Lost Places (eBook)
320 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-30119-4 (ISBN)
Norbert Horst war Kriminalhauptkommissar und hat in zahlreichen Mordkommissionen ermittelt, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Der Autor ist verheiratet und hat zwei Kinder. Seine Kriminalromane wurden mit dem Friedrich-Glauser-Preis und dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet und standen monatelang auf der Krimibestenliste.
Camilla
Sie musste tatsächlich an Bügeln denken.
Als sie Kind war, hatte ihre Mutter, bevor das heiße Eisen zum Einsatz kam, die Wäsche immer mit einem Zerstäuber aus blauem Plastik befeuchtet. Und wenn sie dem Bügeltisch zu nah gekommen war, zum Spaß auch ihr Gesicht. Den Atem der Meerjungfrauen hatte ihre Mutter das genannt. Und natürlich war sie ihr in diesen Momenten immer absichtlich zu nah gekommen, weil sie dann beide lachen mussten, ganz beieinander waren, und weil diese Berührung so sanft war.
Genauso fühlte sich der feine Regen an, der sich an diesem frühen Morgen inmitten der kleinen Lichtung auf ihr Gesicht legte. Sie blieb stehen, hob für einen Moment das Kinn und schloss die Augen. Selbst der chemische Geruch der Stärke kam zurück, den die Hitze damals aus der Wäsche getrieben hatte. Auch diesen Geruch hatte sie gemocht.
Durch die schmale Senke, dann sehen Sie es, waren die Worte der jungen Polizistin im Streifenwagen auf dem Waldweg gewesen. Dass die Senke ziemlich feucht war, hatte sie verschwiegen, die weißen Sneaker waren schon jetzt versaut.
Zuerst hörte sie die Stimmen, dann sah sie durch die Zweige hinter den Brennnesseln den Ort des Geschehens. Einer der beiden uniformierten Polizisten suchte im Umkreis um das kleine Zelt den Waldboden ab, der zweite betrachtete die Leiche. Deniz Müller kniete in roter Jacke davor, das Diktiergerät in der Hand.
Der Tote war so weit herausgezogen, dass lediglich der Kopf noch auf der orangefarbenen Plane des Zeltbodens lag. Die Vorderseite des Oberkörpers war von den vielen Schichten der verwahrlosten Kleidung befreit, wahrscheinlich das Werk des Notarztes. Neben dunklen Flecken waren zwei Wunden auf der Brust und am Bauchnabel erkennbar.
»Ah, Frau Staatsanwältin, so früh schon unterwegs?« Der Todesermittler wandte sich ihr zu und lächelte. Seine Haare waren nass und wirkten noch dunkler als sonst.
»Scherze auf Kosten anderer sind am Morgen eine gefährliche Sache.«
Sie reichte ihm zur Begrüßung die Hand.
»Und bei der Wahl des Schuhwerks hättest du auch einen dezenten Tipp gebrauchen können, wie man sieht.« Er sah auf ihre Schuhe. Einer der uniformierten Kollegen grinste.
»Übertreib es nicht, mein Lieber. War ohnehin ziemlich mutig, mich um kurz vor sieben anzurufen.«
»Ich hatte gesehen, dass du schon online warst. Hätte ich sonst nicht gemacht, Ehrenwort. Und es liegt halt auf deinem Weg, dachte ich mir.«
Sie begrüßte den Polizisten, der in der Nähe stand, ebenfalls mit Handschlag. »Camilla Lopez, ich bin die Staatsanwältin.«
»Markus Brand.«
Der zweite hob aus der Entfernung kurz die Hand.
»Was haben wir hier? Mord im Obdachlosenmilieu?«
»Das wissen wir noch nicht. Der Notarzt hat keine Todesursache eingetragen. Er kann nicht sagen, ob die Wunden was mit dem Tod zu tun haben, glaubt es zwar nicht, aber er ist sich nicht sicher. Er sei ja kein Gerichtsmediziner …«
»Hast du Handschuhe für mich?«
Deniz Müller lief zu seinem Rucksack, der ein paar Meter abseits stand. Die Staatsanwältin streifte den blauen Latex über, ging in die Hocke und betastete vorsichtig den Bereich um die Wunden.
»Sehen nicht so tief aus, aber man weiß ja nie. Ist schon länger tot, oder?«
Der Kripomann hockte sich daneben, klappte den Hosenbund des Toten auf und zog den Zipfel auf einer Seite nach unten. Erst jetzt sah sie, dass auch Gürtel und Hose schon geöffnet waren.
»Ein, zwei Tage, vielleicht etwas länger, weil es hier ja relativ kühl war die letzte Woche. Aber hier am Unterbauch ist es schon ziemlich dunkel und gebläht.« Er drückte auf den Bereich dicht oberhalb der Leiste, der grünlich-grau verfärbt war.
»Was glaubst du?«
»Ich weiß es nicht. Bisher haben wir nichts, was für ein Fremdverschulden spricht, außer den beiden eigenartigen Wunden. Vom Gefühl her ist es nichts, aber man weiß nie?«
»Wer hat ihn gefunden?«
»Sein Mitmieter.« Der uniformierte Kollege ging ebenfalls in die Hocke. »Mitmieter und Saufkumpan. Die beiden wohnen hier schon länger, sagt er. Der Mitbewohner war drei Nächte woanders, und als er heute Morgen zurückkam, lag er hier tot im Zelt. Er kennt den Toten als Erwin Schneider, Papiere haben wir bisher nicht gefunden, waren allerdings noch nicht im Zelt. Soll wohl nicht so lange in der Szene unterwegs sein.«
»Und wo ist der andere jetzt?«
»Im Gewahrsam, ausnahmsweise«, sagte Markus Brand, »weil er breit war wie ’ne Natter. Bevor der vernehmungsfähig ist, muss der ein paar Stunden schlafen.« Er zog die Stirn in Falten.
»Okay, spricht doch alles für eine Obduktion, oder?« Sie sah Deniz an.
»Sieht ganz so aus. Und dann müssen wir das hier erst mal auch als Tatort betrachten, für alle Fälle.« Er sah sich um. »Kleiner Vorteil: Hier ist nichts groß abzusperren.«
Alle erhoben sich und betrachteten für einen Moment wortlos die Leiche des Mannes. Auch die Abwesenheit allen Lebens verhinderte nicht, dass ihm die geöffnete Hose auch jetzt noch etwas Schamverletzendes und Entwürdigendes gab. Die langen Haare waren so verfilzt wie der Bart, das Gesicht gebräunt, voller tiefer Falten und mit dem unverkennbaren Ausdruck des Todes. Aber es sah friedlich aus, dachte die Staatsanwältin, was nicht immer der Fall war.
»Was ist einem im Leben passiert, dass man besoffen und versifft in einem feuchten Zelt irgendwo im Wald so vor die Hunde gehen muss.« Markus Brand sagte es, ohne hochzusehen.
Niemand antwortete.
»Wenn wir dir noch irgendwie helfen können, sehr gerne, ansonsten …?«, sagte der Schutzmann schließlich. »Weil wir noch vom Nachtdienst sind.«
»Wir könnten ihn grad zusammen wieder ein Stück ins Zelt hieven, dass wenigstens der Oberkörper nicht nass wird. Für eventuelle DNA-Spuren ist das zwar scheiße, und Overalls und Mundschutz habe ich nicht dabei. Nur wenn er hier klitschnass wird, ist das genauso blöd für die Spuren.«
»Okay«, sagte Markus Brand, zog jetzt ebenfalls Latexhandschuhe aus einer seiner Taschen und streifte diese über, »wir können ja vorsichtig sein.«
Beide fassten die Kleidung an jeweils einer Seite des Oberkörpers und hoben die Leiche so weit in das Zelt, wie es die geringe Höhe der Dachstangen zuließ.
Sie nickten sich danach kurz zu, dann grüßten die Uniformierten und machten sich auf den Rückweg durch die Senke.
»Bin ich hier noch vonnöten?« Camilla ließ eine kleine Pause. »Weil meine Schuhe echt durch sind und ich noch mal nach Hause muss.«
Deniz Müller lächelte und ließ sich einen Moment Zeit. »Ich wollte eigentlich immer noch mal wieder mit dir im Wald allein sein.«
»Ach, komm, das haben wir doch wirklich hinter uns.« Sie zog die Brauen nach oben. »Und Wald ist ja ganz nett, aber fast mitten in der Nacht, im Nieselregen und neben einer Leiche, die langsam zu stinken anfängt«, sie hob nacheinander drei Finger, »ist nicht grad der Gipfel der Romantik, oder?«
»Okay, versuche ich es ein andermal.« Mit gespieltem Gleichmut.
»Aber wenn es irgendwie nötig ist, kann ich gern bleiben, ehrlich.«
»Nein, geht schon.« Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte. »Ich bestell grad die KTU.«
Die Wegbeschreibung am Telefon fiel etwas umfangreicher aus, weil der Fundort der Leiche keine feste Adresse hatte, sondern im Schellenberger Wald tief im Essener Süden lag.
»Das war ganz ernst gemeint«, mit Nachdruck, als er fertig war. »Soll ich noch bleiben? Du bist allein, und wenn es doch ein Tatort werden sollte …«
»Nein, alles gut. Ich denke, hier taucht die nächsten zwei Stunden nicht mal ein Gassigeher mit Hund auf. Und länger als ’ne halbe Stunde brauchen die KTUler auch nicht.«
Sie verabschiedeten sich.
Auf dem Rückweg wählte sie einen Weg am Rand der Senke, der tatsächlich weniger morastig war.
Als sie ihren Wagen erreichte, bog ein uralter grüner Ford Mondeo Kombi in den Waldweg ein, den sie kannte. Er hielt neben ihr, und der Fahrer ließ die Scheibe nach unten gleiten.
»Morgen, Cami, auch schon unterwegs?«
»Alex, was machst du denn hier? Polizeifunk abhören geht doch schon länger nicht mehr.«
»Intellektuell induzierter journalistischer Instinkt …« Mit ernster Miene.
»Ja, ja.« Sie nickte lächelnd.
Er fuhr rechts ran und stieg aus.
Wie Deniz Müller kannte sie Alexander Rahn seit ihrer gemeinsamen Schulzeit in Bochum. Sie hatten sich danach ein gutes Jahrzehnt aus den Augen verloren, aber das Leben hatte alle drei im Revier nicht nur örtlich wieder näher zusammengeführt, auch beruflich kreuzten sich jetzt öfter ihre Wege.
»Einer unserer Fotografen wohnt hier in der Nähe und hat heute Morgen beim Joggen zwei Streifenwagen und den Notarzt gesehen. Er rief mich an und meinte, irgendwas müsste vielleicht los sein.«
»Wahrscheinlich ist nichts los, ist aber noch nicht klar. Ein toter Obdachloser in einem Zelt. Aber es gibt erst mal keine Anzeichen auf ein Fremdverschulden. Wahrscheinlich ist das nichts Besonderes für so ein investigatives Portal wie eures. Aber Deniz bearbeitet die Sache, du kannst ihm ja einen Guten Morgen wünschen.«
Er blickte in Richtung Wald.
»Ist die Leiche noch da?«
»Ja.«
»Ach, ne, ich glaub, dann ruf ich ihn nachher mal an. Leichen vorm Frühstück sind nichts für Feinsinnige, das überlass ich lieber den robusteren Gemütern. Und...
Erscheint lt. Verlag | 1.6.2024 |
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Reihe/Serie | Lopez, Rahn und Müller ermitteln | Lopez, Rahn und Müller ermitteln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2024 • Bochum • Deutsche Ermittler • Deutscher Krimi Preis • Dreiecksgeschichte • eBooks • Ermittlertrio • Essen • Heimatkrimi • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Mord • neue Ermittler • Neue Reihe • Neuerscheinung • Ruhrgebiet • Ruhrpott • Spannung • Trio |
ISBN-10 | 3-641-30119-X / 364130119X |
ISBN-13 | 978-3-641-30119-4 / 9783641301194 |
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