Blutsbande (eBook)
480 Seiten
C. Bertelsmann (Verlag)
978-3-641-29907-1 (ISBN)
1990, in einer alten Scheune mitten in der weiten, sumpfigen Landschaft der englischen Ostküste: Die Einwohner des nahegelegenen Dorfs versammeln sich zu einer Geburtstagsfeier. Nur die Frau des Jubilars fehlt. Niemand scheint sich echte Sorgen um die freiheitsliebende, impulsive Charlotte zu machen - einzig ihre Tochter Etty fürchtet, dass ihrer Mutter etwas Schreckliches zugestoßen sein könnte. Wenig später wird die Leiche eines Dorfbewohners im Fluss gefunden. Und Charlotte bleibt vermisst.
Viele Jahre später kehrt Etty an den Ort ihrer Kindheit zurück, um ihr Elternhaus auszuräumen, weil der Vater in ein Pflegeheim muss. Die Ereignisse von damals haben die Familie zerrüttet. Als im Dorf erneut ein furchtbares Verbrechen geschieht, wird Detective Maud O'Connor mit dem Fall beauftragt. Bei ihren Ermittlungen stößt sie auf Hinweise, die in die Vergangenheit führen - und auf eine Mauer des Schweigens. Denn niemand hat Charlotte jemals wieder gesehen ...
Hinter dem Namen Nicci French verbirgt sich das Ehepaar Nicci Gerrard und Sean French. Seit langem sorgen sie mit ihren höchst erfolgreichen Psychothrillern international für Furore. Sie leben im Süden Englands.
1
Wo ist Charlie?«
Etty verstand ihn nicht. Die Party hatte gerade erst begonnen, aber die Luft war bereits erfüllt von Stimmengewirr, und auf der Anlage lief Neil Young. Sie strich sich die Locken aus dem Gesicht und beugte sich zu Greg Ackerley hinüber.
»Was?« Lächelnd betrachtete sie seine betrübte Miene.
Ihr selbst war leicht ums Herz, ein Gefühl von Vorfreude durchströmte sie. Das Schulhalbjahr war zu Ende. Sie freute sich auf die Weihnachtsfeiertage, Partys, Ausflüge und schläfrige Vormittage im Bett. Greg erwiderte ihr Lächeln. Sie stand so dicht neben ihm, dass sie seinen Duft riechen konnte und die Schweißperlen an seiner Stirn glitzern sah. Er hatte richtig hart gearbeitet, um das alles vorzubereiten.
Etty hatte schon genug Brüder, vielleicht sogar zu viele. Trotzdem war er für sie immer ein bisschen wie ein weiterer Bruder gewesen. Sie betrachtete seine markanten Wangenknochen, seine blauen Augen, seine besorgte Miene. Er war attraktiv, süß, ein bisschen schüchtern. Wäre er nicht wie ein Bruder für sie … Wäre er nicht drei Jahre älter … Sie empfand das alles als ziemlich verwirrend. Außerdem hatte sie an diesem Abend einen anderen Jungen im Kopf.
»Was?«, fragte sie noch einmal.
»Wo ist deine Mutter?« Dieses Mal sprach er deutlicher und langsamer, wie zu einer Schwerhörigen. »Ich möchte, dass sie sieht, wie schön alles ist. Bevor die Meute es verwüstet.«
Etty ließ den Blick durch die Scheune schweifen. Greg und sein Vater Duncan hatten den gesamten gestrigen Tag gebraucht, um das ganze Gerümpel hinauszuschaffen und dann alles zu fegen und zu putzen. Jetzt war der Raum mit Blumen, Girlanden, Bändern und bunten Lichtern geschmückt. Der lange Arbeitstisch, hinter dem Greg stand, war bedeckt mit Flaschen, Gläsern und einem riesigen Punschtopf, um den sich Grünzeug wand. Am anderen Ende der Scheune gab es eine Auswahl an Quiches, Dips und Fingerfood.
»Ist sie noch nicht da?«
»Nein.«
Etty schnaubte genervt.
»Zu mir sagt sie, ich soll früh hier sein, aber selbst hält sie es nicht für nötig, rechtzeitig zu erscheinen. Wahrscheinlich wünscht sie sich einen großen Auftritt.«
Während Greg in Ettys gerötetes Gesicht blickte, ging ihm durch den Kopf, dass sie wohl gar nicht zu schätzen wusste, was für ein besonderer Mensch ihre Mutter war und was für ein Glück sie hatte, deren Tochter zu sein, statt beispielsweise die Tochter seiner eigenen Mutter Frances, die oft den Großteil des Tages im Bett lag oder mit hängenden Schultern und leerem Blick in einem Sessel saß. Etty hielt die Vitalität und Herzlichkeit ihrer Mutter für selbstverständlich, fand sie sogar peinlich, weil sie nicht begriff, dass diese herzliche Art wie ein Feuer war, an dem man sich wärmen konnte.
Etty registrierte Gregs überraschte Miene und hatte einen Augenblick das Gefühl, ihre Mutter zu verraten, schob den Impuls jedoch gleich wieder beiseite. Am Eingang der Scheune wartete ihre Clique auf sie: Kim und Rosa und auch Robbie aus der Klasse über ihr. Etty wusste, dass er ihretwegen hier war.
Ein Blitzen ließ sie die Augen zusammenkneifen. Ihr Bruder Niall fotografierte mit einer Polaroidkamera.
»Die gehört Keith«, erklärte er, während er sie erneut ins Visier nahm. »Sie wird es nicht so richtig einfangen.«
»Ich hatte den Mund voll«, schimpfte Etty. »Du solltest keine Fotos von Leuten machen, die gerade essen.«
Niall betrachtete den Tisch und deutete entrüstet auf das Grünzeug, das den Punschtopf zierte.
»Ist das nicht ein Trauerkranz? Wie für eine Beerdigung?«
»Der wurde versehentlich geliefert«, erklärte Greg. »Er gehört Doris Winter. Die ist letzte Woche gestorben, mit siebenundneunzig. Wahrscheinlich wird er erst morgen wieder abgeholt. Ich dachte mir, sie hätte bestimmt nichts dagegen, wenn wir ihn vorübergehend zweckentfremden.«
»Ist das dein Ernst, was du da anhast?«, wandte sich Niall an Etty.
Etty blickte an sich hinunter, als sähe sie ihre Kleidung zum ersten Mal: ein kurzes schwarzes Kleid mit einem Flanellhemd darüber. Dazu trug sie ihre Doc Martens.
»Sieht ganz danach aus.« Sie hatte nicht das Gefühl, sich dafür entschuldigen zu müssen. Niall trug einen grauen Anzug, der spannte, als wäre er ihm ein paar Nummern zu klein, und dazu eine violette Krawatte mit einem großen, klobigen Knoten. Greg steckte in einer farbbespritzten Jeans und einem alten Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Dazu hatte er eine schäbige Kappe aufgesetzt, die meist sein Vater trug.
Ein paar Meter von ihnen entfernt entdeckte sie ihre zwei anderen Brüder, in ein Gespräch vertieft. Etty redete sie in einem Ton an, der fast schon wie ein Befehl klang.
»Paul, Ollie, kommt mal rüber!«
Die beiden latschten auf sie zu. Ollie hob eine Hand, um Greg zu begrüßen, der während ihrer ganzen Schulzeit in seinem Jahrgang gewesen war, aber nie ein enger Freund. Greg erwiderte den Gruß, indem er kurz seine Bierflasche hob, ehe er einen großen Schluck daraus nahm.
»Niall findet, ich bin unpassend gekleidet«, erklärte Etty.
»Was soll das denn überhaupt heißen?«, entgegnete Paul.
Ollie grinste. »Nette Krawatte, Niall.«
»Ich komme direkt aus der Arbeit«, antwortete Niall. Es klang, als würde er ihnen allen dreien das irgendwie zum Vorwurf machen. In diesem seltsamen gesellschaftlichen Rahmen fand Etty es plötzlich fast komisch, wie unterschiedlich ihre Brüder aussahen. Niall war ein großer, kräftig gebauter Kerl mit schwerem Gang. Sein sandfarbenes Haar trug er kurz geschnitten. Obwohl Ollie und Etty noch zu Hause lebten, hatte Niall bereits den halb resignierten, halb anklagenden Blick des Kindes, das geblieben war – des Sohnes, der ins Familiengeschäft eingetreten war.
Paul schaute nicht nur anders aus, sondern schien einer völlig anderen Art anzugehören. Er war klein und dünn und hatte ein weiches, rundes Gesicht, das ihn jünger wirken ließ als einundzwanzig. Bei ihm handelte es sich um das Kind, das weggegangen war, um zu studieren. Er sprach nie darüber, doch Etty hatte das Gefühl, dass es nicht gut lief und irgendwo schlechte Nachrichten lauerten, von denen Paul ihnen aber bisher nichts gesagt hatte. Paul erzählte grundsätzlich niemandem etwas.
Ollie war der Bruder, der ihr ähnelte. Zumindest sagten die Leute das. Sie beide galten als die Spaßvögel, die Partymäuse, die Anhänger von Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll. Wobei es natürlich so einfach nicht war. Nichts ist jemals einfach. Trotzdem hatte Etty das Gefühl, dass man sie beide so einschätzte: Niall irritierte die Leute, Paul beunruhigte sie, aber für Etty und Ollie würde es immer gut laufen.
»Wir sollten ein Foto von uns schießen lassen«, bemerkte Etty, während sie ihrer Clique mit einem Handzeichen zu verstehen gab, dass sie bald zu ihnen stoßen würde.
»Warum?«, fragte Niall.
»Wir sind alle zusammen. An Dads fünfzigstem Geburtstag.«
Sie nahm Niall die Kamera ab und überreichte sie einem Mann mittleren Alters, mit der Bitte, ein Foto von ihnen zu machen. Sie stellten sich zu einer Gruppe zusammen.
»Bitte lächeln«, forderte der Mann sie auf.
»Ja, lasst uns lächeln, als wären wir auf einer Feier, die uns Spaß macht«, meinte Ollie.
»Ach, in Gottes Namen!«, stöhnte Niall.
Als das Polaroidfoto dann zum Vorschein kam, zeigte es Niall, wie er Ollie wütend anfunkelte, während Paul mit leerem Blick vor sich hin starrte. Nur Etty hatte sich lächelnd der Kamera zugewandt. Im Hintergrund war ein verschwommener Greg mit Bierglas auszumachen.
»Perfekt«, befand Ollie, »und jetzt verschwinde ich, um mich draußen mit ein paar Leuten zu treffen und genug zuzudröhnen, um den Rest des Abends ertragen zu können.«
Während er das Weite suchte, wandte Etty sich an Paul.
»Alles in Ordnung bei dir?«
»Ich bin irgendwie nicht in der richtigen Stimmung.«
Etty ging durch den Kopf, dass er mittlerweile nie in der richtigen Stimmung war, antwortete ihm aber so fröhlich, wie sie nur konnte.
»Ich glaube, das sind wir alle nicht.«
»Wolltest du nicht noch zu einer anderen Party?«
Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung ihrer Freunde.
»Ja, wir verdünnisieren uns, sobald wir können.«
Paul murmelte irgendetwas Unverständliches, griff nach einer Bierflasche und entfernte sich. Obwohl er sechs Jahre älter war als sie, wirkte er immer noch sehr jung und unreif. Als Kind hatte sie ihm nahegestanden, doch inzwischen verursachte er ihr ein Gefühl von Beklemmung. Er wirkte so still, einsam und argwöhnisch. In seiner Gegenwart empfand sie Schuldgefühle, weil sie einen Freundeskreis besaß, mit Jungs zusammen war und Spaß hatte. Und diese Schuldgefühle machten sie wütend.
Kim trat neben sie und legte ihr eine Hand auf den Arm.
»Komm, lass uns verschwinden«, flüsterte sie.
»Moment noch.« Etty wandte sich zu Niall um. »Hast du Mum gesehen?«
Niall runzelte die Stirn. »Ist sie denn nicht mit dir gekommen?«
»Ich bin nicht von zu Hause her, sondern direkt von Kim. Ist Penny da?«
Penny war Nialls Freundin. Die Erwähnung ihres Namens ließ ihn noch missmutiger dreinblicken.
»Keine Ahnung, ob sie überhaupt kommt.«
»Wieso?«
»Ich möchte hier und jetzt keine große Diskussion über Penny führen.«
»Soll mir recht sein.«
»Wenn Mum nicht bald auftaucht, verpasst sie noch Dads Rede.«
»Er...
Erscheint lt. Verlag | 14.2.2024 |
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Übersetzer | Birgit Moosmüller |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Has Anyone Seen Charlotte Salter |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | 2024 • barnaby • Bestseller • Bestseller 2024 • Bestsellerliste • bittere Wahrheit • Blauer Montag • Blutroter Sonntag • Charlotte Link • Claire Douglas • Der achte Tag • eBooks • Ein dunkler Abgrund • Eisiger Dienstag • Elizabeth George • England • Frieda Klein • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Lynley • Michael Robotham • Neuerscheinung • neuheiten 2024 • spiegel bestseller • Spiegelbestseller • SPIEGEL-Bestseller • Tana French • Thriller • thriller neuerscheinungen 2024 |
ISBN-10 | 3-641-29907-1 / 3641299071 |
ISBN-13 | 978-3-641-29907-1 / 9783641299071 |
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