Waldesdunkel (eBook)
288 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60711-7 (ISBN)
Christoph Stoll stammt aus einem mehrere Jahrhunderte alten nassauischen Förstergeschlecht. Er wuchs in einem Forsthaus im Taunus auf. Statt Tiere zu jagen, entschied er sich für ein Musik- und Germanistikstudium. Zunächst arbeitete er als Autor und Musikredakteur für mehrere Radiosender bevor er in die TV-Welt wechselte. Er war viele Jahre international für das ZDF tätig und wohnt jetzt wieder in einem Forsthaus, jetzt an der Lahn.
Christoph Stoll stammt aus einem mehrere Jahrhunderte alten nassauischen Förstergeschlecht. Er wuchs in einem Forsthaus im Taunus auf. Statt Tiere zu jagen, entschied er sich für ein Musik- und Germanistikstudium. Zunächst arbeitete er als Autor und Musikredakteur für mehrere Radiosender bevor er in die TV-Welt wechselte. Er war viele Jahre international für das ZDF tätig und wohnt jetzt wieder in einem Forsthaus, jetzt an der Lahn.
Kapitel 8
Die Zeit im Forsthaus tut ihm gut. Besonders im Sommer. Es jeden Tag zu sehen – die roten Holzläden, das schiefergedeckte Dach mit den drei Gauben, die sich den Blick ins Lahntal erkämpft haben, und all die Stauden und Blumen, die es versuchen einzurahmen –, das sind für Justus trotz der Alltäglichkeit kostbare Augenblicke, und sie stoßen immer wieder Erinnerungen an. Dieses Jahr blühen die Rosen im hinteren Beet besonders schön. Alle! Das war nicht immer so. Diese Rosen wurden von Justusʼ Mutter liebevoll gehegt. Vielleicht, weil es die einzigen Blumen waren, die nicht aus dem Wald kamen und somit städtisches Flair mit sich brachten. Als Justus neun Jahre alt war, gab es in den Sommerferien ein besonderes Erlebnis, das sich auch auf die Rosen seiner Mutter auswirken sollte. An einem heißen Sonntag klingelte es am Nachmittag an der Forsthaustür. Das kam häufiger vor. Manchmal wurde schlicht nach dem Weg gefragt, oder ein Körbchen voller Pilze wurde Justusʼ Vater entgegengestreckt mit der Bitte, zu entscheiden, was davon essbar und was giftig sei. Hier wurden dann schon mal Leben gerettet.
Als Justus jetzt öffnete, sah er sich einer Familie gegenüber. Der Vater trug ein Baby im Arm, an der freien Hand ein Mädchen ungefähr in Justusʼ Alter. Dahinter die Mutter mit einem Kinderwagen auf hohen, schmalen Speichenrädern. Sie wünschten, den Förster zu sprechen. Als Justusʼ Vater kam, war seine Überraschung mehr als groß, als er gebeten wurde, einen Blick in den Kinderwagen zu werfen. Darin lag weiß gepunktet ein Kitz. Die Familie erklärte voller Stolz, dass es ganz alleine auf einer Wiese unter einem Baum gelegen habe und bestimmt von seiner Mutter verlassen worden sei. Das arme Bambi! Deshalb hätten sie es gerettet und brächten es zum Forsthaus. Förster Hauer schluckte seinen ersten Ärger, unbemerkt von der Familie, herunter und erklärte dann mit ruhiger Stimme, dass Kitze häufig alleine lägen. Das sei eine Vorsichtsmaßnahme der Natur, damit sie nicht die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und diene somit dem Schutz der kleinen Kitze. Im Gegenzug blieben die Kitze, so ziemlich egal, was passiert und welche Bedrohung gerade heraufzieht, regungslos liegen und fiepten nur manchmal, um ihrer Mutter ihren Standort zu signalisieren. Gerade wenn sie noch sehr klein sind, ist dieses Rufen kaum vom kehligen Schrei eines Vogels zu unterscheiden.
Ein Zurückbringen des Kitzes schied aus, denn nach so vielen menschlichen Kontakten würde die Mutter es nicht mehr annehmen. Die nächsten Wochen waren daraufhin mit der Pflege des Neuzugangs mit den staksigen Beinen ausgefüllt. Hier mussten alle drei Hauer-Kinder mithelfen, teilweise im Stundentakt. Nach einer feierlichen Taufe auf den Namen Else wurde ein Stück Wiese am Waldrand mithilfe der Waldarbeiter eingezäunt, um für einen sicheren Auslauf zu sorgen. Im nächsten Frühjahr konnte es dann in die Freiheit des Hauer’schen Reviers entlassen werden. Aus Dankbarkeit kam Else allerdings häufiger wieder, am liebsten, wenn die Rosen feine Knospen ausgetrieben hatten. Die, und nur die, wurden alle ganz schnell weggesnackt, zum großen Ärger von Justusʼ Mutter.
Immer wenn er sich das Forsthaus ohne seine Mutter vorstellt, beginnen seine Gedanken zu schlingern.
Was würde es bedeuten, wenn das hier alles aufgegeben werden müsste? Die Geschwister in weiter Ferne, die Mutter im Pflegeheim und er dann nur noch in Frankfurt?
So viele Probleme am Morgen auf einmal im Haus bedenken, das kann Justus nicht. Zu viele Wände. Er streift sich seine dunkelgrüne Wachstuchjacke über; es ist genau die Jacke, bei der George II. weiß, dass er mit von der Partie ist. Kluges Tier. Ein kurzer Kontrollblick ins Wohnzimmer. Charlotte Hauer macht einen kleinen Schlummer im Sessel. Warum sollte er sie jetzt wecken?
Er muss hinaus in den Wald. Da hat er etwas Abstand, und das freie Denken sollte ihm vielleicht besser gelingen. Der Weg ist anfangs auf beiden Seiten von Farn begrenzt. Justus fällt ein, dass es vor Millionen Jahren Wälder gab, die aus Farnen bestanden, die so groß waren wie Bäume. Da hätte er jetzt ausgesehen wie der kleine Junge im schwedischen Kinderbuch Hänschen im Blaubeerenwald. Wie von einem inneren Kompass geleitet, läuft er zur Mondwiese. Die Wiese ist leicht abschüssig, und die nächsten Buchen sind vielleicht hundert Meter entfernt. Deshalb steht nichts einem weiten Blick entgegen. Schon als Kind war ein Felsblock auf der Wiese sein Ziel. In seinem Schutz ließ es sich prächtig sitzen und stundenlang einfach nur schauen, horchen und riechen, was die von Bäumen eingefasste Wiesenwelt zu bieten hatte. Ab und zu verirrte sich auch einmal ein Gedanke in diesen besonderen Zustand, aber das kam nicht häufig vor. Vielleicht so häufig, wie sich ein interessiertes Insekt in sein Hosenbein verlief. Einmal sah er neben dem Felsblock – gut, es waren schon zwei Meter Entfernung – sogar eine Kreuzotter, also in der Erlebniswelt eines Kindes: echte Lebensgefahr!
Doch jetzt ist die Mondwiese nur eine grüne Kulisse für graue innere Planspiele. Mutter muss ins Pflegeheim, aber warum kann er nicht das Forsthaus halten? Klar, seine Lehrerstelle (Studienrat!) in Frankfurt spricht dagegen. Doch wenn es für ihn eine andere Möglichkeit gäbe, eine Möglichkeit hier vor Ort?
Die Wohnsituation ist nach der Scheidung auch nicht gerade super. Die Fünf-Zimmer-Altbauwohnung in Frankfurt war da für ihn alleine nicht mehr bezahlbar.
Benisha Kumari, die indische Leiterin einer Frankfurter Privatschule, die er von einer Vortragsreihe zum Thema »Was kann die Schule bei der Berufswahl leisten?« kannte, hatte dann glücklicherweise eine praktische Zweieinhalb-Zimmer-Einliegerwohnung in ihrem Haus frei. Keine Inserate, keine Telefonate, keine Vorstellungstermine, das passte gut für Justus. Zusammen mit ihrer Lebenspartnerin teilt sie sich das Haus, das Geldverdienen, die Hausarbeit und das Austragen der gemeinsamen Kinder. Sehr überzeugend, findet Justus, auch wenn es erst einmal neu für jemanden war, der in Lahnberg groß geworden ist.
Es ist nicht mehr wegzudiskutieren, dass vielleicht nicht nur seine Mutter das Problem ist. Er hängt da mit dran. Justus löst nicht gerne Probleme, was nicht damit zu verwechseln ist, dass er Lösungen voller Energie und Tatkraft umsetzen kann. Nur das, was davor steht, das ist nicht so hundertprozentig seins.
Die Gedanken beginnen zu treiben, und so beschließt Justus, wieder Grund unter die Füße zu bekommen und nach Hause zu gehen. Unverrichteter Gedanken. Ein kurzer Pfiff. George II. kommt sogar.
Aus purer Nostalgie macht er noch einen kleinen Schlenker, der ihn am alten Waldarbeiterwagen vorbeiführen soll. Dazu biegt er auf einen zum größten Teil zugewachsenen Weg ab. Was für ein Erlebnis, wenn er als Kind im Winter dort im Wagen vor dem Kanonenofen saß und die Waldarbeiter, die Mittagspause vom Holzfällen machten, ihm aus dem heißen Topf mit einem verbogenen Suppenlöffel Linsensuppe in seinen Blechteller schöpften.
Merkwürdig: Der Wagen sieht aus wie immer, aber irgendetwas scheint doch verändert zu sein. Sein Blick streift über den Wagen, der wie ein kleiner Bauwagen auf Ferien aussieht. Nur eben grün gestrichen. Ansonsten versuchen zwei größere Räder und ein kleineres Rad unter der Anhängervorrichtung, dem Gefährt schon seit längerer Zeit Halt zu geben. Die Räder sind dabei über die Jahre tief im Boden eingesunken.
Sieht eigentlich aus wie immer, oder täuscht er sich da? Justus beschließt, einmal wiederzukommen und sich den schon seit ewigen Zeiten nicht mehr genutzten Wagen von innen anzuschauen.
Als er den seit Jahren nicht mehr forstlich genutzten Weg zurückgeht, bemerkt er einen Lichtpunkt, der durch die Spiegelung eines Sonnenstrahls hervorgerufen wird. Er sucht nach der Lichtquelle und findet sie in ungefähr vier Metern Höhe am Stamm einer Birke, die an der Abbiegung zum Wanderweg steht. Es ist, und da ist er sich sofort sicher, die Linse einer Wildkamera. Als er näher zur Birke kommt, bemerkt er, dass er richtiggelegen hat, denn die Kamera ist aufgrund der Tarnfarbe so gut wie nicht zu sehen, dafür aber die Befestigung mittels der um den Baumstamm geschwungenen Nylonbänder. Der alte Hightech-Jäger Flachau, denkt Justus. So etwas mag er nicht. In seinen Augen ist das ein unlauterer Wettbewerb gegenüber den Tieren im Wald. Wo bleibt denn da die Chancengleichheit?
...Erscheint lt. Verlag | 3.5.2024 |
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Reihe/Serie | Forsthauskrimis | Forsthauskrimis |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | aktuelle Bücher • aktuelle Krimis • Auftakt Reihe • Bücher Wald • Cosy Crime • Cosy Krimi • Deutscher Krimi • Deutscher Kriminalroman • Erholungsraum Wald • Förster • Hessenkrimi • Jagd • Kriminal-Bücher • Kriminal-Romane • Krimi Novität 2024 • Krimireihe • Krimi-Serie • Krimi Taschenbuch deutsch • Lahntal • Regiokrimi-Reihe • Richard Osman • Taschenbücher 2024 |
ISBN-10 | 3-492-60711-X / 349260711X |
ISBN-13 | 978-3-492-60711-7 / 9783492607117 |
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