Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin und Journalistin. Heute ist sie als Autorin tätig und gibt Schreibkurse an Schulen und anderen Institutionen. Ihr Debütroman Fremde Hände erschien 2005. Ihr Werk umfasst Kriminalromane, Jugendbücher und Kurzgeschichten. Petra Ivanov hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. zweimal den Zürcher Krimipreis (2010 und 2022).
3
Das wird schon«, sagte Henry.
Sein Zwirnjackett hing locker über den Schultern, der angespannte Zug um seinen Mund verriet jedoch, dass auch er nervös war. Der Flug aus Berlin war vor einer halben Stunde gelandet. Nicht mehr lange, und Michael würde durch die Schiebetür kommen, die den Blick in die Gepäckausgabe versperrte. Julia musterte die Reisenden. Bunte Fragmente aus anderen Welten. Sie führte den Daumen an den Mund und knabberte an der Nagelhaut, eine schlechte Angewohnheit, die sie nach Michaels E-Mail wieder aufgenommen hatte.
Fünf Jahre war es her, dass sie ihn im Foyer des Javits Convention Centers, wo er einen Chirurgie-Kongress besuchte, zum letzten Mal traf. Die gläserne Fassade. Das Licht, das durch die Decke strömte und Muster auf den glatten Boden zeichnete. Der Monitor, der die Saalbelegung anzeigte. Dort hatte sie gestanden und sich der Vorstellung hingegeben, dass er sich über ihren Überraschungsbesuch freuen würde.
Aber er hatte ihr nur eine einzige Frage gestellt. »Hast du deine Meinung geändert?«
»Michael, bitte, lass uns –«
»Dann haben wir uns nichts zu sagen.«
Es war ihr letzter Versuch, den zerrissenen Faden ihrer Beziehung neu zu knüpfen. Als er drei Jahre später in Deutschland sein Medizinstudium abschloss, lud er sie nicht zur Feier ein. Auch nicht, als er den Doktortitel erwarb. Dr. Michael Sanders. Wild, korrigierte sie sich. Er hatte ihren Mädchennamen angenommen. Sie fröstelte. Begriff er denn nicht, wie gefährlich das war?
Die Tür ging auf, und ein Ehepaar mit Gepäckwagen sah sich suchend um. Sie sprachen Deutsch. Julia reckte den Hals und sah die lange Warteschlange am Zoll. Das Labor-Day-Wochenende bedeutete das Ende der Sommerferien, übermorgen begann das neue Schuljahr. An den New Yorker Flughäfen herrschte Hochbetrieb.
»Vielleicht hat er es sich anders überlegt«, sagte sie.
Henry drückte ihre Schulter. »Wenn Michael schreibt, dass er kommt, dann kommt er auch.«
Julia nickte. Man konnte ihrem Sohn viel vorwerfen, nicht aber Unzuverlässigkeit. Henry witzelte manchmal über Michaels Zielstrebigkeit und die Sturheit, mit der er seine Vorhaben umsetzte, das habe er von ihr, sagte er. Julia wusste es besser. Im Gegensatz zu Michael strebte sie nicht auf ein Ziel zu. Sie lief vor der Vergangenheit davon.
Wieder ging die Tür auf, zwei Männer mit Schläfenlocken kamen heraus. Hinter ihnen, halb verdeckt von einem schwarzen Hut mit breiter Krempe, Michael. Die Geräusche um Julia herum wurden dumpf, als trüge sie Ohrstöpsel. Dann stand er vor ihr. Sein Haar war länger, stellte sie fest, und nachlässig nach hinten gekämmt. Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf, eine Verlegenheitsgeste, die ihr vertraut war.
Als sie einen Schritt auf ihn zuging, wich er kaum merklich zurück. Er hatte ihr noch immer nicht verziehen.
Henry klopfte ihm auf den Rücken. »Schön, dich zu sehen.«
Michaels Mund verzog sich zu einem Lächeln. Seine Augen erreichte es nicht. Diese Höflichkeit war schlimmer als seine Zurückweisung. Er behandelte sie wie Fremde.
»Wie war der Flug?«, fragte Henry.
»Gut.«
»Konntest du ein wenig schlafen?« Julia sprach Englisch, um Henry nicht auszuschließen.
»Ja.«
Henry machte einen Schritt zum Ausgang, wo die Taxis standen.
Michael deutete auf die Rolltreppe in der Mitte der Ankunftshalle. »Die Bahn ist schneller.«
Henry warf Julia einen Blick zu.
Sie fragte sich, ob Michael die Nähe im Taxi unangenehm war. Oder wollte er sie herausfordern, ihr zu verstehen geben, dass er nicht bereit war, sich nach ihren Bedürfnissen zu richten?
»Wir können auch mit der Bahn fahren«, sagte sie.
Sie nahmen die Long Island Railroad nach Manhattan. Während Julia sich in den Anblick der schäbigen Häuser mit ihren winzigen Vorgärten vertiefte, unterhielten sich Henry und Michael über den Wechselkurs des Dollars. Als wäre Michael ein Tourist. Je näher sie der Stadt kamen, desto dichter standen die Häuser, schließlich gab es nur noch mehrstöckige Backsteinbauten. Schwarze Feuertreppen verliefen in Zickzacklinien über die Fassaden, wie chirurgische Fäden über Wunden. Der Zug tauchte in den East River Tunnel.
An der Penn Station bot Julia an, Michael einen Metropass zu besorgen.
»Nicht nötig«, sagte er. »Ich fliege morgen weiter.«
»Morgen schon?«
Sie hatte mit Henry besprochen, dass sie heute in seiner Stadtwohnung übernachten und erst am nächsten Tag mit Michael in das Haus in Upstate New York fahren würden.
Michael schwieg.
Henry rieb die Handflächen gegeneinander. »Dann schlage ich vor, dass wir das Beste aus der Zeit machen, die wir zusammen haben.«
Michael sah auf die Uhr. »Wollen wir uns zum Abendessen treffen? Ich bringe mein Gepäck ins Hotel, dann –«
»Du übernachtest im Hotel?«, stieß Julia aus.
»Prima«, sagte Henry rasch. »Um sieben bei uns?«
Julia rechnete schon damit, dass Michael ablehnen und fürs Abendessen ein Restaurant vorschlagen würde, aber er stimmte zu. Dann hob er die Hand, winkte zum Abschied und wandte sich ab.
Julia sah die Menschen an sich vorbeiströmen. Starr stand sie da, unfähig, weiterzugehen. Die niedrige Decke erdrückte sie, die massiven Stützpfeiler versperrten ihr die Sicht auf Michael, der die Rolltreppe betreten hatte. Sie wollte gerade Luft holen, um etwas zu sagen, als ein Polizist auf sie zukam. Dunkelblaue Uniform. Steife Schirmmütze. Breiter Einsatzgürtel. Das Neonlicht brachte das goldene Schild auf seiner Brust zum Blitzen. Julias Kehle schnürte sich zu, und ihr Herz begann zu rasen.
Renn! Die Stimme kam tief aus der Vergangenheit. Achtundzwanzig Jahre lösten sich in nichts auf.
Julia rannte.
Schmutzige Fliesen, gleichgültige Menschen, Kaffee in Pappbechern, Brezelbude. Rolltreppe, Reinigungspersonal, Musik, ein offener Geigenkasten, Münzen auf Samt. Warme Luft blies ihr von einer Subwaystation entgegen, sie hörte ein Rattern, ein Quietschen. Zeitungskiosk, Blumenladen, Damentoiletten.
Ein gelbes Schild: Vorsicht, nasser Boden.
Abrupt blieb Julia stehen. Der Schweiß rann ihr den Körper hinunter, sie atmete in kurzen, schnellen Stößen. Ihr Haar hatte sich aus dem Gummiband gelöst, einzelne Strähnen klebten ihr am Nacken, an der Wange. Mit zittrigen Beinen hastete sie zur ersten freien WC-Kabine. Gelbe Spritzer auf dem Ring. Papierfetzen im Wasser. Sie übergab sich.
»Julia?« Henrys Stimme kam von weit her.
»Sir, Sie können hier nicht –«
»Julia, bist du da drin?« Näher jetzt.
Er war ihr nachgerannt, trotz seines hohen Blutdrucks. Eine andere Angst ergriff sie. Im Gegensatz zu der blinden Panik, die der Polizist in ihr ausgelöst hatte, ließ diese Angst klare Gedanken zu. Henry war das Bollwerk zwischen ihr und der Welt. Seit sie als junge Frau aus Europa geflohen war und er sie bei sich aufgenommen hatte, sorgte er dafür, dass ihr niemand zu nahe kam. Er war der einzige Mensch, dem sie hundertprozentig vertraute. In letzter Zeit machte ihm das Herz zu schaffen. Er hatte versprochen, einen Arzt aufzusuchen, es aber immer wieder hinausgeschoben.
Julia wischte sich das Gesicht mit Toilettenpapier ab und verließ die Kabine. Henry löste sich von der Bahnangestellten, die ihm den Zugang zur Damentoilette verwehrte, und führte Julia zum Ausgang an der 8th Avenue, möglichst weit weg von den engen Straßen und Hochhäusern Midtown Manhattans. Sie setzten sich auf die Treppe vor dem Postamt.
»Entschuldige.« Julia atmete tief ein. »Mir ist klar, dass man mich schon längst aufgespürt hätte, wenn ich immer noch zur Fahndung ausgeschrieben wäre, aber …«
»Ich weiß.«
Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Ja, er wusste. Obschon sie ihm nie die ganze Geschichte erzählt hatte. Anfangs, weil sie nicht darüber sprechen konnte. Tag für Tag übersetzte sie Texte, aber für das, was ihr widerfahren war, fand sie die Worte nicht. Später, weil sie die Wunden, die langsam zu heilen begonnen hatten, nicht aufreißen wollte. Sie hatte in den USA ein neues Leben aufgebaut. Julia Wild existierte nicht mehr. Aber ihre Angst vor der Polizei hatte sie nicht ablegen können.
Henry sah sie fragend an.
Julia schloss kurz die Augen. Er hatte ein Recht darauf, endlich alles zu erfahren, doch schon beim Gedanken, darüber zu sprechen, wurde ihr wieder übel.
»Michael hat abgenommen«, sagte sie stattdessen.
Henry ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken. »Ein Assistenzarzt hat keine Zeit zu essen. Das ist in Deutschland vermutlich nicht anders als hier.«
»Ja.«
Henry blickte zu einem Verkaufswagen, der am Fuß der Treppe stand. »Möchtest du eine Cola? Du zitterst immer noch.«
Sie schüttelte den Kopf. Schweigend sahen sie dem Verkehr zu. Gegenüber befand sich der Madison Square Garden, ein Plakat warb für ein bevorstehendes Konzert. Wann hatte sie zuletzt mit Henry ein Konzert, ein Musical oder ein Theater besucht? Sie kam nur in...
Erscheint lt. Verlag | 21.8.2023 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | DDR • Deutschland • Kriminalroman • Kryonik • Künstliche Intelligenz • Russland • Sowjetunion • Spannung • Thriller • Transhumanismus • Unsterblichkeit • USA • Wissenschaft • Zukunft |
ISBN-10 | 3-293-31120-2 / 3293311202 |
ISBN-13 | 978-3-293-31120-6 / 9783293311206 |
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