Mittsommer 1983 in Dalshyttan im ländlichen Schweden. Die kleine Dorfgemeinschaft feiert ausgelassen die längste Nacht des Jahres, mit Tänzen um den Baum, Blumenkränzen, Essen und viel Alkohol.
Am nächsten Tag ist die junge Mutter Maria verschwunden. Und taucht auch nicht mehr auf. Ihre kleine Tochter Terese bleibt erst mal bei der Großmutter, die gleich spürt, dass etwas nicht stimmt. Sie glaubt nicht daran, dass Maria ihre kleine Tochter ohne ein Wort zurückgelassen hätte.
Wochenlang sucht sie im dichten Herbstwald wie im Wahn nach ihrer Tochter. Dort wird Maria schließlich gefunden - tot, an einem Abhang.
Nach erfolglosen Ermittlungen kümmert sich bald niemand mehr um Marias Tod, und Terese wird in die Obhut einer Pflegefamilie in einer anderen Region Schwedens gegeben. Fünfzehn Jahre später kehrt Terese als junge Erwachsene zurück nach Dalshyttan. Und findet ein altes Tagebuch ihrer Mutter Maria, das neues Licht auf die Geheimnisse von damals wirft.
Malin Hedin, geboren 1982, arbeitet als Lehrerin in Västerås. Im Alter von zwanzig Jahren veröffentlichte sie ihr erstes Buch, einen Jugendroman. Mittsommerlügen ist ihr erster Kriminalroman und ihr erstes Buch auf Deutsch.
Stefanie Werner studierte Skandinavistik, Völkerkunde und Publizistik in Göttingen. Als freie Übersetzerin überträgt sie Belletristik und Sachbücher aus dem Schwedischen.
Ein atmosphärischer Schweden-Thriller mit Gänsehautfaktor.
1.
Juni 1983
ES WAR IHR zweites Mittsommerfest im Dorf, und einmal mehr feierten sie in Marias Garten. Genau wie letztes Jahr, als Sylvia noch Kjells neue Freundin gewesen war und nur vorübergehend zu Besuch. Doch etwas war in diesem Jahr anders. In diesem Jahr gehörte sie dazu.
Sylvia kniete vor Terese, Marias Tochter, und drückte dem Mädchen den Kranz auf den Kopf. Ein bisschen klein war er geworden, doch er war der schönste von allen. In Tereses Kranz hatte sie Zierlauch und Acker-Witwenblumen hineingebunden, die hatte kein anderes Kind in seinem Haarschmuck. An der Stirn noch das wilde Veilchen, das sie am Wegrand gefunden hatte. Terese, mit ihrem schönen goldbraunen Haar, trug einen ausgefransten Pony, der schräg abgeschnitten und viel zu lang war. Mit Haarklemmen versuchte Sylvia, die Haarsträhnen unter dem Kranz zu bändigen, damit man mehr von Tereses Gesicht sehen konnte.
»Na, wird aus dem kleinen Trollkind doch noch ein richtiges Mittsommermädchen.«
Die Milchzähnchen bissen sich auf die Lippe, die Augen wanderten den Garten ab.
»Mama!«, rief Terese, als sie Maria entdeckte. »Schau mal, mein schöner Kranz!«
Die Kleine rannte los, lief auf ihre blutjunge Mama zu, die auf der langen Festtafel unter den hohen Ahornbäumen Vasen mit Himbeerzweigen verteilte. Maria fuhr herum und hockte sich vor ihre Tochter hin, sodass ihr das lange, blonde Haar wie ein Vorhang vors Gesicht fiel. Sylvia konnte nicht verstehen, was sie sagte, doch sie sah, wie Marias Fingerkuppen sanft über Tereses Wangen strichen. Das Mädchen strahlte, und Maria warf Sylvia eine Kusshand zu. Sylvia lachte, dann legte sie den Kopf in den Nacken und hielt ihr Gesicht in die Sonne, schloss die Augen und atmete ganz tief ein. Der Junitag roch herrlich, ein Duft wie nach frischem Regen. Hier draußen zu wohnen war ein Traum. Sie liebte diese Düfte. Die Klänge. Das Vogelgezwitscher, so klar und deutlich in dieser Stille. Morgens saß Sylvia lange auf dem Balkon, ließ ihren Blick schweifen, hinunter zur Kreuzung und weiter zu Marias Haus, und dann lauschte sie einfach nur – ließ die Töne in ihren Kopf und ihre Gedanken ganz von ihnen einnehmen.
Maria schimpfte gern auf die Vögel, sie gingen ihr auf die Nerven, weckten sie viel zu früh und hielten sie davon ab, wieder einzuschlafen. Doch kurz darauf lachte sie, als hätte sie gemerkt, dass es ja völlig verrückt war, sich über so etwas zu beschweren.
Sylvia glaubte kaum, dass ihr das Vogelgezwitscher jemals auf die Nerven gehen würde. Es war wohl etwas anderes, wenn man damit groß geworden war. Maria war richtiggehend verwöhnt. Als Sylvia im Herbst hierher ins Dorf, zu Kjell ins Haus, gezogen war, um ein neues Kapitel in ihrem Leben aufzuschlagen, da hatte Kjell ein Vogelhäuschen geschreinert und auf dem Balkongeländer befestigt. Er hatte Sonnenblumenkerne hineingeschüttet, und Sylvia hatte aus altem Schweineschmalz Meisenknödel geknetet und sie aufgehängt. Fortan hatte sie dort gesessen und die Vögel beobachtet und unterdessen in Kjells altem Vogelbestimmungsbuch geblättert, das sie im Bücherregal gefunden hatte. Nach kurzer Zeit gelang es ihr, die verschiedenen Arten zu unterscheiden. Kohlmeisen, Blaumeisen und Dompfaff kannte sie ja, aber Feldspatz, Seidenschwanz und Grünfink waren ihr neu. Als schließlich das Frühjahr kam, gesellten sich die anderen Vögel dazu. Erst der Buchfink und der Star. Dann die Waldschnepfe. Wenn schließlich auch die Kraniche zurückkehrten, war der Frühling nicht mehr aufzuhalten. Dann füllte sich der Wald mit Leben, mit Vögeln, die sich tief in ihr Herz sangen, und so kam sie vollends zur Ruhe.
Wie gern hätte sie mit Maria getauscht, die die Stirn in grimmige Falten legte und behauptete, das Trällern der Singvögel störe sie. Dann wäre sie auch mit Vogelgesang groß geworden, wohlbehütet. So sollten ihre Kinder aufwachsen, umgeben von Vogelgezwitscher, das war ihr innigster Wunsch.
Dieser Gedanke stimmte sie melancholisch, denn er erinnerte sie daran, dass sie ihre Periode noch genauso pünktlich bekam wie in der Zeit, bevor sie mit Kjell zusammen war. Ihr Blick huschte zu ihm hinüber, er stand zwischen den Torpfosten und befestigte die frischen Birkenzweige mit Eisendraht am Zaun. Der Schirm seiner Kappe warf einen Schatten über sein Gesicht und verbarg seinen breiten Mund. Womöglich lag es wirklich an ihm. Manchmal entfuhren ihm solche Bemerkungen, schulterzuckend stand er dann da, es schien ihm gar nichts auszumachen.
Genau das machte sie wütend. Zum einen, weil es ihn so wenig berührte, zum anderen, weil in seiner schnoddrigen Art auch die Annahme mitschwang, dass es genauso gut an ihr liegen könne. Vermutlich meinte er es gar nicht so, doch es war naiv zu glauben, dass es nur die eine Möglichkeit gab und bei ihm etwas nicht stimmte. Und das ärgerte sie. Es gefiel ihr nicht, dass er sich dumm stellte oder – und das war schlimmer – unterstellte, dass der Fehler bei ihr lag.
Was ist nur los mit dir?, hatte ihre Mutter sie früher angefahren. Immer wieder gingen Sylvia diese Worte durch den Kopf, und jetzt bekamen sie eine ganz neue Bedeutung. Doch das konnte ihre Mutter damals wohl kaum gemeint haben.
Sylvia erhob sich vom Rasen und ging hinüber zu Kjell. Sie streichelte ihm über die braunen Haare, die sich unter der Kappe kringelten. Im nächsten Moment legte er den Arm um sie.
»Hast ihn wirklich schön geschmückt.« Dabei nickte er zum Maibaum hinüber, beugte sich zu ihr und küsste sie.
»Du auch«, erwiderte sie und spürte die Wärme, die seine Lippen hinterließen. Sie streichelte ihn am Hals, unter der Kappe drangen feine Schweißperlen hervor und liefen ihm auf die Stirn.
Da stiegen Ernst und Ingegärd, die älteren Nachbarn, durch das Loch im Zaun und kamen in den Garten spaziert. Die gut sechzigjährige Ingegärd trug eine geblümte Bluse, und ihre grauen, wallenden Locken waren frisch frisiert. Auf einem Tablett hatte sie Schälchen und Töpfe fürs Buffet mitgebracht, die sie erst auf der Erde abstellte, um sie dann eins nach dem anderen auf dem Tisch zu platzieren. Ernst, der auf die siebzig zuging, war in seiner Alltagsjeans gekommen, mit Dreckflecken an den Knien, und in einem weißen T-Shirt, auf dem das Logo des Walzwerks Smedjebacken AG prangte. Sylvia musste an ihr erstes Mittsommerfest im Dorf denken, als sie Kjell nicht von der Seite gewichen war und unentwegt versucht hatte, alle neugierigen Fragen über ihre Beziehung zu unterbinden, sie hatte doch selbst noch keine Antworten. Beim Essen war sie dann am Tisch neben Ernst gelandet, der ihr in breitestem Dialekt die Geschichte dieses Hofs erzählt hatte, der ihm gehörte und den er nun an Maria und ihre kleine Tochter vermietete. Den guten alten Berghof. Es hatte Tradition, Mittsommer hier auf dem Hof zu feiern, zu dem das kupferrote Holzhaus und drei weitere Gebäude gehörten: der Geräteschuppen, das Backhaus und die Jagdhütte. Völlig wurscht, wer hier unten haust, hier im Gärtchen wird gefeiert, Schluss, aus, hatte der Alte ihr erklärt. Kaum hatte Maria das Kind bekommen, war sie eingezogen, das hatte er auch berichtet.
Wer der Vater des Mädchens war, wusste Sylvia nicht.
Maria war ein offener Mensch, der mitunter auch sehr direkt sein konnte, aber sie umgab sich mit einer Aura von Integrität, an der jeder Versuch, dieser delikaten Frage auf die Spur zu kommen, abprallte. Sylvia hatte es nie gewagt.
Es wurde viel geredet, das wusste sie.
Maria war gerade einmal zwanzig Jahre alt und hatte bereits eine dreijährige Tochter. War mit sechzehn schon schwanger geworden. War siebzehn, als die Kleine zur Welt kam. Doch es machte ihr überhaupt...
Erscheint lt. Verlag | 20.5.2024 |
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Übersetzer | Stefanie Werner |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Dimdans |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Aqvavit • Domestic Suspense • Dorf-Geheimnis • Elchjagd • Familiengeheimnis • Frau vermisst • Frau verschwunden • Hinterkaifeck • insel taschenbuch 5042 • IT 5042 • IT5042 • karin smirnoff • Mathias Edvardsson • Midsommar • Nebel • psychological suspense • Regionalkrimi • Schwedenkrimi • Spannungsroman • Stina Jackson • Teenager vermisst • Tradition • Wald • Wallander |
ISBN-10 | 3-458-77976-0 / 3458779760 |
ISBN-13 | 978-3-458-77976-6 / 9783458779766 |
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