Die Morde von Salisbury (eBook)
Es ist ein unerträglich heißer Sommer in der Grafschaft Wiltshire im Südwesten Englands. In einem ausgetrockneten Flussbett wird die Leiche des vor Jahren verschwundenen Lee Geary gefunden. Sein Schicksal war 2011 eng mit dem Fall der zwanzigjährigen Holly Gilbert verflochten, die damals von einer Brücke stürzte. Ihr Tod war ein Medienmagnet, die Leute wollten Gerechtigkeit für Holly, sie wollten einen Schuldigen. Rasch wurden drei Verdächtige festgenommen, und Geary war einer davon. Alle drei starben damals innerhalb weniger Monate nach Holly. In der sengenden Hitze versuchen Inspector Matthew Lockyer und Constable Gemma Broad einen kühlen Kopf zu bewahren und die Fäden der Cold Cases zu entwirren. Dabei graben sie alte Geheimnisse aus, die viele lieber unentdeckt gelassen hätten.
Katherine Webb, geboren 1977, wuchs im englischen Hampshire auf und studierte Geschichte an der Durham University. Später arbeitete sie mehrere Jahre als Wirtschafterin auf herrschaftlichen Anwesen. Auf ihr großes internationales Erfolgsdebüt »Das geheime Vermächtnis« folgten zahlreiche weitere SPIEGEL-Bestseller-Romane. Nach längeren Aufenthalten in London und Venedig lebt und schreibt sie heute in der Nähe von Bath, England.
1
TAG EINS, MONTAG
Das Hemd von Detective Inspector Matt Lockyer war am Rücken völlig durchgeschwitzt. Neben ihm stand DC Gemma Broad und fächerte sich mit einer Akte Luft zu. Es war halb zehn morgens und wurde von Minute zu Minute wärmer, nachdem sie zu dem abgelegenen Fundort auf der Salisbury Plain hinaufgestiegen waren.
Sie waren auf drei Seiten von steilen Böschungen umgeben, die ein kleines Tal bildeten. Im Februar – einem der feuchtesten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen – war das Tal überschwemmt worden. Die Wassermassen der sintflutartigen Regenfälle, die von den durchtränkten Hügeln herabgeströmt waren, hatten an einigen Stellen das Erdreich fortgespült. Dabei waren große Brocken Feuerstein, Trümmer von Kriegsgerät und die skelettierte Leiche eines Mannes freigelegt worden.
Hier draußen, kilometerweit entfernt von irgendeinem anderen Menschen, hatten Lockyer und Broad ihre Gesichtsmasken abgenommen, die sie eigentlich die ganze Zeit tragen mussten.
»Ungefähr hier?«, fragte Broad.
Sie stand neben einem knorrigen Weißdornbusch, um den herum das Erdreich weggeschwemmt worden war. Auf den regenreichen Februar war der sonnenreichste Mai seit Beginn der Aufzeichnun gen gefolgt, und jetzt, im Juli, befand sich ganz England fest im Griff einer Hitzewelle. Die Sonne hatte Broads blondes Haar ausgebleicht – die feinen Löckchen an ihren Schläfen waren jetzt fast weiß. Ihre Nase zierten unzählige Sommersprossen, und ihre Wangen waren gerötet.
Lockyer nickte. »An seiner Kleidung befanden sich Blätter und Beeren von einem Weißdornbusch. Offenbar stammen sie von diesem hier und sind zusammen mit ihm in der Erde gelandet.«
»Er kann nicht besonders tief vergraben gewesen sein.«
Direkt unter der dünnen Oberfläche verlief eine Kalksteinschicht, in die man nur mit einer Hacke und großem Kraftaufwand ein Loch graben konnte, aber nicht mit einem Spaten – schon gar nicht, wenn man in Eile war. Und überall auf der Salisbury Plain war der Boden ähnlich beschaffen.
Lockyer blätterte die Tatortfotos durch, bis er die Aufnahme vom Kopf der Leiche gefunden hatte. Sie zeigte den Schädel eines Mannes mit leeren Augenhöhlen und einem makabren Grinsen aus schiefen, bräunlich verfärbten Zähnen.
Vielleicht das Grinsen eines Mörders.
»Kalk ist sehr alkalisch«, sagte er. »In alkalischer Erde verwest eine Leiche bis zu dreimal langsamer als in saurem Boden. Laut Schätzung der Gerichtsmedizinerin lag der Mann hier seit mindestens fünf Jahren und höchstens, seit wann immer er zuletzt gesehen wurde.«
Am Kopf des Toten klebten ein paar Haarsträhnen und die ledrigen Überreste einer Nase sowie Kleider- und Hautfetzen. Sein Unterkiefer war nur noch durch einige Knorpelreste mit dem Schädel verbunden.
»Und zuletzt gesehen wurde er …« Broad blätterte mehrere Seiten des gehefteten Berichts um. »Am achtzehnten November 2011. Das heißt, er ist frühestens 2011 und spätestens vor fünf Jahren gestorben. Also 2015. Das ist ein Zeitraum von vier Jahren. Ich denke, das sollten wir berücksichtigen, statt einfach davon auszugehen, dass es 2011 passiert ist.«
Broad war präzise und konzentriert. Das war der große Fall, auf den sie gehofft hatte, ein Fall, dem ihre Kollegen von der Polizei in Wiltshire Beachtung schenken würden. Das MCIT – das Team für Kapitalverbrechen – hatte im März die Ermittlung aufgenommen, als ein Mountainbiker die Leiche gefunden hatte. Obwohl die verschiedenen Teams infolge der Pandemie räumlich voneinander getrennt arbeiteten, war Lockyer nicht verborgen geblieben, dass die Identifizierung der Leiche unter den Kollegen für große Aufregung gesorgt hatte. Und auch nicht, welche Bedeutung der Tatsache beigemessen wurde, dass man ausgerechnet diesen Mann, Lee Geary, an diesem Ort gefunden hatte.
Lockyer konnte sich an den Fall noch genau erinnern. Er hatte umgehend Detective Superintendent Considine aufgesucht und erklärt, dass man den Leichenfund als neuen Beweis in dem ungelösten Fall aus dem Jahr 2011 betrachten müsse, und darum gebeten, ihm und Broad die Wiederaufnahme der Ermittlungen zu übertragen. Es gab in der Führungsetage zwar einige Diskussionen, aber da das MCIT mit den aktuellen Fällen ohnehin schon überlastet war, kam Considine – wenn auch unter Vorbehalt – seiner Bitte schließlich nach.
Lockyer ging jetzt in die Hocke und ließ seine Finger über das aufgeworfene Erdreich neben dem Weißdornbusch gleiten. Es war knochentrocken und bestand aus harten Klumpen. Er nahm einen davon in die Hand und zerbröselte ihn, aber es gab nicht den leisesten Windhauch, der den Staub fortgeweht hätte. Nicht in dieser geschützten Senke. Sie war äußerst abgelegen, und es herrschte eine gespenstische Stille. Kein Wunder, dass die Leiche hier jahrelang unentdeckt geblieben war.
Als Lockyer sich wieder aufrichtete, fiel ihm etwas ins Auge. An einem der Äste des Weißdornbusches war ein Stück gelbes Klebeband befestigt. Er griff danach. Nein, das war kein Klebeband, es war weicher. Aus Stoff, vielleicht sogar aus Seide.
Broad, deren Haaransatz von kleinen Schweißperlen gesäumt wurde, betrachtete mit zusammengekniffenen Augen eine Großaufnahme von Lees Schädel.
»Man kann die Kopfverletzung hier drauf nicht besonders gut erkennen«, sagte sie, während das glänzende Papier das Sonnenlicht reflektierte.
»Nein«, sagte Lockyer. »Wir müssen ihn uns selbst ansehen.«
»Wirklich?« Sie klang überrascht.
»Momentan ist er unser einziger Zeuge.«
»Ich dachte, die MCIT-Akte enthält den Autopsiebericht …«
»Es lohnt sich immer, persönlich mit den Gerichtsmedizinern zu reden, Gem. Häufig sind sie im Gespräch eher als in ihren Berichten bereit, ein paar Vermutungen anzustellen.«
»Okay. Gut.«
»Haben Sie die Steine bemerkt?«, fragte er.
An einigen Stellen der Senke hatte der Boden große Brocken Kalk- und Feuerstein freigegeben. Einige hatten spitze Ecken und gezackte Kanten, andere waren von Natur aus rund und bauchig. Einer davon lag direkt neben dem Stamm des Weißdornbusches.
»Sie glauben doch nicht, dass das die Mordwaffe ist?«, fragte Broad.
»Vielleicht hat er sich auch nur den Kopf daran angeschlagen, als er den Hang hinuntergestürzt ist«, sagte Lockyer. »Es ist durchaus möglich, dass er nicht ermordet wurde – solange wir den Fall unvoreingenommen betrachten.«
»Der Hang ist zwar steil genug, wenn man darauf ins Straucheln gerät. Aber … ernsthaft? Wenn man bedenkt, was mit den anderen passiert ist? Und falls er nur gestürzt ist, wer hat ihn dann begraben?«
Sie hatten beide den Autopsiebericht gelesen und auf dem Revier das Gerede über ein besonders grausames Detail gehört: Man hatte in den Atemwegen der sterblichen Überreste Gesteinspartikel gefunden. Das legte den schrecklichen Verdacht nahe, dass das Opfer lebendig begraben worden war.
»Lassen Sie uns gehen«, sagte Lockyer. »Hier unten ist es einfach zu heiß.«
Die beiden kletterten die steilen Terrassen, die wie die versteinerten Wellen eines urzeitlichen grünen Meers aussahen, zur Hochebene empor. Dort erstreckte sich der Blick kilometerweit in sämtliche Richtungen, bis hin zum verschwommenen Horizont.
Das Blöken der Schafe in der Ferne erinnerte Lockyer an zu Hause. Er musste direkt nach der Arbeit zur Westdene Farm, zum Hof seiner Familie, fahren. Um zu hören, was verdammt noch mal los war. Ob das Krankenhaus inzwischen angerufen hatte und ob sein Vater einigermaßen zurechtkam.
Er konzentrierte sich wieder auf die Arbeit. Broad drehte sich einmal im Kreis, während sie mit beiden Händen ihre Augen abschirmte. Sie konnte ein paar vereinzelte Bauernhöfe sehen und im Norden die wenigen Häuser des Dorfes Everleigh.
»Er lag ziemlich abseits des Wegs«, sagte sie. »War er vielleicht wandern? Zusammen mit einem Freund? Und dann ist er gestürzt und hat sich den Kopf angeschlagen, oder es gab einen Streit … Der Freund geriet darauf in Panik und ließ die Leiche verschwinden.«
»Warum sollte er in Panik geraten, wenn sein Freund nur gestürzt ist?«, fragte Lockyer. »Warum hat er nicht einen Krankenwagen gerufen? Außerdem gibt es hier genug Warnschilder mit der Aufforderung, auf dem Weg zu bleiben und nicht zu graben.«
Die beiden standen auf einem Truppenübungsplatz, wo nach einem Manöver jeder herumliegende Gegenstand ein Blindgänger sein konnte, der einem vielleicht das Bein abriss. Oder noch schlimmer.
»Allerdings hätte man eine Schaufel gebraucht, selbst um nur ein flaches Loch auszuheben«, fügte Lockyer hinzu.
»Und was ist mit Sondengängern?«, fragte Broad. »Die sind überall unterwegs und haben immer einen Spaten dabei.«
»Ist eine Überlegung wert.«
»Oder es hat etwas mit irgendeinem Ritual zu tun«, gab sie zu bedenken. »Ist der Weißdorn nicht eine heilige Pflanze? Für, na ja … Druiden?«
»Ich glaube, das sind Misteln.«
Lockyer hielt diese Möglichkeit zwar eher für unwahrscheinlich, aber die grasbedeckte Senke mit einem einzelnen, knorrigen Weißdornbusch in der Mitte verbreitete tatsächlich eine eigentümliche Atmosphäre. Warum standen dort keine Schlehdorn- und Brombeersträucher, wie sonst an solchen Orten? Es schien fast, als hätte man diesen Bereich gerodet und den Weißdorn extra stehen lassen, als wäre...
Erscheint lt. Verlag | 10.7.2024 |
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Reihe/Serie | Lockyer & Broad ermitteln | Lockyer & Broad ermitteln |
Übersetzer | Frank Dabrock |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Laying Out The Bones |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2024 • Broadchurch • Cold Case • eBooks • England • Ermittlerduo • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Neuerscheinung • Stonehenge |
ISBN-10 | 3-641-31750-9 / 3641317509 |
ISBN-13 | 978-3-641-31750-8 / 9783641317508 |
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