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Das einzige Kind -  Anne Holt

Das einzige Kind (eBook)

Ein Fall für Hanne Wilhelmsen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
304 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-212-5 (ISBN)
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Das Kinderheim 'Frühlingssonne' am Rande von Oslo hat einen neuen Mitbewohner. Dem zwölfjährigen Olav fällt es schwer, sich in die Regeln des beinahe idyllischen Lebens in der alten Villa einzufügen, und mit Erschrecken stellt die Leiterin Agnes Vestavik fest, etwas in seinen Augen zu entdecken, was sie bei einem Kind bisher noch nie gesehen hat: Hass. Eines Tages ist Olav verschwunden und Agnes Vestavik wird tot an ihrem Schreibtisch aufgefunden - erstochen mit einem Küchenmesser. Die frisch zur Hauptkommissarin ernannte Hanne Wilhelmsen macht sich auf die Suche nach dem Jungen. Doch dieser Fall wird sie an die Grenzen ihrer Fähigkeiten als Ermittlerin führen ...

Anne Holt ist mit über 12 Millionen verkauften Büchern weltweit eine der erfolgreichsten Krimiautor:innen Skandinaviens. Sie ist ehemalige Justizministerin Norwegens, Anwältin, Journalistin, TV-Nachrichtenredakteurin und Moderatorin. Zu großem Ruhm als Autorin gelangte sie mit den zwei Krimiserien um Inger Johanne Vik (verfilmt als »Modus. Der Mörder in uns«) und Hanne Wilhelmsen. Ihre neueste Serie dreht sich um die Juristin Selma Falck.

Anne Holt ist mit über 12 Millionen verkauften Büchern weltweit eine der erfolgreichsten Krimiautor:innen Skandinaviens. Sie ist ehemalige Justizministerin Norwegens, Anwältin, Journalistin, TV-Nachrichtenredakteurin und Moderatorin. Zu großem Ruhm als Autorin gelangte sie mit den zwei Krimiserien um Inger Johanne Vik (verfilmt als »Modus. Der Mörder in uns«) und Hanne Wilhelmsen. Ihre neueste Serie dreht sich um die Juristin Selma Falck.

1


»Ich bin der Neue!«

Mit energischen Schritten stapfte er mitten ins Zimmer. Dort blieb er stehen, und der an seinen riesigen Turnschuhen klebende Schnee bildete um seine Füße herum kleine Lachen. Breitbeinig, wie um seine X-Beinigkeit zu verbergen, stand er da, dann breitete er die Arme aus und sagte noch einmal: »Ich bin der Neue!«

Sein Kopf war auf der einen Seite kahl rasiert. Vom rechten Ohr aus waren widerspenstige rabenschwarze Haare über seinen Schädel gekämmt und endeten dann, glatt abgeschnitten, einige Millimeter über der linken Schulter. Eine dicke, verfilzte Locke hing über das eine Auge. Der Mund formte ein wackeliges U, als der Junge immer wieder versuchte, sich diese Locke aus dem Gesicht zu blasen. Seine Steppjacke war Größe 56, um die Taille herum passte sie genau, aber ansonsten war sie einen halben Meter zu lang, während die dreißig Zentimeter überflüssiger Ärmelstoff zu dicken Manschetten aufgerollt waren. Die Hosenbeine schlackerten um die Waden. Als er mit einiger Mühe die Jacke öffnete, wurde allerdings klar, dass sie an den Oberschenkeln trotzdem saßen wie angegossen.

Das Zimmer war groß. Der Junge hielt es nicht für ein Wohnzimmer, es gab schließlich weder eine Sitzecke noch einen Fernseher. An einer Wand befanden sich eine Art Anrichte, ein Spülbecken und ein Herd. Aber nach Essen roch es hier nicht. Er hob die Nase, schnupperte und überlegte, dass es noch eine weitere Küche geben müsse. Eine richtige Küche. Dieses Zimmer hier war ein Aufenthaltsraum. An den Wänden waren Zeichnungen befestigt, unter der ungewöhnlich hohen Decke hingen kleine Mobiles und Wollfiguren, offenbar von Kindern gebastelt.

Über seinem Kopf flatterte eine Möwe aus Pappe und Wolle, grau und weiß und mit feuerrotem Schnabel, der halb abgefallen war und wie ein lockerer Zahn an einem dünnen Faden hing. Er streckte die Hand danach aus, reichte aber nicht hoch genug. Statt des Schnabels riss er ein Osterküken aus Eierkarton und gelben Federn von der Decke. Er hob es auf, rupfte ihm alle Federn aus und warf den Karton wieder auf den Boden.

Unter zwei großen Fenstern mit aufgeklebten Sprossen stand ein riesiger Arbeitstisch. Vier Kinder unterbrachen ihre Beschäftigung. Sie starrten den Neuankömmling an. Das älteste, ein Mädchen von vielleicht elf, musterte ihn ungläubig von Kopf bis Fuß. Zwei Jungen, die mit ihren identischen Pullovern und kreideweißen Mähnen Zwillinge sein konnten, kicherten, tuschelten und stupsten sich gegenseitig an. Eine rothaarige Vier- oder Fünfjährige saß einige Sekunden ganz verängstigt da, dann rutschte sie von ihrem Stuhl und lief zur einzigen Erwachsenen im Raum hinüber, einer kräftigen Frau, die die Kleine sofort hochhob und ihr beruhigend über die Locken strich.

»Das ist der Neue«, sagte sie. »Er heißt Olav.«

»Hab ich doch schon gesagt«, erklärte Olav sauer. »Ich bin der Neue. Bist du verheiratet?«

»Ja«, antwortete die Frau.

»Und wohnen hier nur diese Kinder?«

Seine Enttäuschung war deutlich zu hören.

»Nein, das weißt du doch«, sagte die Frau und lächelte. »Hier wohnen sieben Kinder. Die drei da hinten …«

Sie nickte zu den dreien am Tisch hinüber und bedachte sie gleichzeitig mit einem strengen Blick. Die Jungen ließen sich davon nicht beeindrucken.

»Und die da? Wohnt die nicht hier?«

»Nein, das ist meine Tochter. Sie ist nur heute mal mitgekommen.«

Sie lächelte, während das Kind seinen Kopf an den Hals der Mutter schmiegte und sich noch fester an sie klammerte.

»Ach so. Hast du viele Kinder?«

»Drei. Das hier ist die Jüngste. Sie heißt Amanda.«

»Blöder Name. Und außerdem seh ich selber, dass sie die Jüngste sein muss. Du bist doch zu alt, um noch Kinder zu kriegen.«

Die Frau lachte.

»Da hast du recht. Jetzt bin ich zu alt. Meine beiden anderen Kinder sind fast erwachsen. Aber möchtest du nicht Jeanette Guten Tag sagen? Sie ist fast so alt wie du. Und Roy-Morgan? Der ist acht.«

Roy-Morgan wollte den Neuen durchaus nicht begrüßen. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her und tuschelte demonstrativ abweisend mit seinem Nachbarn.

Jeanette runzelte die Stirn und rutschte auf ihrem Stuhl nach hinten, als Olav mit ausgestreckter Hand, von der schmutziger schmelzender Schnee heruntertropfte, auf sie zukam. Ehe er Jeanette erreicht hatte und ehe sie auch nur Anstalten machen konnte, die gespreizten Finger zu berühren, die ihr da angeboten wurden, machte er eine tiefe Verbeugung und erklärte feierlich: »Olav Håkonsen. Es ist mir ein Vergnügen.«

Jeanette presste sich an die Stuhllehne, packte den Sitz mit beiden Händen und zog die Knie bis ans Kinn. Der neue Junge wollte die Hände seitlich herabhängen lassen, aber seine Körperform und seine Kleidung sorgten dafür, dass seine Arme wie beim Michelinmännlein schräg abstanden. Seine offensive Haltung war wie weggeblasen, und er vergaß das Breitbeinig-Stehen. Jetzt berührten die Knie sich unter seinen dicken Oberschenkeln, und die Spitzen der großen Zehen in den riesigen Turnschuhen zeigten aufeinander.

Die kleinen Jungen verstummten.

»Ich weiß, warum du mir nicht Guten Tag sagen willst«, sagte Olav.

Die Frau hatte das kleinste Kind in ein anderes Zimmer gebracht. Als sie zurückkam, entdeckte sie in der Türöffnung Olavs Mutter. Mutter und Sohn sahen einander ungeheuer ähnlich; die gleichen schwarzen Haare, der gleiche breite Mund mit einer auffälligen Unterlippe, die ungewöhnlich weich und außerdem feucht und dunkelrot aussah, nicht trocken und rissig, wie es eigentlich zur Jahreszeit gepasst hätte. Bei dem Jungen wirkte diese Lippe kindlich. Bei der Erwachsenen sah sie abstoßend aus, vor allem, weil immer wieder eine ebenso rote Zunge hervorschoss und sie anfeuchtete. Neben dem Mund zogen vor allem die Schultern die Blicke auf sich. Genauer gesagt, die Frau hatte gar keine Schultern. Vom Kopf her zog sich ein gleichmäßiger Bogen nach unten, wie bei Bowlingkegeln oder Birnen, eine gewölbte Linie, die an unfassbar dicken Hüften endete, unter denen dicke Oberschenkel und dünne Waden die Gestalt trugen. Ihre Körperform war deutlicher zu sehen als die des Jungen, vermutlich, weil ihr Mantel so eng saß. Die andere Frau versuchte erfolglos, ihren Blick aufzufangen.

»Ich weiß, warum du mir nicht Guten Tag sagen willst«, sagte Olav noch einmal. »Weil ich so fett und hässlich bin.«

Er sagte das, ohne sich auch nur im Geringsten verletzt anzuhören, mit leichtem, zufriedenem Lächeln, fast als wäre es eine soeben erst entdeckte Tatsache, die Lösung eines komplizierten Problems, das ihn nun schon zwölf Jahre lang beschäftigt hatte. Er drehte sich um und fragte, ohne die kräftige Kinderheimangestellte anzusehen, wo er wohnen sollte.

»Würdest du mir bitte mein Zimmer zeigen?«

Die Frau streckte die Hand nach seiner aus, aber statt danach zu fassen, machte der Junge mit dem Arm eine galante Bewegung und verbeugte sich leicht.

»Damen haben Vortritt.«

Dann watschelte er hinter ihr her in den ersten Stock.

 

Er war so groß. Und ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Sie legten ihn mir in die Arme, und ich empfand keine Freude, keine Trauer. Sondern Ohnmacht. Eine riesige, schwere Ohnmacht, so als sei mir eine Aufgabe gestellt worden, der ich niemals gewachsen sein würde. Sie trösteten mich. Alles sei ganz normal. Er sei einfach nur groß.

Groß! Normal? Hatten sie je versucht, einen Brocken von 5340 Gramm aus sich herauszupressen? Ich war drei Wochen über die Zeit, aber das wollte die Ärztin mir nicht glauben. Als ob die eine Ahnung hätten! Ich wusste genau, wann er entstanden war. An einem Dienstagabend. Einem der Abende, an denen ich nachgegeben hatte, weil ich keinen Streit wollte, als meine Angst vor einem weiteren seiner Wutanfälle so groß war, dass ich nicht dagegen ankonnte. Nicht an diesem Abend. Nicht bei dem vielen Alkohol im Haus. Am nächsten Tag hatte er dann seinen tödlichen Unfall gebaut. An einem Mittwoch. Und seither hatte ich keinen Mann in meine Nähe gelassen, bis dieses schwabbelige Baby mit einem Lächeln auf die Welt kam. Das stimmt! Er lächelte! Die Ärztin behauptete, das sei nur eine Grimasse. Ich weiß, dass es ein Lächeln war. Dieses Lächeln hat er noch immer, hat er immer gehabt. Seine beste Waffe. Zum letzten Mal geweint hat er mit anderthalb Jahren.

Sie legten ihn auf meinen Bauch. Eine unbegreifliche Masse neues Menschenfleisch, das sofort die Augen aufriss und mit seinem breiten Mund meine Haut nach der Brust absuchte. Die Leute in den weißen Kitteln lachten und gaben ihm noch einen Klaps aufs Hinterteil. Was für ein kleiner Kobold, sagten sie.

Ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Sie sagten, alles sei normal.

 

Acht Kinder und zwei Erwachsene saßen um einen ovalen Esstisch. Sieben Kinder sprachen zusammen mit den Erwachsenen ein Tischgebet. Der Neue hatte recht gehabt. Er war bei seiner Ankunft nicht in die Küche geführt worden.

Die Küche lag weiter hinten in der großen umgebauten Villa aus der Jahrhundertwende, und damals war sie wahrscheinlich nur eine Anrichteküche gewesen. Sie war anheimelnd und gemütlich, mit blauen Möbeln und Flickenteppichen. Das Einzige, was hier anders war als in einem normalen Wohnhaus, waren die ungewöhnlich große Kinderschar und die Dienstpläne. Die hingen an einer großen Pinnwand neben der Tür, die in eins der Wohnzimmer führte, in den Aufenthaltsraum, das wusste der Neue schon. Außer mit den Namen waren die Dienstpläne auch mit kleinen Fotos der Angestellten versehen....

Erscheint lt. Verlag 17.4.2024
Reihe/Serie Hanne-Wilhelmsen-Reihe
Hanne-Wilhelmsen-Reihe
Übersetzer Gabriele Haefs
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Hanne Wilhelmsen • Junge • Kinderheim • Kindesmisshandlung • Norwegen • Scandicrime • Skandinavien • Stadtrand • weibliche Ermittlerin
ISBN-10 3-03792-212-5 / 3037922125
ISBN-13 978-3-03792-212-5 / 9783037922125
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