Tödlicher Duft (eBook)
400 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-31127-8 (ISBN)
Das sonst so verschlafene Grasse ist in Aufruhr: Eric Sentir, Erfinder betörender Düfte für den renommierten Parfümeur Fragonard, wird tot aufgefunden. Seine Leiche schwimmt in einem Bottich seiner eigenen Kreation, inmitten blutroter Kamelienblüten. Und das ausgerechnet sonntags, wenn Louis Campanard sich in Ruhe seinem Lavendelgarten widmen möchte. Der erfahrene Commissaire beschließt, die Polizeipsychologin Linda Delacours aus Paris zu holen und undercover in die geheimnisvolle Welt der Duftkreation einzuschleusen. Um den Fall aufzuklären, müssen die beiden ihr ganzes Können aufwenden - und geraten dabei selbst ins Visier des Täters.
René Anour studierte Veterinärmedizin und promovierte im Bereich Pathophysiologie, wobei ihn ein Forschungsaufenthalt bis an die Harvard Medical School führte. Inzwischen ist er als Experte für neu entwickelte Medikamente für die European Medicines Agency tätig. Als Autor ist er mit Krimis und Sachbüchern erfolgreich. Für die Recherche von »Tödlicher Duft« hat er sich intensiv mit der Region um Grasse und der betörenden Welt der Parfümkreation befasst.
Kapitel 3
Les Palmiers
Der Zug war nicht mit dem schnellen TGV vergleichbar, mit dem Linda vom Pariser Gare de Lyon bis nach Cannes gezischt war. Die Lokalbahn ruckelte gehörig und hielt während der kaum dreißig Minuten dauernden Fahrt von Cannes nach Grasse doppelt so oft an wie der Hochgeschwindigkeitszug zuvor. Nachdem sie Cannes mit dem strahlend blauen Meer, den mondänen Villen und Palmengärten hinter sich gelassen hatte, fuhr sie immer weiter landeinwärts in Richtung Berge.
Der Zug wackelte so heftig, dass Linda sich beim Herausfischen ihrer Einsatzunterlagen aus dem Koffer konzentrieren musste, um nicht reisekrank zu werden.
Eigentlich hatte Linda sie schon in Paris gelesen, aber sie wollte sich bei ihrem neuen Vorgesetzten, einem gewissen Louis Campanard, der sie letzte Woche persönlich angerufen hatte, keine Blöße geben.
Die Mühe hätte sie sich jedoch sparen können: Die Unterlagen verrieten nur die Eckpunkte des Falls. Und dann noch dieses Anschreiben.
Meine teure Madame Delacours,
bitte finden Sie sich am 22. Mai gegen 11 Uhr im Hotel Les Palmiers, 17 Avenue Yves Emmanuel Baudoin, ein.
In freudiger Erwartung
L. A. Campanard, Commissaire
Linda schmunzelte. Meine teure. Sie wusste nicht, wann es üblich gewesen war, eine Mitarbeiterin so zu betiteln. Vor Lindas Geburt jedenfalls, wenn überhaupt. Trotzdem, irgendwie fand sie es herzlich.
Linda legte die Unterlagen beiseite und streckte sich. Diesen Fall würde sie genauso effizient meistern wie die vielen anderen, an denen sie am forensischen Institut in Paris gearbeitet hatte. Kaum jemand dort hatte mehr Erfolge vorzuweisen als sie.
Aber dieser Jemand bist du nicht mehr, und das weißt du, flüsterte eine Stimme in ihrem Inneren. Linda merkte, wie ihre Hände zu zittern begannen. Du bist dem nicht gewachsen, du bist zu zerbrechlich geworden.
Hastig umfasste sie ihre Finger und brachte die Stimme zum Schweigen. Mit verkrampfter Miene zwang sie sich, aus dem Fenster zu sehen. Die Landschaft um sie herum wirkte … lieblich. Als hätte man Alpen und Tropen in einen Bottich geworfen und kräftig umgerührt: bewaldete Berghänge, Gärten, in denen Palmen und Zitronenbäume wuchsen. Und immer wieder in allen Farben blühende Felder und Gewächshäuser.
Linda atmete tief durch, wodurch die Anspannung von ihr abfiel, und gähnte ausgiebig.
Vielleicht sollte sie ein wenig schlafen. Gestern war sie den ganzen Tag auf Achse gewesen, hatte ihre kleine Wohnung in Buttes-Chaumont, dem neunzehnten Pariser Arrondissement, voll möbliert an zwei Studenten vermietet und hin und her überlegt, was sie alles mitnehmen sollte. Am Ende war es doch nur ein Koffer geworden, da sie die Auffassung vertrat, dass man selbst von den Dingen, die man für absolut essenziell hielt, nur die Hälfte brauchte.
Gerade wollte sie ein wenig die Augen schließen, als sie etwas blendete. Blinzelnd erblickte sie eine kleine Stadt, die vor ihr auf einer Anhöhe aufgetaucht war und im Licht der Morgensonne leuchtete.
Grasse schmiegte sich an einen sanften Berghang. Wenn es in der Ortschaft moderne Gebäude gab, dann lagen diese irgendwo hinter den mittelalterlichen Steinbauten, die sich im Zentrum zusammendrängten und den Anblick aus der Ferne dominierten.
Zwischen den Häusern brach immer wieder üppiges Grün von terrassenartig angeordneten Gärten hervor. Einen Augenblick lang nahm das Panorama Linda gefangen. Gott, wie kitschig, hätte Ségolène, ihre beste Freundin in Paris, gestöhnt. Ségo war Anwältin, und niemandem, den Linda kannte, schien die Distanziertheit und die Geschwindigkeit der Hauptstadt mehr zu behagen. Linda hätte gelacht und ihr zugestimmt. Aber jetzt, da sie ganz allein war, musste sie sich eingestehen, dass sie den Anblick durchaus mochte.
Als der Zug wenig später endlich in den Bahnhof von Grasse zuckelte, beeilte sich Linda auszusteigen. Eine unerwartete Wärme schlug ihr entgegen, und so zog sie ihre Jacke rasch im Gehen aus und verstaute sie in ihrem Rucksack.
Am Ausgang des Bahnhofs blieb sie stehen. Das Einzige, was sie hörte, waren das ununterbrochene Zirpen der Zikaden in einer nahen Schirmpinie und das schrille Rufen der Mauersegler, die zwischen den engen Häuserschluchten umherschossen. Der Rest der Stadt schien noch zu schlafen.
Linda atmete tief ein und aus. Irrte sie sich, oder roch es hier wirklich nach Blüten? Vermutlich war das an einem Morgen Ende Mai an vielen Orten Frankreichs so. Der Duft war so intensiv, dass er Linda in der Nase kitzelte und sie niesen ließ. Das Zentrum der Stadt lag deutlich höher als der Bahnhof, da hatte sie wohl einen ganz schönen Weg vor sich.
»Na, dann«, murmelte sie. »On y va!«
***
Schwitzend kämpfte Linda sich die alten Gassen hinauf, die so schmal waren, dass keine zweite Person neben ihr hätte gehen können. Kein Straßenzug verlief hier ebenerdig. Rauf und runter, das schienen die einzigen Richtungen zu sein, die Grasse kannte.
Während das Rattern ihres Koffers auf dem Kopfsteinpflaster unnatürlich laut von den Häuserfronten widerhallte, erblickte sie immer wieder Blumenampeln mit leuchtend roten Begonien unter schmiedeeisernen Laternen. Von manchen der mittelalterlichen Gebäude bröckelte der gelbbraune Putz, andere wirkten frisch saniert und leuchteten in kräftigem Orange oder Rot. Ein paar früh aufgestandene Touristen stolperten mit erhobenen Smartphones durch die Gassen, sodass Linda aufpassen musste, mit keinem von ihnen zusammenzustoßen.
Hinter der nächsten Kurve tauchte ein helles Gebäude mit hellblauen Fensterläden auf. Neben der Eingangstür hing ein verblasstes Schild. Darauf waren eine blassgrüne Palme und der Schriftzug Hotel Pension Les Palmiers zu sehen.
»Voilà!«, seufzte Linda, lehnte sich gegen die Wand und verschnaufte einen Moment lang.
Ein paar Jugendliche in sommerlichen Leinenhemden kamen ihr plaudernd entgegen. Sie alle wirkten so entspannt und schön auf Linda. Ein Junge aus der Gruppe warf ihr neugierige Blicke zu.
»Salut!« Er schenkte ihr ein Grinsen.
Linda schüttelte augenrollend den Kopf. Sie war bestimmt zehn Jahre älter als dieser Junge und ausgebildete Psychologin. Nicht das erste Mal, dass jemand sie jünger schätzte, als sie war.
Im Inneren der Pension war es ein wenig kühler. Linda ließ ihr Gepäck auf den Schachbrettfliesen des länglichen Flurs stehen und ging zur Rezeption. Dahinter saß eine stark geschminkte ältere Frau, die gerade in einem Magazin blätterte und einen Artikel über Carla Bruni las.
Linda wartete einen Moment, bis die Dame sich bequemte, von ihrer Lektüre aufzusehen.
»Was kann ich für Sie tun, Schätzchen?«
»Ich werde hier erwartet.«
Die Dame betrachtete sie über den Rand ihrer Brillengläser hinweg. »Mit Sicherheit nicht.«
»O doch, um …« Linda lächelte. »Gegen elf Uhr!«
Der Blick der Rezeptionistin glitt zur Wanduhr, die 10:58 Uhr anzeigte, dann schüttelte sie langsam den Kopf. »Sie sind mindestens eine Viertelstunde zu früh. Warten Sie hinten im Frühstücksraum.«
»Aber Sie wissen doch überhaupt nicht, mit wem …«
»Warten Sie hinten im Frühstücksraum.«
»Schon gut.« Auch in dieser Stadt gab es offenbar ein paar Leute, die ähnlich höflich waren wie die Pariser.
Linda holte ihren Koffer und marschierte an der Rezeptionistin vorbei, die sich längst wieder in ihre Zeitschrift vertieft hatte.
Der Frühstücksraum war etwas in die Jahre gekommen, aber trotzdem einigermaßen charmant eingerichtet. Durch ein großes Fenster konnte man in den Garten sehen, aus dem Vogelgezwitscher in den Raum drang.
Die Stühle waren aus dunklem Holz gefertigt und hatten filigran gemusterte Lehnen, und auf jedem Tisch stand ein kleines Gesteck aus duftenden Orangenblüten.
Das hieß dann wohl warten. Linda machte es sich an einem der Tische bequem. »Ich kann das«, flüsterte sie.
***
»Chef, wieso wollten Sie bloß, dass ich dieses Haus anmiete?«, murmelte Olivier, während sie durch den schmalen Gang der Pension marschierten. »Auf dem Revier hätten wir mehr als genug Räumlichkeiten, die wir …«
»Ich habe meine Gründe, Olivier«, unterbrach der Commissaire ihn ungewöhnlich kurz angebunden und nahm seinen Panamahut ab. Darunter trug er einen dezenten Sidecut mit ordentlichem Seitenscheitel. Dass sein Haar noch relativ dunkel wirkte, während der Schnauzer schon vollkommen silbern geworden war, verwunderte Olivier immer wieder. Campanard öffnete die Tür zum Frühstückszimmer.
Olivier trat hinter ihm in den sonnendurchfluteten, nach Blüten und Holz duftenden Raum. Die einzige Person darin war eine junge Frau in einem dunkelblauen Hosenanzug, die mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einer der Bänke saß und in einem Buch las. Olivier fand, dass sie nicht gerade klassisch französisch aussah. Der blasse Teint und das kinnlange blonde Haar verliehen ihr eine kühle Aura, die ein wenig durch die zart wirkende Figur abgemildert wurde. Die dickrandige Brille auf ihrer Nase wirkte viel zu groß für ihr Gesicht.
Porträts großer Franzosen, stand in großen Lettern auf dem Cover ihres Buchs.
»Bonjour, Madame!«, hallte Campanards Stimme durch den Raum.
Die Frau sah auf und musterte den Commissaire eingehend, während er die Sonnenbrille mit den kreisrunden Gläsern abnahm und ihren Blick mit seinen...
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2024 |
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Reihe/Serie | Campanard ermittelt in der Provence | Campanard ermittelt in der Provence |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2024 • Bannalec • Cosy Crime • Cote d'Azur • eBooks • Frankreich • gemütlicher Krimi • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Lavendel • Neuerscheinung • Parfüm • Parfümherstellung • Pierre Lagrange • Pierre Martin • Provence • Remy Eyssen • Sophie Bonnet • Urlaubskrimi |
ISBN-10 | 3-641-31127-6 / 3641311276 |
ISBN-13 | 978-3-641-31127-8 / 9783641311278 |
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