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Der Fluss der Erinnerung (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
320 Seiten
Gerth Medien (Verlag)
978-3-96122-621-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Fluss der Erinnerung -  Kelly Flanagan
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Elijah Campbell steht an einem Wendepunkt in seinem Leben, denn mit einem Mal droht er alles zu verlieren, was ihm wichtig ist: seine Familie, seine Schriftstellerkarriere, seinen Glauben. Ein ständig wiederkehrender Albtraum aus seiner Kindheit bringt ihn dazu, in seinen Heimatort zurückzukehren. Dort begibt er sich auf eine imaginäre Reise in die Vergangenheit und begegnet einigen der prägendsten Menschen in seinem Leben wieder. Allmählich erkennt er, weshalb seine Frau ihn verlassen hat - und welche Rolle der Albtraum dabei spielt. Gleichzeitig wird ihm bewusst, dass er eine wichtige Entscheidung treffen muss: Wird er es wagen, die Maske abzulegen, hinter der er sich seit so langer Zeit versteckt? Mit seinem Debütroman ist Kelly Flanagan eine beeindruckende Geschichte über die Bedeutung unserer Identität als Kinder Gottes und deren Auswirkung auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen gelungen.

1

Manchmal weiß man nicht, dass das eigene Leben auf Pause geschaltet ist, bis jemand oder etwas auf die Abspieltaste drückt. Mein Jemand war Rebecca. Mein Etwas war ihr Bein, das sie von dem in die Jahre gekommenen Betonboden der Terrasse hob, auf der wir uns gegenübersaßen, um es auf meine Oberschenkel zu legen und damit die Kluft zwischen uns zu überbrücken.

Es war schön, es war kühn – und es kam völlig überraschend.

Wir hatten uns einen Monat zuvor an der Universität von Pennsylvania kennengelernt, am ersten Orientierungstag für das Graduiertenprogramm in Klinischer Psychologie. Die meiste Zeit des Monats hatte sie sich bemüht, mit mir in Kontakt zu treten, und mir Signale gesendet, die völlig an mir vorbeigegangen waren. Schließlich hatte sie sich entschlossen, mir eines zu senden, das mir quasi direkt in den Schoß fiel.

Der Tag begann wie jeder andere. Ein Morgen mit Lernen, gefolgt von einem Mikrowellen-Hotdog zum Mittagessen, den ich auf einem Pappteller auf die rückwärtige Terrasse des heruntergekommenen Apartments hinaustrug, das ich für dieses Jahr gemietet hatte. Die Glasschiebetüren, die die Wohnung vom Garten trennten, sahen mit all dem Schmutz, der sich auf ihnen angesammelt hatte, nicht mehr allzu glasig aus, und zudem glitten sie nicht lautlos auf, sondern gaben beim Öffnen ein bedenkliches Knirschen von sich.

Es war ein Freitag im Oktober, ein sonniger Herbstnachmittag, der so perfekt zwischen Sommer und Winter lag, dass Ersterer eine ferne Erinnerung und Letzterer ein Ding der Unmöglichkeit zu sein schien. Ich saß in einem tannengrünen Plastikliegestuhl, den mir mein Vormieter überlassen hatte – einen halb verzehrten Hotdog auf dem Schoß, das Gesicht der Sonne zugewandt und die Augen geschlossen –, als Rebecca um die Ecke des Gebäudes kam. Ihr Schatten verdunkelte die Innenseiten meiner Augenlider, und als sie meinen Namen sagte, erschrak ich so heftig, dass der wackelige Stuhl nach hinten kippte und der Hotdog zu Boden fiel, wo er Reste von herabgefallenem Laub anzog.

Rebecca hob das verschmutzte Würstchen auf, untersuchte es theatralisch und sagte dann belustigt: „Campbell, ich bin mir nicht sicher, ob ich mich bei dir dafür entschuldigen soll, dass ich dein Mittagessen ruiniert habe, oder ob du mir danken solltest, weil ich dich vor diesem undefinierbaren Stück Fleisch bewahrt habe.“

Meine Verlegenheit darüber, in einem so ungeschminkten Moment gesehen worden zu sein, wurde durch ihren spielerischen Ton kurzzeitig gelindert. Ich faltete die Hände im Schoß, wartete der Dramaturgie wegen einen Moment lang ab, senkte den Kopf und sagte betont feierlich: „Ich danke dir.“

Sie lachte hell auf, dann zog sie den einzigen anderen Liegestuhl – ursprünglich weiß, jetzt verwittert und zu einem trüben Olivgrün gealtert – heran und setzte sich mir gegenüber, sodass sich beinahe unsere Knie berührten. Wir plauderten ein wenig über unsere Kurse und Kommilitonen, und schließlich fragte ich sie beiläufig, was sie an diesem Abend vorhabe. Das war das Stichwort für ihr Bein auf meinen Oberschenkeln.

„Ich weiß nicht, Campbell“, erwiderte sie. „Was machst du heute Abend?“

Das Ganze versetzte mir einen Schock, in dem sich Hoffnung und Angst verwoben – die widersprüchliche Reaktion eines Menschen, dessen Einsamkeit seine größte Wunde und zugleich seine zuverlässigste Verteidigungsstrategie ist. Ich starrte auf das Silberreiher-Tattoo, das die noch sommerlich gebräunte Haut oberhalb ihres Knöchels zierte, und fühlte mich plötzlich wie die Zweitbesetzung, die bei der Theaterpremiere unvermittelt ins Rampenlicht gerufen wird. Die Hitze ihrer Aufmerksamkeit trieb mir kleine Schweißperlen auf die Stirn.

„Ich, äh, na ja … Also, weißt du … Ich weiß noch nicht genau. Ich glaube, ich habe tatsächlich etwas geplant, aber, äh, das ist keine große Sache. Ich könnte es wahrscheinlich absagen. Aber, na ja, vielleicht auch nicht, also, äh …“

Die Wahrheit war, dass mir mein Mitbewohner für diesen Abend ein Blind Date organisiert hatte.

Ich holte tief Luft und versuchte, meine zuverlässigste Art der Reaktion hervorzubringen, wenn die Gefahr bestand, dass meine Mauern durchbrochen wurden: ein Lächeln, das so strahlend war, dass keine Prüfung der Wattstärke ihm je standgehalten hatte. Es war kein aufgesetztes Lächeln; es war instinktiv – eines, das eng verwandt ist mit Aufrichtigkeit –, und wahrscheinlich war es deshalb so wirkungsvoll. Meist verband ich es mit der einen oder anderen charismatischen Frage, und voilà, das Rampenlicht wich von mir. Ich stand wieder im Dunkeln, aber wenigstens war ich in Sicherheit.

Ich strahlte also, aber die Wiederholung meiner ursprünglichen Frage – „Und was hast du heute Abend vor?“ – kam wohl ein bisschen zu verzweifelt daher.

Rebecca musterte mich nachdenklich mit ihren haselnussbraunen Augen. Ihr langes dunkles Haar, das ihr sanft über die Schultern fiel, glänzte im Sonnenlicht und offenbarte ein paar goldbraune Reflexe.

Die kleinen Schweißperlen auf meiner Stirn drohten zu Tropfen zu werden, während ich darauf wartete, dass sie die Augenbrauen hochziehen, ihr Bein wegnehmen und zu einem Typen weiterziehen würde, der die einfache Frage nach seinen Feierabendplänen beantworten konnte, ohne sich völlig zum Idioten zu machen.

Stattdessen setzte sie noch eins drauf, indem sie das zweite Bein hob und es über Kreuz auf das erste legte.

„Es war nicht fair, mit einer so schwierigen Frage anzufangen“, sagte sie ganz sachlich.

Wir wussten beide, dass die Frage nicht schwer gewesen war. Doch in ihrem Tonfall konnte ich Verständnis dafür hören, dass sie für mich schwierig gewesen war. Das fühlte sich wie ein Geschenk an. Seit langer Zeit hatte mir niemand mehr ein solches Geschenk gemacht.

„Ich sag dir was“, fuhr sie fort, „wenn du heute Abend schon etwas vorhast, sollten wir uns vielleicht jetzt gleich besser kennenlernen. Lass uns ‚Zwei Wahrheiten und eine Lüge‘ spielen.“

Es hörte sich nach einem Spiel an, mit dem ich mich nur zu einem Drittel wohlfühlen würde, aber ich war so dankbar für das Geschenk, das sie mir gerade gemacht hatte, dass ich den Vorschlag einfach nicht ablehnen konnte. „Davon habe ich noch nie gehört. Wie geht das?“ Ich bemühte mich, nicht zu verhalten zu klingen, und es gelang mir ziemlich gut.

„Es ist ganz einfach“, antwortete Rebecca mit einem Lächeln in der Stimme und auf den Lippen. „Ich erzähle dir drei Dinge über mich. Zwei davon sind wahr, eins nicht, und du musst erraten, welches nicht stimmt. Dann bist du dran. Alles klar?“ Sie hielt mir die geballte Faust für einen Fauststoß hin.

Erleichtert darüber, dass das Rampenlicht nun wieder auf sie fallen würde, ignorierte ich, dass es schließlich zu mir zurückwandern würde. „Cool“, stimmte ich zu, ballte ebenfalls eine Hand zur Faust und berührte ihre mit meiner. In diesem Moment schloss sich eine Art Stromkreis zwischen uns, und es traf mich wie der Blitz. Plötzlich war ich hellwach.

Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass ich geschlafen hatte.

„Okay. Hmmm“, sagte sie, und während sie überlegte, was sie sagen sollte, zog sie mit dem Zeigefinger die Unterlippe nach unten und ließ sie zurückschnellen, sodass ein Plopp zu hören war. Wieder und wieder. Plopp. Plopp. Plopp. Es war sehr unschuldig und zugleich ungemein attraktiv.

„Ich hab’s!“ Sie sah mir direkt in die Augen. „Einmal habe ich meinen Pass verloren, als ich illegal ein verlassenes Weingut in den Hügeln Italiens besetzte, und bin ohne jede Hilfe zurück nach Maryland gekommen. Ich bin schon zweimal Fallschirm gesprungen, und ich habe drei Tattoos. Okay, was davon ist eine Lüge?“

Sie überkreuzte die Beine andersherum. Die Farbe des Silberreihers an ihrem Knöchel wechselte von Blau zu Violett, als er vom Licht in den Schatten wanderte.

„Ich nehme an, das Letzte ist eine Lüge. Du hast nur dieses eine Tattoo.“

Sie lächelte wieder und drehte ihren rechten Arm, sodass die Tätowierung eines Kreuzes auf der Unterseite ihres Handgelenks sichtbar wurde. „Falsch. Ich habe tatsächlich drei Tattoos.“

Das dritte zeigte sie mir nicht. Das machte mich stutzig.

„Die Lüge“, verriet sie, „war, dass ich nur einmal Fallschirm gesprungen bin. Okay, jetzt bist du dran.“

Sie lehnte sich vor und stützte das Kinn auf die Hand wie Rodins Denker, um mir mit voller Aufmerksamkeit zuzuhören, und ihr forschender Blick war wie tausend Scheinwerfer – kein Lächeln von mir konnte ihn überstrahlen. Also rief ich mir in Erinnerung, dass Angriff die beste Verteidigung ist, und preschte vor.

Ich komme aus einer kleinen Stadt in Illinois namens Bradford’s Ferry. So ziemlich jeder nennt mich Eli – ja, so wie in ‚Celli‘. Und …“, ich machte eine kurze Pause und versuchte, mir eine Lüge auszudenken, „meine Eltern sind beide tot.“ Das war natürlich eine schreckliche Art, aus dem Rampenlicht zu verschwinden. Der Typ, der von seiner Abschlussklasse zum sozial kompetentesten Schüler gewählt worden war, schien in die falsche Richtung abgebogen zu sein.

Rebeccas Augenbrauen zogen sich zusammen, und die Hand, auf die sie das Kinn gestützt hatte, wanderte zu ihrem Mund. „Oh nein. Ich hoffe, das Letzte stimmt nicht!“

Ich fuhr mir verlegen mit der Hand über...

Erscheint lt. Verlag 17.1.2024
Übersetzer Renate Hübsch
Verlagsort Asslar
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Authentizität • Kindheit • Midlifecrisis • Trauma
ISBN-10 3-96122-621-0 / 3961226210
ISBN-13 978-3-96122-621-4 / 9783961226214
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