Die Herrin der Minne (eBook)
400 Seiten
Acabus Verlag
978-3-86282-851-7 (ISBN)
Andrea Zech studierte Deutsch und Geschichte in Freiburg, Lyon und Berlin; ab 2008 promovierte sie mit einem Stipendium der Gerda-Henkel-Stiftung im Bereich Frauenmystik. Forschungsaufenthalte führten sie nach Leiden, Antwerpen und Paris. Sie lehrte an den Universitäten Basel und Freiburg. In ihrer Doktorarbeit (2015) beschäftigte sie sich mit schreibenden Frauen im Spätmittelalter: Mechthild von Magdeburg, Marguerite Porete und Hadewijch von Antwerpen. Gerne schreibt sie Kurzgeschichten, für die sie verschiedentlich mit Preisen (2021, 2022, 2023) ausgezeichnet wurde. Zur Inspiration reist sie vor allem durch Asien, Südamerika und europäische Städte. Aktuell studiert sie in Tübingen Latein.
Andrea Zech studierte Deutsch und Geschichte in Freiburg, Lyon und Berlin; ab 2008 promovierte sie mit einem Stipendium der Gerda-Henkel-Stiftung im Bereich Frauenmystik. Forschungsaufenthalte führten sie nach Leiden, Antwerpen und Paris. Sie lehrte an den Universitäten Basel und Freiburg. In ihrer Doktorarbeit (2015) beschäftigte sie sich mit schreibenden Frauen im Spätmittelalter: Mechthild von Magdeburg, Marguerite Porete und Hadewijch von Antwerpen. Gerne schreibt sie Kurzgeschichten, für die sie verschiedentlich mit Preisen (2021, 2022, 2023) ausgezeichnet wurde. Zur Inspiration reist sie vor allem durch Asien, Südamerika und europäische Städte. Aktuell studiert sie in Tübingen Latein.
1
Kein Sohn
„Ein Mädchen! Verdammt! Was soll ich damit anfangen?“ Die Stimme des grobgebauten Mannes wurde lauter. „Weib, sag mir: Warum hast du mir keinen Sohn geschenkt, einen Erben meines Namens?! Mein Geschlecht wird aussterben, und du bist schuld!“ Er wandte sich ab und stampfte zornig aus dem Zimmer. Der schmalen Frau liefen die Tränen über die Wangen, und sie wischte sie nicht ab.
„Na, na, wer wird denn da weinen, Herrin. Ihr habt ein kerngesundes kleines Mädchen zur Welt gebracht!“, mischte sich die Amme energisch ein und legte sich die Kleine an die Brust.
„Ach, Nina … ich habe versagt. Mich versündigt. Nun hat mich Gott der Herr mit einem Mädchen bestraft.“
„Unsinn.“ Ein schelmisches Lächeln überzog Ninas großzügig geschnittenes Gesicht. Alles an ihr war üppig und groß: ihre braunen Augen, ihre vollen Lippen, ihre Hüften und ihr Busen. „Selbst Christus wurde von einer Frau geboren und gestillt.“
„Bitte sei still!“, beschwor Eve sie. „Wenn dich jemand hört … Das sind lästerliche Reden!“
„Wie hübsch sie ist! Schaut nur, die zierlichen Händchen.“ Helles Haar klebte an dem weichen Köpfchen. Zwar war das Mädchen noch verschrumpelt und gerötet von den Anstrengungen der Geburt, aber es hatte ein erstaunlich ausdrucksstarkes Gesichtchen. Nina schloss sie sofort ins Herz, als die Kleine ihren Finger umklammerte und genüsslich schmatzte, während sie trank.
„Auf welchen Namen soll sie getauft werden?“
„Das ist mir gleichgültig. Mich stürzt sie ins Unglück. Gib ihr eben irgendeinen Namen“, antwortete Eve barsch.
„Was haltet Ihr von Hadewijch?“ Versonnen schaute Nina das Neugeborene an. Sie kannte niemanden, der so hieß. Der Name hatte einen guten Klang. Deswegen passte er zu dem winzigen Wesen in ihren Armen, das gerade eingeschlafen war. „Seht nur, Herrin, sie ist eingeschlummert. Wie süß sie schläft.“ Entzückt betrachtete Nina den Säugling. Es war ihr, als hätte sie ihn selbst geboren. Das Bild des leblosen Mädchens, das nur wenige Tage nach der Geburt gestorben war, kehrte schmerzhaft deutlich zurück. Die Kleine kuschelte sich an ihren warmen Körper. Der Schmerz wurde milder. Endlich.
„Wie dem auch sei. Ich möchte das Zeugnis meines Versagens nicht vor Augen haben, hast du verstanden, Nina? Du sorgst für sie.“
Die Amme nickte. „Sehr wohl, Herrin.“ Gerne, fügte sie im Stillen hinzu.
„Du bekommst ein anderes Zimmer. Es wird alles bereit gemacht.“ Eve schloss die Augen. „Und lass den Priester rufen.“
Wenig später trug Nina den Säugling behutsam ins Schlafgemach und legte ihn in ihr breites Bett. „Hadewijch.“ Sie lächelte. „Sei willkommen, mein Kind.“
•
Winter. Graue Tage. Januarkälte. Die hohe Stadt Antwerpen mit den beiden Türmen zog sich in sich selbst zurück. Die Schelde, Fluss und Lebensader der Stadt, war mit einer dicken Schicht aus gefrorenem Eis bedeckt. Der Hafen verstummte. In den engen Gassen trieben die dick vermummten Menschen wie Flocken. Der Schnee dämpfte die Geräusche und das Leben. Wer nicht hinaus musste, blieb drinnen am Feuer. Die Mauern umschlossen das geräumige Anwesen wie eine Falle.
Hadewijch war rastlos. Sie zählte nun ungefähr sieben Winter. Ihr helles Haar war nachgedunkelt und lag in strengen, goldbraunen Flechten um ihren Kopf. Regelmäßig besuchte sie die Messe, eine Abwechslung, wo sie vieles beobachten konnte. Manchmal nahm Anna, die Köchin, sie auf den großen Markt mit.
Doch etwas hatte sich verändert. Nina und ihre Mutter tauschten seltsame Blicke. Die Dienstboten tuschelten und unterbrachen ihre Gespräche, wenn sie sich ihnen näherte. Seit ihr Herr Vater fortgeritten war. Es lag in der Luft. Hadewijch konnte es fast auf der Haut spüren. Als sei etwas Fremdes eingetreten und herrschte nun zu Hause. Nicht nur dort – sondern auch in ihr. Da war dieser einseitige Kopfschmerz in ihrer linken Schläfe. Noch nie dagewesen, dieses Hämmern. Sie rieb sich die Augen. Farben tanzten vor ihnen. Wenn dieser Schmerz kam, änderte sich ihr Gesichtsfeld, zuckte in Ringen und Farben. In ihrem Kopf kreisten Dinge, die sie beunruhigten. Sie schluckte schwer. Ein metallischer Geschmack lag in ihrem Mund. Sie hatte keinen Appetit. Übelkeit durchdrang ihren Körper.
Schließlich fragte sie die einzige Person, der sie vertraute: „Was ist mit mir?“
„Tut dir etwas weh, Kind?“
Die Kleine nickte schwer. „Mein Kopf.“ Sie musste eine Pause machen.
„Wo ist mein Herr Vater?“
Die Amme befeuchtete ihre Lippen. „Mein Mädchen! Wollen wir in die Küche gehen, um zu schauen, was die Anna bäckt?“
„Mir ist nicht gut. Und versuche bitte nicht, mich zu zerstreuen. Das gelingt dir ohnehin nicht!“
Nina seufzte. „Das hatte ich auch nicht gehofft. Höre, mein Kind, lass uns darüber beten und schweigen.“ Sie zuckte zusammen. „Kleines, was ist dir? Sprich!“
Hadewijch wirkte starr und abwesend. Plötzlich presste sie die Hände auf die Schläfen und schrie leise auf. In ihren Ohren sauste und rauschte es. Vor ihren Augen flimmerte es unruhig. Bildfetzen, die ihr Herz in Galopp versetzten. Zwei rote Hände. Ein Weinschlauch. Die Kräuter. Fast einen Mond war es her. Ja, sie hatte zugesehen, als niemand sie beachtete. Sie war schmal, sie war leise. Ein Mädchen. Das zählte nicht. Der Schmerz klopfte jetzt stärker, er schien ihre linke Schläfe zu spalten. Ihre linke Körperhälfte wurde taub. Sie konnte nichts mehr sehen, nur noch spüren. Das Kopfweh löste sie auf. Nur noch pochender Dämmer blieb zurück.
Nina musterte sie besorgt und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie liebte Hadewijch so sehr wie ein eigenes Kind, sogar mehr als die Tochter, die sie so früh verloren hatte. Aber jetzt ging von ihr etwas Unheimliches aus. So, als ob sie weit älter als ihre Jahre war. Oder war sie etwa ein Wechselbalg?! Nein. Unsinn. Nina schüttelte energisch den Kopf. Was für ein Einfall! Wechselbälger waren unersättlich und fraßen allen die Haare vom Kopf. Nina hatte Hadewijch selbst an ihrer Brust gestillt. Wie reizend sie immer getrunken hatte! So maßvoll, so bescheiden. Das Mädchen war in jedem Fall ein Mensch. Obwohl es so absonderlich war. Doch nicht nur merkwürdig, sondern vielmehr … besonders. Viel zu besonders. In solchen Momenten vereiste die Sorge um das geliebte Kind Ninas Herz und Hände.
Hadewijch rieb sich die Schläfen. „Vorhin … als ich diese Kopfschmerzen hatte … ist mir eingefallen … Kommt mein Herr Vater je wieder zurück?“
„Ja … nein …“ stammelte Nina.
„Amme.“ Dieser erwachsene Tonfall, fest und bestimmt.
Sie hatte sich wieder gefasst. „Kind, er wird seit einem Mond vermisst. Alle Nachforschungen haben nichts ergeben. Frag lieber nichts.“
Die Kleine heftete ihre Augen forschend auf das Gesicht Ninas. Sie liebte seine großzügigen, beruhigenden Züge. „Du …“, fragte sie schmeichelnd und schmiegte sich an die Amme. „Hast du auch manchmal viele Dinge in dir drinnen, die du wissen und fragen möchtest?“ Sie machte eine Pause. „Wenn ich Kopfweh habe, sehe ich Farben, und Kreise, und Muster … und ich spüre sogar Töne … Du auch?“
Panisch schüttelte Nina den Kopf. „Nein, nie. Und du …“ Damit stürzte sie zu Hadewijch und umschlang sie mit beiden Armen. „Du darfst mit niemandem über diese Dinge reden. Hörst du? Versprich es mir!“
„Ist es denn böse?“
Nina seufzte. „Nicht böse. Nur anders. Aber anders ist für viele schon böse. Du wirst das verstehen, wenn du älter bist.“
„Ich werde das nie verstehen!“ Die Kleine reckte das Kinn hoch und stampfte mit dem Fuß auf.
„Hadewijch! So darf sich ein wohlerzogenes adliges Mädchen nicht benehmen!“
„Ich bin eben kein wohlerzogenes Mädchen!“ Hadewijch kicherte. In dem Moment hatte sie nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit jener fremdartigen Person von eben. „Und ich hab jetzt Hunger! Lass uns in die Küche gehen!“ Die Kleine griff nach Ninas Hand und hüpfte ungeduldig auf und ab. „Jetzt möchte ich gern etwas essen! Mein Kopfweh ist weg!“
Gemeinsam gingen sie in die große Küche. Gusseiserne Töpfe und Pfannen hingen an den geschwärzten Wänden. Obwohl Hadewijch hier eigentlich wenig Zeit verbringen sollte, schlüpfte sie immer wieder in die rauchige Küche. Ich mag es, wenn die Dienerschaft redet, dachte die Kleine. Da erfährt man jedenfalls etwas Neues. Warum Gent und Brügge immer reicher werden. Was die Kaufleute auf ihren Reisen alles sehen und erleben. Dass der älteste Sohn des Markgrafen nicht ganz richtig im Kopf ist. Sie seufzte. Meine Frau Mutter spricht ja kaum und mit mir schon gar nicht. Die einzige Mahlzeit am frühen Nachmittag ist so langweilig wie ein Vollmond, der nicht aufgeht.
Die Köchin Anna riss sie aus ihren Gedanken. „Magst du ein Stück Anisbrot, junge Herrin?“
„Mit Vergnügen!“ Hadewijch verneigte sich anmutig, so wie sie es bei ihrer Mutter beobachtet hatte. Die Dienerschaft lachte. Genussvoll knabberte Mädchen das knusprige Brot.
Ihr Herr Vater war ihr so gut wie unbekannt. Sie war eine ständige Enttäuschung für ihn gewesen. Er wollte einen Sohn und sonst nichts. Hadewijch erinnerte sich sehr genau an ihre erste und letzte Unterhaltung. Sie hatte zahllose Blumen gesammelt und daraus einen Kranz geflochten. Vergissmeinnicht, roter Klee, Veilchen, Gänseblümchen, wilde Rosen. Nina hatte ihre geschickten Finger gelobt, und Hadewijch war sehr stolz auf ihr Werk gewesen. Sie saß aufgeregt im Hof und...
Erscheint lt. Verlag | 2.10.2023 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | Antwerpen • Beginen • Brabant • Hildegard von Bingen • Kapetinger • Marguerite Porete • Minnesang • Mystikerin • Philipp der Kühne |
ISBN-10 | 3-86282-851-4 / 3862828514 |
ISBN-13 | 978-3-86282-851-7 / 9783862828517 |
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