nach angelehnten Kellerfenstern suchen, nach lockeren Brettern an Mauern, die renoviert werden sollten, nach Luken unter morschen Kellertreppen. Nach Eingängen, die außer ihm alle vergessen hatten. Es gab nicht überall welche, und manchmal waren die Luken repariert worden, die Fensterblenden festgenagelt und die Mauern neu verputzt. Oft war alles dicht und undurchdringlich. Dann zog er weiter. Es konnte Stunden dauern, bis er einen Unterschlupf für die Nacht gefunden hatte.
In diesem Haus gab es einen Zugang. Er kannte ihn, der Weg war einfach, aber er musste vorsichtig bleiben. Er schlief immer nur eine Nacht am selben Ort. Bei seinem ersten Versuch an diesem Abend war jemand gekommen. Das konnte durchaus passieren. Dann lief er ganz schnell davon, zwei oder drei Blocks weiter. Legte sich unter einen Busch, einen Fahrradständer, versteckt für alle, die nicht so genau hinsahen. Später machte er noch einen Versuch. Ein brauchbarer Zugang war schon zwei Versuche wert.
Aber in der letzten Stunde war der Frost stärker geworden. Und es schneite jetzt wirklich; trockene, leichte Flocken, die den Boden mit Weiß bedeckten. Er zitterte, und er hatte seit mehr als vierundzwanzig Stunden nichts mehr zu fressen gefunden.
Jetzt lag das Haus ganz still vor ihm.
Die Lichter zogen ihn an und machten ihm zugleich Angst.
Licht barg stets die Gefahr, dass man gesehen wurde. Und dann war es eine Bedrohung. Aber Licht bedeutete auch Wärme. Das Blut pochte schmerzhaft in der entzündeten Schramme. Zögernd stieg er über die niedrig hängende Kette. Er wimmerte, als er sein Hinterbein hob. Sein Durchgang, der Weg in den Verschlag mit dem achtlos in eine Ecke geworfenen alten Schlafsack, lag hinten im Haus, zwischen der Kellertreppe und zwei nie benutzten Fahrrädern.
Aber die Haustür war heute auch nur angelehnt.
Haustüren waren gefährlich. Er könnte eingesperrt werden. Aber ein warmes Licht lockte ihn trotzdem an. Treppenhäuser waren besser als Keller. Ganz oben, wo nur selten jemand vorbeikam, war es warm.
Mit gesenktem Kopf näherte er sich der Steintreppe. Er blieb mit erhobener Vorderpfote stehen, dann trat er langsam in den Lichtkegel hinein, der aus dem Treppenhaus herausfiel. Nirgendwo war auch nur eine Bewegung zu sehen, kein bedrohliches Geräusch war zu hören, nur das ferne, vertraute Rauschen der Stadt.
Und dann war er im Haus.
Wo es noch eine offene Tür gab.
Es roch nach Essen, und es war ganz still.
Es roch so sehr nach Essen, dass er nicht mehr zögerte. So schnell er konnte, humpelte er in die Wohnung hinein, blieb in der Diele aber stehen. Er knurrte tief in der Kehle und fletschte die Zähne, als er den Mann auf dem Boden sah. Nichts passierte. Der Hund ging weiter, neugierig jetzt, eher neugierig als ängstlich. Vorsichtig näherte seine Schnauze sich dem bewegungslosen Körper. Behutsam leckte er an der Blutlache, die den Kopf des Mannes umgab. Seine Zunge wurde schneller, schrappte über den Boden, befreite die Wange des Mannes von der geronnenen Masse, bohrte sich ins Loch gleich neben der Schläfe: Der ausgehungerte Hund leckte alles, was er aus dem Schädel nur herausholen konnte, ehe ihm aufging, dass er für seine Nahrung gar nicht so hart zu arbeiten brauchte.
In der Wohnung lagen drei Körper. Sein Schwanz peitschte vor Begeisterung.
»Hier gibt’s nichts zu diskutieren. Nefis muss sich verdammt noch mal an unsere Sitten halten.«
Marry knallte die Tür zu.
»Eins, zwei, drei, vier«, zählte Hanne Wilhelmsen, und bei vier stand Marry wieder im Zimmer.
»Wenn ich zu Weihnachten zu diesen Muslimisten fahren müsste, dann würde ich auch essen, was sie mir vorsetzen. Das ist doch eine Frage der Höflichkeit, wenn du mich fragst. Sie ist ja nicht mal fromm. Das hat sie mir schon ganz oft gesagt. Heiligabend gibt’s in Norwegen eben Schweinerippe. Und damit basta!«
»Aber Marry!« Hanne setzte resigniert zu einem neuen Versuch an. »Können wir nicht geräuchertes Hammelfleisch essen? Damit wäre das ganze Problem gelöst. Wir hatten doch letztes Jahr schon Rippe.«
»Das Problem?«
Marry Samuelsen hatte früher einmal als Harrymarry gelebt, Oslos älteste Straßennutte. Hanne war drei Jahre zuvor in Verbindung mit einem Mordfall über sie gestolpert. Marry war damals arg verkommen gewesen, Drogen und Großstadtkälte hatten ihre Spuren hinterlassen. Jetzt lebte sie als Haushälterin bei Hanne und Nefis in deren Siebenzimmerwohnung in der Kruses gate. Marry fuhr sich eifrig mit ihren gichtig geplagten Händen über die Schürze.
»Das Problem, beste Hanne Wilhelmsen, ist, dass die einzige Weihnachtsrippe, die ich je in mein zahnloses Maul schieben konnte, als ich dich und Nefis noch nicht kannte, wässrig und kalt war und auf einem Pappteller der Heilsarmee lag.«
»Das weiß ich, Marry. Wir können doch auch zwei Gerichte einplanen? Wir können uns das leisten, das weißt du.«
Hanne Wilhelmsen sah sich mit resignierter Miene im Zimmer um. Das einzige Möbelstück aus der Wohnung in Lille Tøyen, wo Hanne mehr als fünfzehn Jahre gelebt hatte, war ein antiquarischer Sekretär, der in einer Ecke am Ausgang zu einem riesigen Balkon fast verschwand.
»Weihnachten ist kein Platz für Kompromisse«, erklärte Marry feierlich. »Wenn du so wie ich Jahr für Jahr, einen Heiligabend nach dem anderen, an einem Speckstück gelutscht hättest, das zu zäh zum Essen war, und wenn du dabei einsam und vergessen in einer Ecke gesessen hättest, dann wüsstest du, dass es hier darum geht, dass wir auf unsere Träume aufpassen müssen. Heiligabend mit Kristall und Silber, einem Baum in der Ecke und einer dicken, fetten Rippe mitten auf dem Tisch mit einer so knusprigen Schwarte, dass sie kracht. In all den Jahren hab ich davon geträumt. Und so machen wir das jetzt endlich. So viel Respekt könnt ihr einer armen Alten, die vielleicht nicht mehr lange zu leben hat, ja wohl entgegenbringen.«
»Hör doch auf, Marry. Du bist doch wunderbar in Form. Und besonders alt bist du auch nicht.«
Marry machte abermals auf dem Absatz kehrt, sagte kein Wort mehr und marschierte davon. Sie zog das eine Bein heftig nach. Mit rhythmischem Hinken verschwand sie in der Küche. Hanne hatte beim Einzug gemessen, war die Entfernung abgeschritten, als sie sich ungesehen geglaubt hatte: sechzehn Meter vom Sofa zur Küchentür. Vom Esszimmer bis ins größere Badezimmer waren es elf Meter. Vom Schlafzimmer bis zur Haustür sechseinhalb....
Erscheint lt. Verlag | 12.6.2024 |
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Reihe/Serie | Hanne-Wilhelmsen-Reihe | Hanne-Wilhelmsen-Reihe |
Übersetzer | Gabriele Haefs |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Familie • Hanne Wilhelmsen • Herrenhaus • High Society • Norwegen • Reederei • Scandicrime • Skandinavien • Vierfachmord • weibliche Ermittlerin |
ISBN-10 | 3-03792-216-8 / 3037922168 |
ISBN-13 | 978-3-03792-216-3 / 9783037922163 |
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