Keine Reue (eBook)
416 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-27178-7 (ISBN)
Eigentlich könnte man Barbara Maienfeld beneiden. Sie lebt in einer schönen Stuttgarter Altbauwohnung, mit dem Mann, den sie seit Studententagen liebt. Niemand ahnt, dass ein Verrat ihrem Glück zugrunde liegt. Doch nun stehen die Maienfelds kurz davor, alles zu verlieren. Und der einzige Weg, der sie retten kann, stößt die Tür zu ihrer Vergangenheit auf - mit der sie längst abgeschlossen hatten. Damals, Ende der 80er Jahre, wohnten die Maienfelds mit ihren Kindern zurückgezogen in der Eifel. Scheinbar genossen sie dort die ländliche Idylle - doch tatsächlich versteckten sie sich vor dem Verfassungsschutz. Bis zu einem verhängnisvollen Tag.
Jetzt, Jahrzehnte später, erkennt Barbara, dass das Vergangene nie wirklich vorbei ist. Und schon bald balancieren die Maienfelds zum zweiten Mal in ihrem Leben am Rande eines Abgrunds ...
»Meisterhafte Erzählkunst verbindet sich bei dieser Autorin mit psychologischer Spannung.« Süddeutsche Zeitung
Ellen Sandberg. Jeder Roman ein fesselndes Leseerlebnis.
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Ellen Sandberg arbeitete zunächst in der Werbebranche, ehe sie sich ganz dem Schreiben widmete - mit riesigem Erfolg: Ihre psychologischen Spannungs- und Familienromane, die immer monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste stehen und denen immer ein wichtiges Thema unserer deutschen Vergangenheit zugrunde liegt, bewegen und begeistern zahllose Leserinnen und Leser - wie zuletzt »Das Geheimnis«, »Das Unrecht« und »Keine Reue«. 2022 wurde ihr der Verfassungsorden des Freistaats Bayern verliehen. Unter ihrem bürgerlichen Namen Inge Löhnig veröffentlicht sie erfolgreiche Kriminalromane.
Dienstag, 19. November 2019
Barbara
Als Barbara Maienfeld an diesem Morgen im November den Tisch in der Essecke deckte, lag das Schreiben der Bank noch immer auf dem Sideboard, und für einen Moment stieg Angst in ihr auf. Sie würden die Wohnung verlieren, wenn Gernot nicht endlich etwas unternahm.
Entschlossen rang sie diese Vorstellung nieder. Das Problem musste sich lösen lassen. Wie jedes andere auch. Die Alternative war undenkbar.
Vor der Glasfront pladderten Regen und Graupel auf die Dachterrasse. Barbara kehrte in die Küche zurück und löffelte frisch gemahlenes Kaffeepulver in die Stabfilterkanne. Sie ließ das Wasser ein wenig abkühlen, bevor sie den Kaffee aufgoss, stellte den Timer auf neunzig Sekunden und warf so lange einen Blick aus dem Fenster. Eine graue Wolkendecke hing über dem Heusteigviertel von Stuttgart. Unten auf der Straße eilten die Menschen vorüber. Gegenüber öffnete die Bank, und Barbara dachte an Brecht. »Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?« Vielleicht sollten sie einen Banküberfall als Ultima Ratio in Erwägung ziehen. Sie lachte auf.
Im Fenster war ihr Spiegelbild wie ein Schemen zu erkennen. Noch immer war sie eine attraktive Frau und wurde regelmäßig auf etwa fünfzig geschätzt, dabei war sie jenseits der sechzig. Sie war schlank und sportlich. Die guten Gene ihrer Mutter hatten sie lange vor Falten bewahrt. Das schulterlange Haar ließ sie, seit es grau wurde, im ursprünglichen Mahagonibraun färben. Sie achtete auf ihre Figur und ging freitags zum Yoga. Und noch immer trug sie am liebsten Jeans und dazu heute einen cremefarbenen Kaschmirpullover.
Der Timer bimmelte. Barbara rührte den Kaffee um, setzte den Deckel auf und drückte den Satz mit dem integrierten Filter auf den Boden. Mit der Kanne kehrte sie an den Frühstückstisch zurück.
Sie hörte, wie Gernot ins Bad ging, während sie sich Kaffee einschenkte, und zögerte, ob sie erst konkret, die taz oder den SPIEGEL lesen sollte. Sie griff zu konkret. Der Anschlag von Halle und die antisemitische Bedrohung durch extrem Rechte waren Titelthema. Der SPIEGEL machte mit Friedrich Merz auf, der seit Wochen die Kanzlerin attackierte und hoffte, damit auf dem CDU-Parteitag zu punkten. Sollten sich die Schwarzen ruhig gegenseitig metzeln. Es gefiel ihr. Die taz befasste sich mit Neonazis und der AfD. Noch immer gab es einen braunen Bodensatz in diesem Land der Täter, und jährlich wurde er dicker. Barbara warf die Zeitung auf den Tisch, die Sorgen kehrten zurück.
Gestern hatte sie die Kinder angerufen und um finanzielle Hilfe gebeten, obwohl sie wusste, dass das ein nahezu aussichtsloses Unterfangen war. Zuerst Leon, der eine gut bezahlte Position als Ausbilder bei der Luftwaffe hatte. Ausgerechnet zur Bundeswehr war er gegangen. Sie wusste nicht, weshalb er diesen Beruf gewählt hatte. Vielleicht um sie zu ärgern. Auszuschließen war das nicht. Das Gespräch hatte nicht lange gedauert. Er hatte sich das Problem mit der Hypothek ruhig angehört und sie schließlich ihre Bitte um finanzielle Unterstützung vorbringen lassen. Anstatt das von sich aus anzubieten, wie sie insgeheim gehofft hatte. »Tut mir leid, Barbara. Wie du weißt, haben Meike und ich letztes Jahr ein Haus gekauft und uns für die nächsten dreißig Jahre verschuldet. Ich kann euch nicht helfen. Ich frage mich allerdings, wie ihr auf die Idee kommt, dass ich es tun würde, wenn ich könnte.«
Ihr nächster Anruf hatte Luise gegolten. Die hatte gelacht. »Du spinnst. Wieso denkst du, dass ich was auf der hohen Kante habe? Außerdem schulde ich euch nichts. Ciao.« Luise hatte aufgelegt, bevor Barbara etwas erwidern konnte. Lediglich Ben, der Manager bei einem Versicherungskonzern in München war und gut verdiente, wollte es sich überlegen und sich in den nächsten Tagen melden. Er war schon immer der Vernünftigste von den dreien gewesen.
Sie schenkte sich Kaffee nach und fragte sich auf einmal, ob es nicht besser gewesen wäre, sich vor beinahe dreißig Jahren nicht von Gernot breitschlagen zu lassen, das Erbe ihrer Eltern anzunehmen. Dann müsste sie jetzt auf nichts verzichten. Denn sie hätte dieses Leben in Wohlstand nie kennengelernt. Ein Leben, das ihr früher gegen den Strich gegangen war. Anfangs mehr, dann kaum noch und inzwischen gar nicht mehr. Sie hatte sich daran gewöhnt und wollte es nicht aufgeben.
Ohne Gernots Überredungskünste hätten sie die Wohnung nicht gekauft und würden nicht zwischen Designermöbeln leben. Würden ihren Kaffee nicht in Ritualen zubereiten, geschweige denn teuren Wein aus Frankreich und Italien kaufen, Kaschmirpullover tragen und zwei große Autos fahren. Sie waren zu bourgeoisen Salonlinken verkommen, die Wasser predigten und Merlot tranken. Sprich: den Kapitalismus für das Elend der Welt verantwortlich machten, sich aber gemütlich darin eingerichtet hatten. Einmal hatte Gernot sogar an der Börse spekuliert und ihr einen Verlust gestanden. Sie war ausgeflippt. Nicht wegen des verlorenen Geldes, sondern weil er damit ihre Ideale verraten hatte. Ihr Mann, ein Börsenspekulant! Doch Gernot war es auch damals, nachdem einige Tage Eiszeit zwischen ihnen geherrscht hatte, gelungen, ihr das schönzureden.
Dieses besudelte Erbe ihrer Eltern. Sie hätte es nicht annehmen sollen. Natürlich hatte sie viel davon gespendet. Unzählige Projekte in Lateinamerika und Afrika hatte sie unterstützt, ebenso wie Kampagnen gegen Krieg und Folter. Doch unterm Strich betrachtet war das der deutlich kleinere Teil gewesen.
Barbara sah hinaus in den grauen Himmel über Stuttgart. Mit einem Umzug hatte Gernot sie damals herumgekriegt. Weg aus der Eifel, zurück in die Stadt. »Frankfurt. München. Stuttgart. Egal. Such dir aus, wo du leben willst. Ich kann überall arbeiten.« Es war verlockend, das Landidyll hinter sich zu lassen. So hatte sie das alte Haus in Buchsweiler ironisch genannt, in dem sie damals lebten. Nicht weil es so heruntergekommen war – zu jener Zeit hatte ihr Komfort nichts bedeutet –, sondern die Menschen so kleinbürgerlich und spießig. So neugierig und engstirnig. In diesem dörflichen Gefüge hatte jeder seinen Platz, nur sie nicht. Sie, die Anwältin des »linken Gesindels«. Gernot, der Publizist, der seit Jahren gegen die Ungleichheit und die Auswüchse des Kapitalismus anschrieb. Die Bewohner von Buchsweiler wurden mit ihnen, den Intellektuellen aus der Stadt, die sich die marode Mühle hatten andrehen lassen, nicht warm und umgekehrt. Es war das Gegenteil einer Idylle. Sieben endlos lange Jahre Dorfleben lagen hinter ihr, als ihre Eltern 1989 kurz nacheinander starben. Sie war zu keiner der Beisetzungen gefahren. Der Bruch war so endgültig, dass ihre Eltern ihre Enkelkinder nicht kannten. Und dann war eines Tages das Schreiben des Nachlassgerichts gekommen. Ihre Eltern hatten ihr zwar mit Enterbung gedroht, hatten das aber nie in die Wege geleitet. Plötzlich stand ihr ein Teil des Millionenvermögens zu, dessen Grundstock im Dritten Reich gelegt worden war. Die Ausbeutung von Zwangsarbeitern hatte der Textilfabrik ihrer Eltern grandiose Gewinne beschert. Die Verschleppten nähten die Uniformen ihrer Peiniger. Sie hungerten und froren. Sie schufteten sich zu Tode, und ihre Eltern rissen die rechten Arme hoch, brüllten »Sieg Heil!« und scheffelten schamlos das Blutgeld.
Barbara war bereits zwanzig gewesen und studierte in Heidelberg, als sie das herausfand. Sie versuchte ihre Eltern zur Rede zu stellen, was man ihr aber verweigerte. Das alles gehe sie nichts an. Man sei weder ihr noch den »Gammlern und Hippies« Rechenschaft schuldig, die von nichts eine Ahnung hatten, aber Krawall machten. Es seien damals andere Zeiten gewesen. Basta. Und dann das Erbe. Es kam völlig unerwartet. Aus heiterem Himmel.
Für einen Moment sah Barbara sich wieder an dem Küchentisch in Buchsweiler sitzen, an diesem Tag, der alles veränderte.
*
Es war ein sonniger Septembertag 1989. Vor ihr lag die Akte eines ehemaligen Fürsorgezöglings, den man mit einer illegalen Waffe erwischt hatte und der sich nun wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vor Gericht verantworten sollte. Die Staatsanwaltschaft hatte keinerlei Beweise. Sie stützte ihre Anklage auf die Tatsache, dass der Mann Fürsorgezögling gewesen war, und von denen hätten sich ja einige der RAF angeschlossen. Eine unhaltbare These. Diese Argumentation ließ sich mit Leichtigkeit demontieren. Doch verdienen würde sie damit nichts. Denn diesen Mandanten betreute sie ehrenamtlich für das Forum gegen Folter.
Sie saß also mit seiner Akte an diesem warmen Spätsommertag am Küchentisch und war zuversichtlich, einen Freispruch zu erreichen. Gernot schrieb oben im Arbeitszimmer einen Artikel über die deutsch-südafrikanische U-Boot-Affäre. Das Ermittlungsverfahren und der Untersuchungsausschuss des Bundestags schleppten sich nun schon seit drei Jahren dahin, weil die Machthaber in Bonn den ermittelnden Staatsanwalt am ausgestreckten Arm verhungern ließen.
Sie hörte die Tastatur oben in Gernots Arbeitszimmer klappern, als sie den Postboten auf dem Weg zu ihrem Haus bemerkte. Er wich mit seinem gelben Wagen den Kindern aus, die sich ein Floß aus alten Brettern gebaut hatten, das sie nun Richtung Weiher schleppen wollten. Ben übernahm das Kommando. »Wenn ich ›Hau ruck‹ sage, heben wir alle gleichzeitig an.« Er war zehn und der Älteste. Ein stiller Junge. Viel zu ernst, aber auch verantwortungsbewusst. Leon und Luise, ihre zwei Jahre jüngeren Zwillinge, postierten sich auf der einen Seite, Ben auf der anderen. Er gab das Kommando. Sie hoben das Floß an, das nicht groß genug für drei war und nicht sehr...
Erscheint lt. Verlag | 1.11.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | 2023 • Bayerischer Verfassungsorden • beste deutsche krimiautoren • Bestseller • Bestseller 2023 • Bestsellerautorin • Charlotte Link • Das Erbe • Das Geheimnis • Das Unrecht • Deutscher Herbst • Die Schweigende • Die Vergessenen • eBooks • Elisabeth Herrmann • Elizabeth George • Erinnerung • Familie • Familiengeheimnis • Joy Fielding • Neuerscheinung • RAF • Sabine Thiesler • Schuld • Siebzigerjahre • Tana French • Thriller • Weihnachtsgeschenke • Weihnachtsgeschenke für Frauen • Weihnachtsgeschenke für Männer • weihnachtsgeschenke kleinigkeiten |
ISBN-10 | 3-641-27178-9 / 3641271789 |
ISBN-13 | 978-3-641-27178-7 / 9783641271787 |
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