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Die Urne im See (eBook)

Ein Bodensee-Krimi
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
432 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70485-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Urne im See -  Jürgen Seidler
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Ein Mann schwimmt durch den Untersee. In seinem Rucksack: die Urne mit der Asche seines Sohnes. Wenig später wird am Ufer seine Leiche gefunden ... Nachdem Polizeioberkommissarin Emma Zäringer bei ihrem letzten Einsatz für die Kriminalpolizei Konstanz im Alleingang zwei Mafiosi verfolgt und einen erschossen hat, wurde ihr nahegelegt, sich in den Kriminaldauerdienst nach Singen versetzen zu lassen: Schichtdienst, Spuren sichern, Berichte schreiben. Kurzerhand zieht sie zurück in ihr Elternhaus - und wird noch vor offiziellem Dienstbeginn zu ihrem ersten Einsatz gerufen. Denn die Kollegen vor Ort wissen, dass Emma den Toten am Seeufer kennt: Volker Schwendner war nicht nur umstrittener Chefredakteur der Bodenseezeitung, sondern auch Emmas Jugendliebe. Sein Sohn hat sich vor wenigen Wochen das Leben genommen, das Verhältnis zu Frau und Tochter ist angespannt. Wenige Tage später wird Paula Bajorath, Redaktionsassistentin derselben Zeitung und Affäre von Schwendner, tot aufgefunden. Mussten die Journalisten sterben, weil sie etwas herausgefunden hatten, was im Verborgenen bleiben sollte? Emma Zäringer taucht tiefer in ihre Vergangenheit ein, als ihr lieb ist.

Jürgen Seidler studierte politische Wissenschaften in Freiburg und Berlin. An der Schauspielakademie in Zürich wurde er zum Theaterregisseur ausgebildet. Heute schreibt er Drehbücher für Filme und Serien, arbeitet als Dramaturg und ist Dozent an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. In den vergangenen Jahren hat er in Ost- und Westafrika junge Filmemacher*innen ausgebildet und mit ihnen an ihren Projekten gearbeitet. Jürgen Seidler lebt mit seiner Familie in Berlin.

Jürgen Seidler studierte politische Wissenschaften in Freiburg und Berlin. An der Schauspielakademie in Zürich wurde er zum Theaterregisseur ausgebildet. Heute schreibt er Drehbücher für Filme und Serien, arbeitet als Dramaturg und ist Dozent an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. In den vergangenen Jahren hat er in Ost- und Westafrika junge Filmemacher*innen ausgebildet und mit ihnen an ihren Projekten gearbeitet. Jürgen Seidler lebt mit seiner Familie in Berlin.

Mittwoch


Emma Zäringer bückt sich und hebt die Blätter der Erdbeeren an, aber die Früchte sind noch grün. Die Reihen der Pflanzen ziehen sich über die schwarze Erde. In einigen Wochen werden sich wieder Helfer in ihren kleinen Wagen, auf denen grüne Sonnendächer aufgebaut sind, tief bücken, die roten, süßen Früchte pflücken und in Schalen aus Pappe legen. Frisch vom Feld. Es sieht aus, als ob es in diesem Jahr eine gute Ernte wird.

Sie richtet sich auf und blickt über die Felder und über die Gewächshäuser ihres Vaters. Der Obst- und Gemüsehof Zäringer steht auf einer Anhöhe, Südlage. Unten verläuft die Hauptstraße, dann kommen weitere Pflanzungen, vor allem Apfelbäume, wenige Häuser, schließlich der See und auf der gegenüberliegenden Seite das Schweizer Ufer, mit einem sanften Landrücken wie hier. Als sie einmal in Berlin bei einer Freundin eingeladen war, die in einem fünfzehngeschossigen Hochhaus lebt, konnte man auf eine achtspurige Straße hinabschauen und auf der anderen Straßenseite eine weitere Ansammlung von Häusern in unterschiedlicher Höhe sehen. Sie standen nur etwas näher als die Schweizer Seite des Sees. Wie der Rhein, der durch den Untersee fließt, strömen Tag und Nacht die Autos über die Straße, und wie hier auch wechseln die Jahreszeiten von hell zu grau. Sie fand das damals faszinierender als die sanfte grüne Landschaft, in der sie aufgewachsen war. Die Härte der Stadt sprach sie an, weil sie zu den Kriminalfällen passte, mit denen sie täglich zu tun hatte. Die heitere Landschaft hier bezeichnet man als schön, ideal für Aquarelle. Das Obst schmeckt saftig und würzig, die Luft ist gut, aber das eigentliche Leben passt nicht immer dazu. Auch hier gibt es Tote, Morde, Einbrüche, Schießereien, Vergewaltigungen, Hunger, Vertreibung, auch hier war einst der Krieg nicht weit.

Emma stemmt die Hände in ihre Hüften, wie eine Bäuerin, die noch viel vor sich hat. Sie ist schlank, trägt weite Jeans, ein ausgewaschenes T-Shirt, die Füße stecken in Gummistiefeln, ihre schwarzen, lockigen Haare sind hinter dem Hinterkopf zusammengehalten. Sie hat die dunklen Augenbrauen und Wimpern über den großen braunen Augen heute nicht geschminkt. Das macht sie nur, wenn sie Dienst hat. Drüben werden von den Spargelfeldern die dunklen Plastikplanen abgewickelt. Sie sieht Bernhard, ihren Vater, wie er ein paar junge Männer anweist, die ihm zur Hand gehen. In den nächsten Tagen werden sie sich Handschuhe überziehen, die Erde um die hellen Stangen freilegen, die Eisen in die Erde schieben und den Spargel stechen. Ihr Vater hat ihr gesagt, dass er sich freut, weil sie ihre letzten Tage, an denen sie noch von ihrem Dienst freigestellt ist, bei ihm auf der Höri verbringt, der Halbinsel im Bodensee zwischen Radolfzell und Stein am Rhein, dem Grenzort in der Schweiz. Aber er muss, wie immer, jeden Tag hart arbeiten. Jedes Mal bietet sie ihm ihre Hilfe an, aber sie ist für ihn nur eine Handlangerin, keine Gemüsebäuerin. Sie geht zurück zur Halle, in der sich Kisten mit erdigem Gemüse stapeln. Er hat sie gebeten, den frischen Spinat zu waschen. Sie zieht sich die Gummischürze an, nimmt den Schlauch, steckt den Sprühkopf auf und beginnt mit der Arbeit. Das kräftige dunkle Grün leuchtet, die Blätter verbreiten einen intensiven Geruch. Ihr Geruchssinn hat sich spürbar verbessert, nachdem er nach einer Corona-Erkrankung nur langsam wieder zurückkam. Manchmal fühlt sie sich wie ein junger Hund, der die Welt mit der Nase erlebt.

Die Handarbeit tut ihr gut. Inzwischen kommt sie gerne zurück auf den Gemüsehof ihres Vaters. Sie genießt es, abends mit ihm draußen zu sitzen, wenn es Brot, Käse, Wurst und Bier gibt und sie zusammen über den See schauen.

Bei ihm muss sie sich nicht erklären, sie kann einfach bei ihm sein, die einfachen Dinge tun, ein wenig mithelfen, Brot schneiden, Teller abspülen. Manchmal kauft sie ein und kocht etwas. Seit ihre Mutter Klara vor zehn Jahren gestorben ist, sagt sie Bernhard zu ihm.

Sie hatten ihr, als sie zwölf Jahre alt war, gesagt, sie wären nicht ihre leiblichen Eltern. Ihre Mutter sei eine Frau, die in Italien lebe, und ihr Vater ein Mann in Deutschland. Diejenigen, zu denen sie »Mutti« und »Papi« sagte, würden Adoptiveltern heißen und sie Adoptivtochter. Sie haben damals versucht, sehr offen mit ihr zu sprechen, obwohl es sich sehr umständlich und schwierig anhörte, was sie zu sagen hatten. Aber das war es vermutlich auch für sie. Sie berichteten von der Arbeiterin aus Italien, die schwanger war, aber nicht mit einem Kind nach Hause kommen durfte, die Klara und Bernhard bat, die Emma zu adoptieren. Wo der Vater steckte, wussten weder ihre Adoptiveltern noch die Frau aus Italien.

Kurz vor ihrem Tod beschwor Klara sie, nach Italien zu fahren und die Frau, ihre leibliche Mutter, zu besuchen. Ein paar Monate nach der Beerdigung hatte sie sich dann aufgemacht und war nach Neapel gereist.

 

Bernhard fragte nicht, wie es auf der Reichenau war, in der psychiatrischen Klinik, gegenüber der Bodenseeinsel, wo sie zeitweise eine Therapie durchstehen musste. Zwangsweise, auf Anordnung des Polizeipräsidenten in Konstanz. Weil sie zwei italienische Mafiatypen von Konstanz bis Stuttgart verfolgt hatte, auf der Autobahn, mit hundertachtzig bis in die Stuttgarter Innenstadt, wo es dann eine Schießerei gab. Bis endlich das SEK auftauchte, hatte sie den einen der Männer erschossen, den anderen verletzt und verhaftet. Sie konnte nicht ahnen, dass es so ausgehen würde. Der schöne Antonio, der für einige Nächte ihr Liebhaber gewesen war, hatte das Feuer auf sie eröffnet, und sie hatte zurückgeschossen. Es war nie eine wirkliche Liebe zwischen ihnen, nur dieser erotische Reiz, ein Drängen und ein tiefes Verlangen. Wenn sie sich von seinem Körper löste, zog sie sich einfach an, nahm ihre Tasche und ging wieder. Da war kein Zögern bei ihr, die Pistole lag ohne Zittern in ihrer Hand. Vermutlich dachten die beiden Männer, sie würde sich aus Angst vor ihren Waffen verstecken. Eigentlich hätte Antonio es besser wissen müssen. Sie fürchtete sich nicht, sie war keine Frau, die Angst hatte. Sie stellte sich den Kämpfen, die auf sie zukamen. Meistens trug sie ihre Wut in eine Auseinandersetzung, aber schnell kam der klare Kopf zurück und sie handelte. Luigi, der andere, sitzt im Knast. Die Ballistik ergab, dass sie von den beiden Männern angegriffen worden war und sie zu Recht zurückgeschossen hatte, um sich zu verteidigen. Aber es würde ein Gerichtsverfahren geben, vermutlich würden Antonios Angehörige aus Süditalien anreisen. Davor fürchtet sie sich am meisten. Sie würde bald seiner schwarz gekleideten Mutter begegnen, die sie dann verfluchen wird.

 

Sie hatte es geliebt, bei den beiden Pizza und Spaghetti zu essen, bis sie aufflogen, weil sie für die kalabrische ’Ndrangheta Drogengeld wuschen, wie schon so viele andere italienische Restaurants zwischen Konstanz und Singen. Als sie anrückten und sie verhaften wollten, den netten Luigi und den gut aussehenden Antonio, die eigentlich gar nicht wirklich so hießen, machten die beiden auf einmal einen auf Gangster, sprangen in ihren SUV und jagten davon. Nicht mit ihr. Sie ärgerte sich maßlos, fühlte sich von den Typen verarscht und setzte ihnen nach. Ohne Sören, ihren Ex und Vorgesetzten, den sie einfach neben dem Polizeiwagen stehen ließ. Ja, sie sah ein, sie hatte emotional reagiert, nicht nach Vorschrift gehandelt, sie hatte sich und andere gefährdet. Aber für die Polizei war es trotzdem ein Erfolg. Es konnte gezeigt werden, wie gefährlich die italienische Mafia war, die sich seit zwanzig Jahren in den netten italienischen Lokalen an der Grenze zur Schweiz festgesetzt hatte. Die Schießerei, von der groß berichtet wurde, lenkte davon ab, dass die Ermittler all die Jahre schlichtweg geschlafen hatten und die Mafia ihnen allen bis heute auf der Nase herumtanzte.

Ihr war klar geworden, welche Wut in ihr steckte, als sie den beiden nachjagte, die Waffe zog und zurückschoss. Da gab es keinen Zweifel in ihr. Die Therapeutin, mit der sie sprechen musste, stellte ihr alle möglichen Fragen zu ihren Beziehungen, zu ihren Eltern, die nicht ihre Eltern waren. Emma antwortete ehrlich zerknirscht. Aber es blitzte der Gedanke an ihre leibliche italienische Mutter auf. Es war mehr eine Ahnung, eine Frage, die sie sich in ihrem Leben bisher nicht gestellt hatte. Was wäre aus ihr geworden, wenn sie in Neapel aufgewachsen wäre? Auf welcher Seite hätte sie gestanden? Wäre sie auch Polizistin geworden oder eine reiche Gangsterbraut? Hatte sie vielleicht deswegen wie eine Wahnsinnige gehandelt und die beiden Männer verfolgt? Sie würde sich in den Griff kriegen. Die Therapeutin hatte ihr versprochen, eine gute Prognose zu schreiben.

Ihre Chefs schlugen ihr vor, sich freiwillig in den Kriminaldauerdienst nach Singen versetzen zu lassen. Der Schichtdienst und die tägliche Spurensicherung, meistens bei Einbrüchen und ungeklärten Todesfällen, sollten sie disziplinieren. Sie hatte zugestimmt, benommen und in einem Anflug von Reue, die ungefähr dreißig Minuten anhielt.

Bernhard fragte sie, ob sie schon eine Wohnung in Singen gefunden hatte. Sie verneinte, noch nicht, sie werde sich darum kümmern, aber eigentlich wollte sie auch weiterhin in Konstanz wohnen. Er bot ihr an, vorübergehend in ihr altes Zimmer zu ziehen. Sie bedankte sich, wollte es sich überlegen. Die Strecke von hier nach Singen ist tatsächlich kürzer als von Konstanz, von wo aus sie fünfundfünfzig Minuten brauchen würde.

 

Sie geht in die Küche, das Kaffeepulver duftet. Es erinnert sie an ihre Adoptivmutter, an Klara, die jeden Morgen als...

Erscheint lt. Verlag 22.2.2024
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Bodensee • Konstanz • Krimi • Mord • Polizei • Sohn • Suspendierung • Vater
ISBN-10 3-311-70485-1 / 3311704851
ISBN-13 978-3-311-70485-0 / 9783311704850
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