Kanadischer Winter (eBook)
464 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70439-3 (ISBN)
Giles Blunt, geboren 1952 in Windsor, Ontario, lebte ab dem Alter von zehn Jahren in North Bay, einer Stadt am Lake Nipissing, die als Vorlage für Algonquin Bay diente. Nach einem Studium der englischen Literatur an der Universität von Toronto verbrachte er zwanzig Jahre in New York. Heute lebt und arbeitet der Schriftsteller, Dichter und Drehbuchautor, unter anderem für die Serie Law & Order, wieder in Toronto. Für den ersten Band der John-Cardinal-Reihe wurde Giles Blunt der British Crime Writers' Association Silver Dagger verliehen. Seither sind fünf weitere Fälle erschienen. Auf die Frage, warum er seine Romane in einem vergleichbaren, aber nicht in seinem Heimatort ansiedelt, sagt Blunt: »North Bay hat nur knapp 50 000 Einwohner und eine sechsköpfige Polizei. Das Risiko, dass eine Figur versehentlich einer realen Person ähnelt, ist zu groß.«
Giles Blunt, geboren 1952 in Windsor, Ontario, lebte ab dem Alter von zehn Jahren in North Bay, einer Stadt am Lake Nipissing, die als Vorlage für Algonquin Bay diente. Nach einem Studium der englischen Literatur an der Universität von Toronto verbrachte er zwanzig Jahre in New York. Heute lebt und arbeitet der Schriftsteller, Dichter und Drehbuchautor, unter anderem für die Serie Law & Order, wieder in Toronto. Für den ersten Band der John-Cardinal-Reihe wurde Giles Blunt der British Crime Writers' Association Silver Dagger verliehen. Seither sind fünf weitere Fälle erschienen. Auf die Frage, warum er seine Romane in einem vergleichbaren, aber nicht in seinem Heimatort ansiedelt, sagt Blunt: »North Bay hat nur knapp 50 000 Einwohner und eine sechsköpfige Polizei. Das Risiko, dass eine Figur versehentlich einer realen Person ähnelt, ist zu groß.«
1
In Algonquin Bay wird es früh dunkel. Wer im Februar nachmittags gegen vier zum Airport Hill hinauf- und eine halbe Stunde später wieder hinunterfährt, sieht die Straßen der Stadt wie beleuchtete Rollbahnen unter sich im Dunkeln glitzern. Der sechsundvierzigste Breitengrad an sich liegt eigentlich gar nicht so weit nördlich; man kann viel weiter nördlich und immer noch in den Vereinigten Staaten sein, und sogar Englands Hauptstadt London liegt ein paar Grad näher am Nordpol. Aber wir reden hier von Ontario, Kanada, und Algonquin Bay im Februar ist der Inbegriff des Winters: Algonquin Bay liegt unter einer geschlossenen Schneedecke, in der Stadt geht es ruhig zu, und es ist kalt, eisig kalt.
John Cardinal kam vom Flughafen und war auf dem Weg nach Hause. Er hatte gerade seine Tochter Kelly verabschiedet, die an Bord einer Maschine gegangen war, um über Toronto in die USA zu fliegen. Im Auto roch es noch nach ihr, jedenfalls nach dem Parfum, das seit Kurzem zu ihrem Markenzeichen geworden war: »Rhapsodie« oder »Ekstase« oder etwas in der Richtung. Für Cardinal, der nun ohne Frau und Tochter auskommen musste, roch es nach Einsamkeit.
Draußen waren es etliche Grade unter null; der Winter hatte den Wagen fest im Griff. Die Scheiben des Toyota Camry waren auf beiden Seiten gefroren, und Cardinal kratzte mit einem primitiven Plastikschaber ohne großen Erfolg an ihnen herum. Von Airport Hill kommend, fuhr er in südlicher Richtung, bog erst links auf die Umgehungsstraße ab und dann nochmals links auf die Trout Lake Road. Von hier ging es dann wieder in nördlicher Richtung nach Hause.
Sein Zuhause, wenn man das ohne Catherine und Kelly überhaupt so nennen konnte, war ein bescheidenes Holzhaus an der Madonna Road, das kleinste unter den Cottages, die wie eine lang gestreckte Brosche das Nordufer des Trout Lake säumten. Cardinals Haus sollte eigentlich »winterfest« sein, jedenfalls hatte das der Immobilienmakler behauptet, doch winterfest war ein relativer Begriff. Kelly sagte immer, in ihrem Schlafzimmer könne man gut Eiscreme aufbewahren.
Die Zufahrt zum Haus lag versteckt hinter meterhohen Schneewehen, deshalb sah Cardinal das Auto, das seine Zufahrt blockierte, erst im letzten Augenblick und wäre beinahe aufgefahren. Aus dem Auspuff des parkenden Autos, eines der Zivilfahrzeuge, die bei der Polizei im Einsatz waren, kamen weiße Abgaswolken. Cardinal wendete und parkte gegenüber. Lise Delorme, die im Police Department von Algonquin Bay ganz allein die Abteilung für Sonderermittlungen verkörperte, stieg aus dem Wagen und kam durch die Abgasschwaden zu ihm herüber.
Das Police Department war trotz »fortwährender Bemühungen um Gleichberechtigung am Arbeitsplatz«, wie es im Bürokratenjargon immer so schön hieß, weiterhin eine Bastion des männlichen Chauvinismus. Allgemein herrschte dort die Auffassung, dass Lise Delorme ein bisschen zu – ja, was eigentlich? – für ihre Aufgabe war. Schließlich war man zum Arbeiten dort, zermarterte sich das Hirn und konnte keine Ablenkung brauchen. Nicht, dass Delorme wie ein Filmstar aussah. Das nicht. Aber sie hatte so eine gewisse Art, einen anzusehen, wie McLeod es ausdrückte – und da hatte McLeod ausnahmsweise einmal recht. Sie hatte die irritierende Angewohnheit, einen mit ihren ernsten braunen Augen ein klein wenig zu lange, vielleicht nur den Bruchteil einer Sekunde, anzublicken. Fast so, als wollte sie einem die Hand unters Hemd schieben.
Kurz, Lise Delorme konnte einen verheirateten Mann einigermaßen in Verlegenheit bringen. Und Cardinal hatte noch andere Gründe, sie zu fürchten.
»Ich wollte schon aufgeben«, sagte sie. Ihr frankokanadischer Akzent war unberechenbar: Die meiste Zeit bemerkte man ihn kaum, bis plötzlich im Auslaut die Konsonanten verstummten und ihre Sätze mit einem doppelten Subjekt aufwarteten. »Ich habe mehrmals bei Ihnen angerufen, aber keiner hat abgenommen, und Ihr Anrufbeantworter, der lief auch nicht.«
»Den habe ich ausgeschaltet«, sagte Cardinal. »Aber weshalb sind Sie überhaupt hergekommen?«
»Dyson sagte, ich solle Sie holen. Wir haben eine Leiche.«
»Da sind Sie bei mir falsch. Ich arbeite nicht im Morddezernat, wissen Sie das nicht?« Cardinal versuchte sachlich zu bleiben, hörte aber selbst den bitteren Unterton in seiner Stimme.
»Würden Sie mich bitte durchlassen, Sergeant?« Der »Sergeant« war ein gezielter Nadelstich. Zwei Kripobeamte im gleichen Rang redeten sich normalerweise mit dem Namen an, es sei denn, sie sprachen vor Dritten oder in Gegenwart von Berufsanfängern.
Delorme stand zwischen ihrem Auto und der Schneewehe. Sie trat beiseite, sodass Cardinal das Garagentor erreichen konnte.
»Ich habe den Eindruck, dass Dyson Sie wieder ins Dezernat zurückholen möchte.«
»Das ist mir gleich. Würden Sie jetzt wohl rausfahren, damit ich mit meinem Wagen in die Garage kann? Ich meine, wenn Dyson nichts dagegen hat. Warum hat er übrigens gerade Sie hierher geschickt? Seit wann arbeiten Sie im Morddezernat?«
»Sie haben doch bestimmt gehört, dass ich nicht mehr bei der Abteilung für Sonderermittlungen arbeite?«
»Nein, ich habe nur gehört, dass Sie dort aussteigen wollten.«
»Jetzt ist es amtlich. Dyson sagte, Sie würden mir beim Einarbeiten helfen.«
»Nein danke, kein Interesse. Wer ermittelt jetzt bei polizeiinternen Delikten?«
»Mein Nachfolger ist noch nicht da. Ein Mann aus Toronto.«
»Schön«, sagte Cardinal. »Tut nichts zur Sache. Werden Sie sich ohne mich verirren? Es ist kalt, ich bin müde, und ich würde gerne was zu Abend essen.«
»Wie es heißt, soll es sich um Katie Pine handeln.« Während Delorme diese Vermutung äußerte, beobachtete sie genau Cardinals Miene. Ihren ernsten Augen entging nichts.
Cardinal vermied ihren Blick und starrte in die Dunkelheit, hinter der sich der Trout Lake verbarg. In der Ferne huschte das Scheinwerferpaar eines Schneemobils vorüber. Katie Pine. Dreizehn Jahre alt. Seit dem 12. September vermisst; das Datum würde er nie vergessen. Katie Pine aus dem Chippewa-Indigenenreservat, eine gute Schülerin, Mathe-As, ein Mädchen, das er nie gesehen hatte, und doch wünschte er sich mehr als alles andere, es endlich zu finden.
Im Haus klingelte das Telefon. Delorme sah auf ihre Armbanduhr. »Das ist Dyson. Er hat mir nur eine Stunde gegeben.«
Cardinal ging hinein, ohne Delorme hereinzubitten. Beim vierten Klingeln nahm er den Hörer ab und hatte sofort Detective Sergeant Don Dysons quakende Stimme im Ohr. Sein Vorgesetzter sprudelte, als wären sie mitten in einer Diskussion unterbrochen worden und hätten erst jetzt, drei Monate später, Gelegenheit gefunden, ihren Disput fortzusetzen. In gewisser Hinsicht stimmte das sogar.
»Wir wollen keine Zeit mit dem Aufwärmen alter Geschichten verlieren«, begann Dyson. »Sie verlangen eine Entschuldigung, ich entschuldige mich. Bitte sehr. Erledigt. Auf den Manitou Islands ist eine Leiche gefunden worden, und McLeod ist bei Gericht unabkömmlich. Er steckt bis über beide Ohren im Fall Corriveau. Also ist die Leiche ab jetzt Ihr Fall.«
Cardinal spürte, wie die alte Wut in ihm wieder hochkochte. Ich mag ja ein schlechter Polizist sein, sagte er sich, aber nicht so, wie Dyson sich das denkt. »Im Morddezernat haben Sie mich geschasst, erinnern Sie sich? Ich sollte nur noch für Eigentumsdelikte zuständig sein.«
»Ich habe Ihre Zuständigkeit geändert, so etwas macht ein Detective Sergeant nun mal. Alte Geschichten, Cardinal. Schnee von gestern. Wir reden darüber, wenn Sie sich die Leiche angesehen haben.«
»›Das ist eine Ausreißerin‹, haben Sie gesagt. ›Katie Pine ist kein Mordfall, das Mädchen ist von zu Hause weggelaufen.‹ Ich höre es noch wie heute.«
»Cardinal, Sie arbeiten wieder im Morddezernat, klar? Sie übernehmen die Ermittlungen, das ist jetzt ganz allein Ihre Show. Allerdings könnte sich herausstellen, dass es sich nicht um Katie Pine handelt. Aber selbst Sie Ermittler von der oberkorrekten Sorte werden sich doch sicherlich hüten, eine Leiche, die Sie noch nicht gesehen haben, vorschnell zu identifizieren. Wenn Sie unbedingt ›Hab-ich-es-Ihnen-nicht gesagt?‹ spielen wollen, dann kommen Sie morgen um acht in mein Büro. Das Beste an meinem Posten ist nämlich, dass ich nachts nicht rausmuss, und solche Anrufe kommen immer nachts.«
»Das ist von jetzt an mein Fall, meine Show ganz allein – wenn ich es mache.«
»Das ist nicht meine Entscheidung, Cardinal, und das wissen Sie. Lake Nipissing fällt in die Zuständigkeit unserer sehr geschätzten Brüder und Schwestern von der Ontario Provincial Police. Aber selbst wenn es die Sache der OPP wird, werden die nicht auf unsere Mitarbeit verzichten wollen. Ganz gleich, ob es Katie Pine oder Billy LaBelle ist, beide wurden in dieser Stadt – unserer Stadt – entführt, mal vorausgesetzt, sie wurden beide entführt. So oder so ist es unser Fall. Und da sagen Sie, ›wenn ich es mache‹.«
»Ich schlage mich lieber weiter mit Diebstählen und Einbrüchen herum, wenn das hier nicht ab sofort ausschließlich mein Fall ist.«
»Lassen Sie doch den Coroner eine Münze werfen«, giftete Dyson und hängte auf.
Cardinal rief zu Delorme hinüber, die sich aus der Kälte hereingewagt hatte und nun schüchtern in der Küchentür stand: »Zu welcher der Manitou Islands müssen wir denn?«
»Nach Windigo. Der mit dem Bergwerksschacht.«
»Dann los. Ob das Eis einen Lastwagen trägt?«
»Sehr witzig. Um diese Jahreszeit würde das Eis sogar einen ganzen Güterzug tragen.«
Delorme zeigte mit...
Erscheint lt. Verlag | 12.10.2023 |
---|---|
Reihe/Serie | Ein Fall für John Cardinal |
Übersetzer | Reinhard Tiffert |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | detective • Eis • Kanada • Leiche • Mord • Ontario • Polizei • Schnee |
ISBN-10 | 3-311-70439-8 / 3311704398 |
ISBN-13 | 978-3-311-70439-3 / 9783311704393 |
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