Komandir brigady (eBook)
197 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7575-8144-2 (ISBN)
1988 in Kühlungsborn geboren, schreibt und musiziert Robin Bade seit Jahren in Hamburg.
1988 in Kühlungsborn geboren, schreibt und musiziert Robin Bade seit Jahren in Hamburg.
Schienen
12.06.1938
Mischa hatte sieben staubige Lampen aus dem Ruhestand getriezt. Als Abstellkammer schien dieses Zimmer das letzte Jahrzehnt in Vergessenheit geraten zu sein. Möglicherweise war es erst wenige Stunden vor seiner Ankunft am Nachmittag vom Hotelpersonal entrümpelt worden. Und das mehr schlecht als recht. Denn weiterhin befand sich eine kuriose Anzahl ausgedienter Gegenstände an den Wänden sowie auf dem Tisch und in den Schränken, mit denen kein Gast etwas sinnvoll hätte anfangen können. Doch da Mischa aus einfachen Verhältnissen stammte, legte er keinen besonderen Wert auf Komfort. Außerdem hatte er ganz andere Sorgen als den Dreck und die Unordnung, die ihn umgaben. Und was er brauchte, das bot ihm diese Absteige zur Genüge – Licht.
Seit Stunden glühte der Raum wie sein Kopf über den leeren Seiten. Auf dem Boden lagen bereits für Himmel-Arsch-und-Zwirn befundene erste Versuche. Seine Stirn war schwitzig, das Hirn dahinter verzweifelt. Mit den Lederkoffern mit der goldenen Stickerei in der Mitte hatte er sich den Blickkontakt verboten. Hammer und Sichel. Damit hätte er besser umgehen können als mit Stift und Papier, dachte er. In einem der braunen Koffer befand sich seine Kleidung, das war der leichtere. In dem, der mit zwei Gürteln zusammengehalten wurde, lag sein Auftrag und der wog nicht nur symbolisch schwer. Mehrere hundert Blatt, die er würde füllen müssen, und hier saß er und haderte bereits mit der Einleitung. Da man ihm neben einigen Fässchen Tinte auch Farbbänder eingepackt hatte, gab es wohl eine Schreibmaschine im Außenposten, die auf seine ungeübten Tastenschläge wartete. Vor seinem inneren Auge sah er sich dort bis spät in die Nacht fahrig von links nach rechts die Buchstabenreihen absuchen, um ihnen Sätze zu entlocken, welche die Zentrale nicht bereuen lassen würde, ihn mit dieser Operation betraut zu haben. Der schlaksige Mann seufzte über die Situation und erinnerte sich an seine Beförderung vor wenigen Tagen in Moskau, die den Weg in dieses Schlamassel gelegt hatte. Die Worte hallten noch immer durch seinen Kopf.
»Also wenn einer wie Sie zum Komandir brigady erhoben wird, der auf der Hälfte, der mir vorgelegten Dienstberichte, das zweite S unserer schönen UdSSR unterschlägt, muss es schlimm um die Rote Armee bestellt sein!« Von dem gewaltigen Rundtisch aus hatte General Tscherkow Mischa diese Peinlichkeit entgegengeworfen und ihn mit seinen kalten Augen durchbohrt, während sich die anderen Hochdekorierten die Köpfe rot lachten. Zitternd hatte der Soldat die Lippen zu einem Lächeln bemüht. Und auch was dem folgte, hinterließ in Mischas trockenem Mund kaum den Geschmack eines Scherzes. So verzichtete er bei der Instruktion, die man bestenfalls als flüchtig beschreiben konnte, auf Verständnisfragen, und nickte alles untergeben vor dem Komitee ab, um sein letztes bisschen Gesicht zu wahren. Und wäre er nicht solch ein vaterlandstreuer Soldat, nun sogar von höherem Rang, und noch dazu auf Krücken, er wäre sicher davongelaufen.
Nachdem man das Nötigste an Informationen im frischgebackenen Brigadeführer untergebracht hatte, öffneten sich die wuchtigen Flügeltüren in seinem Rücken und dünne Genossen im feinen Zwirn brachten Schnaps-Gläser herbei. Es gab Wodka für alle und zwei Koffer für ihn. In einem seine neue Uniform, in beiden eine ungewisse Zukunft. »Sa znakómstwa!« – Darauf, dass wir uns kennengelernt haben! Und mit einem Kloß im Hals setzte Mischa den Wodka an die Lippen. Auf Glück oder Wohl hätte er lieber angestoßen.
Im Hier und Jetzt hingegen polterte es an die Zimmertür und die Stimme des Portiers erklang. »Genosse, eh? Man holt Sie ab! Soll ich mit den Koffern helfen?«
Mischa erinnerte sich an den Kerl, der nur aus Oberarmen zu bestehen schien, und schluckte seinen Stolz herunter. »Es ist offen! Danke, ja. Ich hab mich noch nicht eingespielt mit dem Bein.«
Die Tür schwang auf und der Türdrücker der Innenseite rumste gegen den Kleiderschrank des beengten Raums wie unzählige Male zuvor, das verriet die eingedrückte Stelle im Holz. Mischa war zusammengefahren. Der Portier deutete einen militärischen Gruß an, grinste mit offenem Mund und griff sich die Koffer. »Sie nehmen noch mal alle Elektrizität mit, bevor’s sich in Sibirien nur noch von Öl und Sprit lebt, was?«
Mischa nickte schneller, als er verstand, dass der Angestellte die Beleuchtung gemeint hatte. Doch bevor er etwas entgegnen konnte, waren seine Habseligkeiten schon die Treppe runter. Er war dankbar für die raue und einfache Art des Portiers. Was er hasste, war das Drumherum-Gerede, das versteckte Interesse an seinem Bein und das Gestarre, das er durch jeden noch so großen Raum spüren konnte. Mischa atmete durch. Er half sich in die Aufrechte und manövrierte die zerknüllten Blätter auf den Dielen mit seiner Gehhilfe zur Wand neben den Mülleimer. Mehr Anstand war ihm momentan nicht möglich. Hastig zog er sich den neuen Kommandeurs-Mantel über, nahm seinen Hut vom Schreibtisch und knipste die Lampen aus.
Unten an der Tür salutierte ihm sein Fahrer und bevor Mischa sich auf die Rückbank des schmalen Wagens schwang, fragte er den Portier: »Wie kommen Sie darauf, dass es mich nach Sibirien verschlägt?«
»Ach, hierher kommt doch niemand, der nicht dorthin muss. Und nur die wenigsten sehe ich wieder. Aber Sie haben eine Chance, Genosse. Es ist Sommer.« Und mit dem Fuß trat er die Autotür ins Schloss.
Mischa sann diesen Worten nach, während der blaue NAMI-1 mit den breitgewölbten Kotflügeln durch die schlecht gepflasterten Gassen knallte und ihm der Fahrtwind ins Gesicht blies. Die Häuser der Stadt Arsk, von den kreisrunden Lichtern des Wagens geblendet, sahen so elendig aus, wie er sich selbst fühlte. Die Hungersnöte in den vorangegangenen Jahren hatten nicht nur die Mägen seiner Landsleute gebeutelt und zu allem Übel redeten die Stimmen im Radio jetzt Tag für Tag hektischer vom deutschen Aufrüsten. Schon wieder. Und er musste nach Sibirien. Abgeschnitten von allem einen Außenposten schließen. Den Buhmann spielen, noch dazu als Krüppel. Man würde ihn dort hassen, davon war er überzeugt.
Sie kamen ans Ende der Stadt. Plötzlich sprang das Automobil auf ein Feld. Von der Vorderbank des Fahrers kam ein zu spätes »Festhalten!«, da war dem Ruck folgend bereits die Generalsmütze vom Kopf geschlagen und im zusammengeklappten Faltdach am Wagenende gelandet.
»Was tun Sie da, zum Teufel?!«, schrie der Brigadeführer nach vorne und hatte zu tun, seine Krücke im Auto zu behalten.
»Entschuldigung, Herr Kommandeur! Das ist so korrekt.« Er ließ den Wagen langsamer werden, damit man ihn besser verstand, und drehte sich zu seinem bleichen Fahrgast. »Wegen der Schienen.«
»Was, wegen der Schienen? Geben Sie sofort Auskunft, Gefreiter! Ich hätte mir die Zunge bei Ihrem Manöver abbeißen können! Ihr Befehl lautet, mich zum Bahnhof zu bringen. Lebendig! Und wo, wo sind wir hier?«
Der Jungspund am Lenkrad wurde sichtlich nervös. »Die bauen die Schienen Ihrer Strecke ab. Darum müssen wir sie einholen.«
»Haben Sie getrunken, Genosse?«
»Mein Cousin hat heute geheiratet!«
Der Brigadeführer schnaufte. Der Schreck war verflogen und hatte den goldenen Chevrons auf seinen Ärmeln Platz gemacht. »Schön, schön. Trotzdem dürfen Sie nicht fahren wie ein Besengter. Und was reden Sie da mit den Schienen? Wieso werden die Schienen abgebaut?«
»Ich schätze wegen Hitler. Haben Sie von dem gehört? Dieser Reichskanzler aus Deutschland, der so viel auf deren Rasse gibt und dabei selbst aus Österreich kommt.« Er prustete los.
»Reißen Sie sich zusammen, Genosse!«, fluchte Mischa und sofort verstummte der Mann. »Wegen Hitler, wegen Hitler. So tönt es ja aus allen Empfängern! Das können Sie wohl meinen, dass ich als Komandir brigady davon gehört habe. Natürlich! Wir müssen diesem Faschisten die Stirn bieten! Los jetzt, fahren Sie! Und vor Ort suchen Sie mir jemanden mit höherem Dienstgrad, verstanden?«
»Natürlich, Herr Kommandeur!«
Die Fahrt ging weiter und sein Abenteuer wurde mysteriöser. Er hatte nicht einmal genügend Zeit gehabt, über die bevorstehenden Qualen der Tundra nachzudenken, da klang es schon, als würde er dort vielleicht gar nicht hingelangen.
Bauten sie die Schienen im Landesinneren ab, um die Infrastruktur an den westlichen Grenzen zu verstärken, sollte wirklich ein Krieg drohen? Ja, so musste es sein. Doch hätten sie nicht die fünf Wochen warten können, bis er mit seinen Männern und den brauchbaren Rohstoffen zurückkehrte?
Der Typ am Steuer summte einen Schlager, den Mischa nicht kannte. Die Luft war angenehm warm hier. Das würde sich ändern, sobald er in den Zug stieg, dessen Silhouette sich nun in der Ferne vom Mondlicht abhob, wenn er es recht sah. Denn obwohl der Fahrer das Tempo gedrosselt hatte, schwankte der Wagen weiterhin über Stock und Stein. Zwei Tage ohne nennenswerte Pausen gen Nord-Osten standen bevor, falls es noch genügend Gleise gab.
Ihm fiel etwas ein. »Genosse, wissen Sie von den beiden Arbeitern, die mit mir nach Sibirien fahren?«
»Genosse weiß nichts«, kicherte der Fahrer und reichte einen verbeulten Flachmann nach hinten. Mischa nahm an. Nützlicheres hatte er von diesem Kerl eh nicht zu erwarten. Der Wodka war ein schlechter Selbstgebrannter, aber er lockerte etwas in ihm.
Als der NAMI zum Stehen kam und mit dem Motor das Licht erstarb, brauchte der Brigadeführer einen Moment, um sich zu orientieren.
Sie parkten auf dem verwaisten Gleisbett, wie das...
Erscheint lt. Verlag | 23.8.2023 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Dramatik / Theater |
Schlagworte | Drama • historisch • Krimi • Nenzen • Rote Armee • Sibirien • Sowjetunion |
ISBN-10 | 3-7575-8144-X / 375758144X |
ISBN-13 | 978-3-7575-8144-2 / 9783757581442 |
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