Besondere Tage (eBook)
384 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3450-6 (ISBN)
Ein berührendes, erregendes Buch, das uns spüren lässt, was es heißt, lebendig zu sein.
»Specimen Days«, »Besondere Tage« nannte Walt Whitman seine Sammlung autobiographischer Texte. Ihr Herzstück sind seine Erlebnisse während des Amerikanischen Bürgerkriegs. Drei Jahre lang zieht Whitman durch die Lazarette Washingtons, lauscht den Erzählungen der Verwundeten, ihren Hoffnungen und Ängsten, und gibt seelischen Zuspruch - ein erschütterndes Zeugnis jener Seite des Krieges, die nicht in die Geschichtsbücher Eingang findet. Dazu gesellen sich Erinnerungen an die Kindheit und Naturbeschreibungen. Der Duft von Heu, das sanfte Gebrumm der Hummeln, die Luftsprünge der Schwalben, die letzten Strahlen der untergehenden Sonne über dem Teich: eine Quelle des Friedens und des Glücks, worin die menschliche Existenz eingebettet erscheint.
Walt Whitman wurde am 31. Mai 1819 auf Long Island, New York, geboren und wuchs in Brooklyn auf. Er arbeitete als Dorfschullehrer, Zimmermann, Schriftsetzer, Drucker, Journalist, Sekretär im Innenministerium und als freiwilliger Lazaretthelfer während des Sezessionskriegs. Mit seiner bahnbrechenden Gedichtsammlung »Leaves of Grass« gilt Whitman als der Begründer der modernen amerikanischen Dichtung. Er starb am 26. März 1892 in Camden, New Jersey, wo er, gezeichnet von Krankheit, die letzten beiden Dekaden seines Lebens verbrachte.
Gebot einer glücklichen Stunde
Im Walde, 2. Juli 1882
Wenn ich es jemals tun will, dann darf ich nicht länger zögern. Zusammenhanglos und voller Lücken und Sprünge, wie dieses Sammelsurium von Tagebuchaufzeichnungen, Kriegserinnerungen aus den Jahren 1862 bis ’65, Naturbetrachtungen von 1877 bis ’81 und späteren Beobachtungen im Westen und in Kanada auch ist, alles zusammengerollt und mit einem dicken Strick verschnürt, so überkommt mich an diesem Tag, zu dieser Stunde – (Und was für ein Tag! Was für eine Stunde, die soeben vergeht! Die Pracht lächelnden Grases und einer lauen Brise mit all der Herrlichkeit von Sonne und Himmel und angenehmer Temperatur – all das erfüllt meinen Körper und meine Seele wie niemals zuvor.) – so überkommt mich der Entschluss, ja der Auftrag, nach Hause zu eilen, das Bündel aufzuschnüren und die Tagebuchfragmente und anderen Notizen, so wie sie sind, länger oder kürzer, eine nach der anderen in Druck zu geben1, ohne auf die Mängel dieser Sammlung und den oft fehlenden Zusammenhang zu achten. Auf jeden Fall wird es eine Phase der Menschheit illustrieren. Wie wenige Tage und Stunden des Lebens (und auch diese nicht aufgrund ihres relativen Wertes oder ihrer Größe, sondern durch Zufall) werden doch jemals aufgezeichnet. Ein Grund mag auch sein, dass wir eine Sache lange vorbereiten, sie planen, ergründen, gestalten, und dann, wenn die tatsächliche Stunde der Ausführung kommt, noch immer ziemlich unvorbereitet sind und das Ganze zusammenstückeln und damit Hast und Unfertiges die Geschichte besser erzählen lassen als vortreffliche Arbeit. Auf jeden Fall gehorche ich dem Gebot meiner glücklichen Stunde, das mir so merkwürdig zwingend zu sein scheint. Vielleicht werde ich, wenn ich nichts anderes zustande bringe, das eigenwilligste, ursprünglichste, bruchstückhafteste Buch veröffentlichen, das jemals gedruckt wurde.
Antwort an einen drängenden Freund
Du fragst nach Dingen, Einzelheiten meines frühen Lebens – nach Abstammung und Herkunft, besonders nach den Frauen in meiner Ahnenreihe und nach dem weit zurückliegenden niederländischen Stamm mütterlicherseits – nach der Gegend, in der ich geboren wurde und aufwuchs, und mein Vater und meine Mutter vor mir und deren Eltern vor ihnen – mit einem Wort, nach Brooklyn und New York und den Zeiten, die ich als Junge und junger Mann dort lebte. Du sagst, in der Hauptsache möchtest du diese Dinge wegen der Vorgeschichte und Ursprünge von Leaves of Grass erfahren. Also – wenigstens ein paar Proben von allem sollst du haben. Oft habe ich über die Bedeutung solcher Dinge nachgedacht – daran, dass man Dinge dieser Art nur anreißen und vervollständigen kann, indem man unmittelbar selbst zurückforscht, vielleicht weit zurück, hinein in ihre Ursprünge, ihre Vergangenheit und ihre Entwicklungsstadien. Dann war ich kürzlich, wie es das Schicksal so wollte, eine Woche lang krank und musste im Bett bleiben und vertrieb mir die Langeweile damit, dass ich eben diese Einzelheiten für einen anderen (jedoch unerfüllten, wahrscheinlich nun nichtigen) Zweck zusammentrug. Und wenn du dich damit zufriedengeben willst, wie sie sind, authentisch in den Daten, einfach in den Fakten und auf meine Art, geschwätzig, erzählt – hier sind sie! Ich werde nicht zögern, Auszüge zu machen, denn ich greife nach allem, was mir Arbeit erspart; und das werden die besten Versionen dessen sein, was ich mitteilen möchte.
Genealogie – Van Velsor und Whitman
In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts lebte die Familie Van Velsor, die Familie meiner Mutter also, auf ihrer eigenen Farm in Cold Spring, Long Island, New York State, nahe dem östlichen Zipfel von Queens County, etwa eine Meile vom Hafen entfernt.2 Meines Vaters Familie – vermutlich die fünfte Generation nach den ersten englischen Ankömmlingen in Neuengland – waren zur gleichen Zeit Farmer auf eigenem Grund und Boden (und es war ein schönes Gut, fünfhundert Acres, alles gutes Land, nach Osten und Süden hin sanft abfallend, ein Zehntel davon Wald, gewaltige alte Bäume in Hülle und Fülle), zwei, drei Meilen entfernt, in West Hills, Suffolk County. Der Name Whitman in den östlichen Staaten und somit auch im Süden geht zweifellos auf einen John Whitman zurück, der 1602 in Old England geboren wurde, wo er auch aufwuchs, heiratete und 1629 sein ältester Sohn geboren wurde. 1640 kam er mit der True Love nach Amerika und lebte in Weymouth, Massachusetts, einem Ort, der zum Stammsitz der Neuengländer dieses Namens wurde; er starb 1692. Sein Bruder, Rev. Zechariah Whitman, kam entweder zur gleichen Zeit oder kurz danach ebenfalls mit der True Love herüber und lebte in Milford, Connecticut. Ein Sohn dieses Zechariah, mit Namen Joseph, übersiedelte nach Huntington, Long Island, und ließ sich hier für immer nieder. Laut Savages Genealogical Dictionary (Band IV, Seite 524) hat sich die Familie Whitman vor 1664 in Huntington niedergelassen, durch eben diesen Joseph. Es ist ziemlich sicher, dass von diesem Ausgangspunkt aus und von Joseph die West-Hills-Whitmans und alle anderen in Suffolk, darunter ich, hervorgegangen sind. Sowohl John als auch Zechariah fuhren etliche Male nach England zurück; sie hatten große Familien, und einige ihrer Kinder kamen in der alten Heimat zur Welt. Von Johns und Zechariahs Vater, Abijah Whitman, der bis in die 1500er Jahre zurückreicht, haben wir zwar gehört, wir wissen aber wenig über ihn, außer dass auch er einige Zeit in Amerika war.
Diese Reminiszenzen über meine Herkunft werden in mir lebendig durch einen Besuch, den ich kürzlich (in meinem 63. Lebensjahr) West Hills und den Ruhestätten meiner Vorfahren beider Seiten abgestattet habe. Hier sind Auszüge aus den Notizen von jenem Besuch, dort und damals festgehalten:
Die alten Friedhöfe der Familien Whitman und Van Velsor
29. Juli 1881
Nach einer Abwesenheit von mehr als vierzig Jahren (außer einem kurzen Besuch, um meinen Vater zwei Jahre vor seinem Tod noch einmal dorthin zu bringen) unternahm ich einen einwöchigen Ausflug nach Long Island, zu dem Ort, wo ich geboren wurde, dreißig Meilen von New York City entfernt. Fuhr zu den altvertrauten Plätzen; und wie ich so schaute und nachsann, wurde alles wieder lebendig. Begab mich zu der alten, höher gelegenen Whitman-Heimstatt und schaute ostwärts über das weite, herrliche nach Süden sich neigende Farmland meines Großvaters (1780) und meines Vaters. Da war das neue Haus (1810), die große Eiche, hundertfünfzig bis zweihundert Jahre alt; da der Brunnen, der abfallende Gemüsegarten, und ein kleines Stück entfernt stehen sogar noch die wohlerhaltenen Überbleibsel der Wohnung meines Urgroßvaters (1750–60) mit ihren mächtigen Balken und niedrigen Decken. Ganz in der Nähe ein stattliches Wäldchen hoher, kräftiger Schwarznussbäume, herrlich und schön wie Apoll, zweifellos die Söhne oder Enkel der Schwarzwalnussbäume von 1776 oder davor. Auf der anderen Seite der Straße erstreckte sich der Apfelgarten, über zwanzig Acres groß. Die Bäume, gepflanzt von Händen, die längst im Grabe modern (denen meines Onkels Jesse); ziemlich viele davon aber augenscheinlich noch fähig, alljährlich ihre Blüten und Früchte hervorzubringen.
Ich schreibe diese Zeilen jetzt, während ich auf einem alten Grab sitze (inzwischen zweifellos hundert Jahre alt), auf der Ruhestätte der Whitmans vieler Generationen. Fünfzig oder mehr Gräber sind noch deutlich zu erkennen und nochmal so viele völlig verfallen – niedergedrückte Grabhügel, umgestürzte und zerbrochene Steine, mit Moos bewachsen – die düstere...
Erscheint lt. Verlag | 17.4.2024 |
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Reihe/Serie | Die Andere Bibliothek | Die Andere Bibliothek |
Mitarbeit |
Designer: Katrin Schacke |
Nachwort | Rainer Wieland |
Übersetzer | Götz Burghardt |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Specimen Days & Collect |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Amerikanischer Bürgerkrieg • Autobiographisch • Essays • Geflochtenes Süßgras • Geschichte der USA • Glücksmomente • Kindheitserinnerungen • Klassiker • Leaves of Grass • LGBTQ • Nature writing • Rainer Wieland • Reiseerinnerungen • Reiseessays • SPECIMEN DAYS • Spiritualität • Tagebuch • Thoreau • Walt Whitman |
ISBN-10 | 3-8412-3450-X / 384123450X |
ISBN-13 | 978-3-8412-3450-6 / 9783841234506 |
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