Graubündner Totentanz (eBook)
320 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70441-6 (ISBN)
Philipp Gurt wurde 1968 als siebtes von acht Kindern einer armen Bergbauernfamilie in Graubünden geboren und wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf. Bereits als Jugendlicher verfasste Gurt Kurzgeschichten, mit zwanzig folgte der erste Roman. Schon immer hatte er ein inniges Verhältnis zur Natur, das auch sein hochatmosphärisches Schreiben prägen sollte. Seine Verbundenheit mit dem Kanton Graubünden, wo er noch heute als freier Schriftsteller lebt, ist in jedem seiner Romane spürbar.
Philipp Gurt wurde 1968 als siebtes von acht Kindern einer armen Bergbauernfamilie in Graubünden geboren und wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf. Bereits als Jugendlicher verfasste Gurt Kurzgeschichten, mit zwanzig folgte der erste Roman. Schon immer hatte er ein inniges Verhältnis zur Natur, das auch sein hochatmosphärisches Schreiben prägen sollte. Seine Verbundenheit mit dem Kanton Graubünden, wo er noch heute als freier Schriftsteller lebt, ist in jedem seiner Romane spürbar.
1
Graubünden – Alpsommer 1953
Die verwitterte Holztür der Alphütte stand an jenem Sonntagmorgen im August weit offen. Jemand war soeben auf der Alp Altsäss aus dem gedrungenen Steinbau geflohen; schnelle Schritte, dann Stille.
Das viele Brennholz unter dem Vordach war ordentlich gestapelt. Hinter der wehrhaften Hütte plätscherte munter der Brunnen. Glasklar und kalt sprudelte das Quellwasser und bildete verspielt Luftblasen im steinernen Trog. Die Milchkessel standen seit dem Melken noch immer ungewaschen vor dem Brunnen, fette Fliegen stoben immer wieder hoch.
Die satten Matten rund um die Alp hätten nicht schöner sein können, denn die Sonne war soeben über den im Schatten liegenden Silhouetten der östlichen Berge des Churer Rheintals hochgestiegen und warf nun ihr mildes Licht auf die von Blumen gesprenkelten Anhöhen unterhalb der steinernen Gipfelregionen des fast 3000 Meter hohen Calanda.
Schritte.
Eine junge Frau trat Minuten später summend durch die sperrangelweit offen stehende Tür in die Alphütte. Ihr lang gezogener heller Schrei zerriss die morgendliche Stille am Berg!
Das Geläut der Schellen und Glocken schwebte danach wieder über den Weiden, als wäre der Schrei nie passiert, und die Kühe schnaubten hin und wieder zufrieden beim Grasen, ihre schweren Grinde nickten emsig.
Drei Stunden zuvor, als sich scheu der erste rosa Streifen über den Bergkämmen im Osten zeigte, hatte Zita Schwarz die Tiere einzutreiben geholfen. Die Zusennin lief mit einem Summen auf den Lippen leichtfüßig bergwärts, Richtung Chrüzboden, wo ein Teil des Vehs die Flanken des Calanda punktete, während Freya, ihre ältere Schwester und Sennerin, die Tiere von unterhalb, vom Schluechtbödeli und Sennenstein, hochtrieb. Beide taten dies wie immer auf dieselbe Art und Weise in der Früh: Mit ihren hellen Stimmen sangen sie die einfachen Ruflaute. Dann kamen die Kühe bald angelaufen, mit ihren prall gefüllten Eutern, an denen die Adern fingerdick hervorquollen.
Toni, der schwarzbärtige braungebrannte Melker und Küher, trieb ebenfalls die Tiere ein, schien aber auch an diesem Morgen über Nacht seine Sprache verloren zu haben. Missmutig wie der drahtige Kerl in den frühen Morgenstunden war, und das jeweils so lange, bis die Sonne aufstieg, brummte er höchstens mal vor sich hin. In sich gekehrt, paffte er die geschwungene Pfeife, die in seinem rechten Mundwinkel hing, und schwang seinen Stecken. An diesem Morgen schien der einsilbige Kerl noch verstockter und träger als sonst. Die Sennerin machte deshalb später beim Melken eine spitze Bemerkung darüber:
»Toni, wenn du dich nur noch ein wenig langsamer bewegst, siehst du aus wie ein Gemälde, auf dem ein stinkfauler Hirt zu sehen ist.«
Zita, die wie ihre Schwester knapp über 30 war, kicherte unverhohlen laut, während ihre Hände emsig weiter molken. Toni tat so, als hätte er nichts gehört, gab der Kuh, die er soeben fertig gemolken hatte, aber einen gar gehörig groben Klaps an die Flanke, sodass diese schwerfällig einen Schritt zur Seite trat. Murrend verließ er mit dem beinahe überschwappenden Kessel den Stall. Sein einbeiniger Melkstuhl wackelte dabei an seinem Füdla umgebunden wie der Stachel einer riesigen Biene, während er hinüber zur Alphütte trottete, in der das schwere Kupferkessi am klobigen Schwenkarm aus Eisen über der Feuerstelle hing.
Er kippte das aufschäumende Weiß in den großen Kessel, der sich zunehmend füllte, bevor er sich, zurück im Stall, neben die nächste Kuh hockte, das graublaue Melkkäppi richtete und in gebeugter Haltung weiter molk, als gäbe es keine Worte in seiner Welt.
An diesem Morgen war Toni missmutig darüber, dass der Batzger, der Hirtenbuab Hansli, noch vor dem Käsen mit dem großen Rucksack hinunter ins Dorf, nach Haldenstein, würde gehen müssen, um Besorgungen zu machen, und das an einem Sonntag! Die Sennerin hatte es gestern so beschlossen, weil die Holzknechte das Brot von der Bäckerei Rätz nicht wie versprochen abgeholt hatten. Toni würde daher bis in die späten Nachmittagsstunden das Veh allein behirten müssen, und das stank ihm gehörig. Doch immerhin hatte der Buab beim morgendlichen Eintreiben geholfen und nun beim Melken, denn in der Früh und ein zweites Mal vor dem Abendbrot mussten 68 Tiere von Hand gemolken werden. Die wackere Sennerin Freya Schwarz war daher auf jede helfende Hand angewiesen.
Kessel um Kessel kuhwarme Milch wurde an diesem Sonntagmorgen fürs Käsen ins Kupferkessi geschüttet, während der Morgen zusehends erwachte. Tiefes Muhen durchbrach immer wieder die Melkgeräusche im feuchtwarmen Stall; das rhythmische Zischen, wenn die Milch in das aufschäumende Weiß der Kessel schoss, gemischt mit dem Schlagen der nicht aufgezäumten Kuhschwänze. Es roch nach frischem Kuhfladen und herb nach dampfendem Kuhbrunz, nach warmer Milch und nach der Pfeife vom Toni, der noch immer schwieg wie der mächtige Berg, auf dem sie alle hockten, während der Hansli fröhlich vor sich hin pfiff.
Das hatte seinen Grund, denn der zwölfjährige Hansli wusste, dass er sich auch diesmal für den wöchentlichen Botengang hinunter nach Haldenstein Zeit lassen würde; viel Zeit, sodass ihm noch vor der Rückkehr bestimmt eine neue gute Ausrede dafür in den Sinn käme.
Zita, die Zusennin, hatte längst die Scheite unter dem Kupferkessel entzündet, die sie von der großen Beige an der Hüttenwand genommen und in einem Harass reingetragen hatte. Mehrere hundert Liter Milch mussten nach dem Melken langsam auf die richtige Temperatur fürs Käsen erhitzt werden.
Angrenzend an den einfachen Raum fürs Käsen, dessen Steinmauern brandschwarz vom Ruß waren und in dem das offene Feuer unter dem Kupferkessi züngelte, saßen wenig später alle gemeinsam in der niedrigen Stube am grobschlächtigen Holztisch beim Frühstück. Nach dem z’Morga würde das Käsen weitergehen: Sie mussten im Käsekeller die vielen Laibe mit einer Bürste, die sie in eine Salzlösung tunkten, abreiben und wenden und das weiß Gott weder zum ersten noch zum letzten Mal in diesem Alpsommer.
Es gab wie jeden Morgen Tatsch zum Frühstück, den der Toni eindeutig am besten zubereiten konnte – ein Gemisch aus Mehl, Wasser und Salz, das mit ausgiebig Butter in der gusseisernen Pfanne auf dem Holzherd angebraten wurde. Dazu tranken sie von der frisch gemolkenen Milch. Nur jeden zweiten Tag brühte Freya Zichorienkaffee auf.
Wenn Hansli tags zuvor schön fleißig gewesen war, streute die Sennerin einen gestrichenen Esslöffel Zucker über seinen Tatsch, worauf die Augen des Buben jedes Mal glänzten, so wie an diesem Sonntagmorgen. Toni beäugte, ohne seinen Kopf zu drehen, wie die schöne Sennerin, deren pechschwarzes Haar zu zwei Zöpfen geflochten seitlich aus dem Kopftuch hing, Hansli anlächelte – ein Lächeln, das längst alle Kerle auf dem Berg verrückt machte, und das waren weiß Gott nicht wenige in diesem Alpsommer, der so ganz anders war als alle bisherigen. Und Toni dachte: »Herrgottsack noch mal, wieder wird ein Löffel Zucker für diesen Hirtenbuab vergeudet.«
Zugegeben, der kleine Schlaumeier schien ihm gescheiter zu sein als alle hier oben zusammen. Er arbeitete immer dann am härtesten, wenn ihm jemand zuschaute, der ihn noch nicht durchschaut hatte, dünkte es Toni. Der Junge mit den vielen Sommersprossen im Gesicht und dem braunhaarigen Wuschelkopf beherrschte nämlich zwei Grundsätze wie kein Zweiter: Lerne zu klagen, ohne zu leiden, und was du heute sollst besorgen, das tut ein anderer für dich halt morgen.
Der Küher und Melker war deshalb schon auf Hanslis Ausrede gespannt, welche die Sennerin heute Nachmittag von dem Buab brühwarm, aber mit treuherzigem Augenaufschlag, einmal mehr verzapft bekäme.
Keiner dieser Gedanken fand in dem Moment den Weg aus Tonis Kopf; er schwieg. Dafür hatte zuvor sein Blick deutliche Worte gesprochen, als Freya den Esslöffel Zucker über Hanslis Teller schweben ließ und wie Graupel verteilte, der in den letzten, manchmal kalten Herbsttagen auf die Alpweiden prasselte. So eine verreckte Verschwendung aber auch, dachte Toni.
Als hätte Freya Tonis Gedanken lesen können, zog sie ein Stück Papier aus ihrer Arbeitsschürze und sagte: »Hör mir heute aber ganz gut zu, Hansli«, sie suchte den Blickkontakt und ihre blaugrünen Augen schimmerten dabei geheimnisvoll wie Bergkristalle aus dem gebräunten Gesicht, »Auf diesem Zettel steht alles, was wir brauchen. Vergiss nichts und komm für einmal ja schnurstracks wieder hoch, sonst kannst du morgen den Stall allein ausmisten, denn«, und nun wurde ihr Blick streng, »ich kenne mittlerweile jede faule Ausrede. Selbst die von heute Nachmittag!«
Der Bub lachte schelmisch, als sie ihm durch den Haarschopf wuschelte und mit einem milden Lächeln anfügte: »Wenn du’s aber guat machsch, dann git’s am Abig auch was besonders Feins zum Znacht, gell? Wenn nicht, kannst du beim Einschlafen deinem leeren Magen beim Knurren zuhören und dich auf den Tatsch vom nächsten Morgen freuen. Einen Tatsch oooohne Zucker. Häsch mi verschtanda?«
Nach dem gemeinsamen z’Morga rüstete Zita hinter dem Stall ein paar Zaunpfähle her. Sie spitzte diese mit der Axt ordentlich zu, denn bei der Abrisskante am Sennenstein mussten sie dringend zäunen. Die Trockensteinmauer aus Schiefer hatte an einer Stelle einen Durchbruch, wie die Sennerin heute Morgen in der Dämmerung erkannt hatte. Was genau dort unten passiert war, darüber ließ sich nur rätseln, denn so eine Mauer überdauert normalerweise viele Jahrzehnte. Das Loch war...
Erscheint lt. Verlag | 16.11.2023 |
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Reihe/Serie | Ein Fall für Landjäger Caminada | Ein Fall für Landjäger Caminada |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 1943 • Alp • Bestseller • Calanda • Engadin • Graubünden • Guilia de Medici • Schweiz • Sennerei • Vierziger Jahre |
ISBN-10 | 3-311-70441-X / 331170441X |
ISBN-13 | 978-3-311-70441-6 / 9783311704416 |
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