MERKUR 10/2023 (eBook)
104 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12177-3 (ISBN)
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.
Beiträge
DOI 10.21706/mr-77-10-5
Claudia Gatzka
Geschichten wider den Osten
Der Orient: eine Hervorbringung des Westens – mit dieser kühnen These verewigte sich Edward Said Ende der 1970er Jahre im Kanon postkolonialer Theorie.1 Orientalism nannte er die Denkweise, den »Orient« zum Anderen des »Okzidents« zu machen und dabei diesen zur Norm zu erheben und jenen als korrekturbedürftig darzustellen. Konkret führte Said den Machtanspruch westlicher Mächte über die Gebiete des Nahen und Mittleren Ostens auf das Wissen und die Repräsentationen zurück, die »der Westen« über »den Orient« generierte. In ästhetischen, populären und wissenschaftlichen Texten des 19. und 20. Jahrhunderts sah Said bestimmte Darstellungsweisen und Zuschreibungen (re)produziert, die »den Orientalen« systematisch als beherrschungsbedürftig und unmündig markierten, mithin eine Minderwertigkeit des Orients diagnostizierten, die an den Parametern der rationalen, kapitalistischen, bürgerlichen Moderne gemessen war.
Orientalismus produzierte so ein Bild »des Orients«, das die westliche Dominanz über diesen Raum rechtfertigte. Damit verband der amerikanisch-palästinensische Literaturwissenschaftler den machtanalytischen Diskursbegriff Foucaults und geopolitische Raumkonzepte. Er verwies so auf die Bedeutung imaginierter Geografien für die Begründung von Macht und Dominanz. Saids Kritiker warfen ihm fehlende Differenzierung und Überspitzung vor, auch mangelndes historisches Denken.2
Knapp ein halbes Jahrhundert später hat der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann mit dem Titel Der Osten: eine westdeutsche Erfindung einen Bestseller gelandet und Kontroversen ausgelöst. Er kritisiert den westdeutschen Diskurs über Ostdeutschland »in Form von konstant negativen Identitätszuschreibungen und Essentialisierungen« als binär und monolithisch.3 Verblüffend ist, dass er ohne Verweise auf Said auskommt.
Stattdessen begreift Oschmannn den Diskurs um »den Osten« im Anschluss an Axel Honneth und Jacques Rancière als eine »gesellschaftliche Imagination«, die bestimmte soziale Gruppen ihrer Machtchancen beraube, indem sie ihnen fixe Eigenschaften zuschreibe, die deren Machtlosigkeit moralisch oder rational begründen sollen. Sie diene also letztlich der Legitimation der Machthabenden. Damit steht bei Oschmann hinter »dem Osten« eher eine soziale Gruppe innerhalb eines größeren Herrschaftsverbands, die Opfer diskursiver Marginalisierung wird, und weniger ein imaginierter Raum, dem mutmaßlich gewisse als stabil zugeschriebene Merkmale zueignen.
Insofern könnte das von ihm kritisierte Diskursphänomen auch »die Ostdeutschen« heißen. Dennoch verbindet ihn mit Said die überspitzte, zum Zweck der Veranschaulichung selbst nicht vor Essentialisierungen zurückschreckende Kritik an einem Diskurs, der Machtungleichheit zu begründen scheint, indem er Himmelsrichtungen zu Bedeutungsträgern eines binären Unterschieds stilisiert.
Innerdeutscher Orientalismus
Oschmanns Buch lässt sich, wenngleich er ohne den Begriff auskommt, als eine in Teilen womöglich fiktionalisierte Orientalismus-Kritik lesen,4 wie sie auch bereits in den Texten Jana Hensels anklang.5 Einige der Diskursphänomene, die er beschreibt, werden nicht nur verständlicher, sondern auch entprovinzialisiert, also vom Ruch des Nationalkitschs befreit, wenn man sie als produktive Faktoren einer historisch gewachsenen, imaginären Geografie begreift, die den innerdeutschen Diskurs um »den Osten« und »den Westen« prägen.
Die Ostdeutschen, um die es ihm geht, würden dann nicht zufällig und auch nicht nur aus kontingenten Gründen zum Objekt der inkriminierten Zuschreibungen. Vielmehr wären diese Zuschreibungen dann Produkt einer länger währenden Orientalisierung des Territoriums, auf dem das heutige »Ostdeutschland« liegt, das aber auch Ostmitteleuropa, Osteuropa und Teile Südosteuropas umschließt.6 Diesem imaginären Geschichtsraum »Osten« begegneten Deutsche vor 1945 nicht nur mit einer orientalistischen, sondern auch mit einer kolonialistischen Haltung, die durch NS-Deutschland brutal ins Werk gesetzt wurde, zuvor aber über Jahrhunderte in Wellen deutscher Siedlungsbewegungen ihren Ausgang genommen hatte.7
Orientalismen können, wie Said hervorhob, kolonialen Herrschaftsformen den Weg ebnen, weil sie die imperiale Einstellung gegenüber einem gewissen geografischen Raum intellektuell absichern. Sie müssen aber nicht an koloniale Kontexte gebunden sein. Innereuropäischer Orientalismus richtete und richtet sich immer wieder auch gegen eigene Staatsangehörige – ein Nebenprodukt, um nicht zu sagen Abfallprodukt, der Nationsbildung, in deren Zuge kulturelle Abgrenzungen innerhalb desselben Herrschaftsverbands quasi abgestufte Inklusion ermöglichten.
Das beste Beispiel in der deutschen Geschichte waren neben den Juden vielleicht die Katholiken im Kaiserreich. Auch in Italien oder Frankreich oder im Vereinigten Königreich, wo die Regionalidentitäten Schottlands oder Wales’ nicht einfach »da« waren, sondern gemacht wurden,8 aber auch in Polen oder der Ukraine, existierten und existieren Binnenorientalismen, die den zivilisatorischen Grenzsaum nicht immer in östlicher Himmelsrichtung verorten. Im italienischen Diskurs um den Mezzogiorno wie auch in anderen binären Nord-Süd- oder Stadt-Land-Unterscheidungen werden meist Entwicklungsgefälle, aber auch kulturelle Stereotype grundlegender Andersartigkeit der Bewohner transportiert, die bis heute tiefe Spuren hinterlassen.9 Nicht der geografische Osten, sondern das Othering eines bestimmten, meist peripheren (Binnen)Raums und seiner Bewohner zum Zweck der Stabilisierung einer gewollten Normidentität macht Orientalismus aus. Doch es gibt einige Besonderheiten im aktuellen deutsch-deutschen Fall.
Imaginäre Geografien, die Produkt von Orientalismen sind, weisen nicht nur irgendwie strukturell zusammenhängende Großräume aus, sie verknüpfen diese Räume auch mit spezifischen Zeitlichkeiten. Der orientalisierte Raum kann entweder als gänzlich geschichtslos und damit als statisch imaginiert werden (»Afrika«) oder als in jüngeren Epochen degeneriert (»der Orient«, womit der arabisch-muslimische Raum an den altorientalischen Hochkulturen gemessen wird). Innereuropäische, aber auch globale Orientalismen der Gegenwart markieren den orientalisierten Raum meist als zurückgeblieben, in Traditionen oder Gewalthaftigkeit verhaftet, also in der Entwicklung zur »Moderne« hinterherhinkend (»der Süden«).
Der innerdeutsche Orientalismus hingegen ist eine an sich verzeitlichte Denkweise, im Grunde eine Antiquiertheit. Die Konstruktion des »Ostens« kommt einer Zeitreise in die jüngere Zeitgeschichte, in die Jugendzeit der eigenen Eltern gleich. Jeder Sprechakt, der »den Osten« entwirft, überzieht einen gegenwärtigen Raum mit der Patina der DDR und verweist dabei auf seine eigene Zugehörigkeit zum Vergangenen, zur »alten« Bundesrepublik. Der innerdeutsche Orientalismus ist eine Verweigerungshaltung, den betrachteten Raum wie auch den Raum, aus dem heraus betrachtet wird, mit der gesamtdeutschen Gegenwart zu synchronisieren; er ist eine spezifische Art, die Brille des Kalten Kriegs aufzusetzen und aufzubehalten. Nicht nur die Zeitschicht der untergegangenen DDR, sondern auch die der »alten« Bundesrepublik ragt wie ein Rathausturm in das Panorama des gegenwärtigen »Ostens« hinein.
Apropos Zeitreisen und Rathaustürme: Im ersten und dritten Teil von Back to the Future landen Marty McFly und Doc Brown in Vergangenheiten, denen sie nicht mehr leicht entkommen können. Der Treibstoff fehlt, um die Zeitmaschine, einen DeLorean, auf Speed zu bringen. Beide Filme handeln letztlich davon, ausgetüftelte Konstellationen in der bereisten Vergangenheit zu finden, um einen energetischen Effekt zu erzeugen, der dem einer brennstofftechnisch fortgeschrittenen Zukunft gleichkommt. Wieso aber lässt sich kein passender Treibstoff finden, um den DeLorean der Bundesrepublik zurück in die Zukunft zu schicken?
Die aufarbeitende Erzeugung des Ostens
Auf Revolutionen und politische Transitionen folgten in der Geschichte häufig neue Formen...
Erscheint lt. Verlag | 27.9.2023 |
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Reihe/Serie | MERKUR | MERKUR |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Debatte • Essay • Essayistik • Essays • Geschichte • Gesellschaft • Kunst • Literatur • Philosophie • Politik |
ISBN-10 | 3-608-12177-3 / 3608121773 |
ISBN-13 | 978-3-608-12177-3 / 9783608121773 |
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Größe: 1,4 MB
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