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Alle Wege offen (eBook)

Essays

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1., Originalausgabe
343 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77666-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Alle Wege offen - Sigrid Damm
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Der Band versammelt Sigrid Damms essayistische Arbeiten aus über vier Jahrzehnten und wird von einer Einleitung des Germanisten und Schriftstellers Heinrich Detering begleitet.
Enthalten sind neben den jüngst entstandenen Essays über Hermann Hesse, Ulrich Schacht, den Film »Leuchte, mein Stern, leuchte« die Arbeiten über den Totentanz-Zyklus des Malers Lutz Friedel und das Werk von Franz Fühmann, auch Miniaturen zum Leben von Caroline Schlegel-Schelling, Ró?a Doma?cyna und Angela Krauß. Essayistische Arbeiten über Lenz und Goethe, die parallel zu Sigrid Damms großen biographischen Erzählungen wie Christiane und Goethe entstanden, und der Text »Der Kopierstift hinter dem Ohr des Soldaten« beleuchten die Arbeitsweise der Autorin und geben spannende Einblicke in ihre unbeirrte Spurensuche.




<p>Sigrid Damm, in Gotha/Thüringen geboren, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und Mecklenburg. Die Autorin ist Mitglied des P.E.N. und der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur. Sie erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Feuchtwanger-, den Mörike- und den Fontane-Preis.</p>

Die erhoffte Schrift


Über die Essays von Sigrid Damm

Als ungefähr fünfzigjähriger Bürger der DDR, so erinnert sich Stephan Hermlin in seinem Prosaband Abendlicht, habe er das Kommunistische Manifest auf einmal mit neuen Augen gelesen. »Unter den Sätzen, die für mich seit langem selbstverständlich geworden waren, befand sich einer, der folgendermaßen lautete: ›An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden ist.‹ […] Wie groß war mein Erstaunen, ja mein Entsetzen, als ich nach vielen Jahren fand, dass der Satz in Wirklichkeit gerade das Gegenteil besagt: ›…worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.‹« Hermlin fügt hinzu: »Plötzlich war eine Schrift vor meinem Auge erschienen, die ich lang erwartet, auf die ich gehofft hatte.«

Datiert ist dieses Erlebnis auf die Zeit um 1965. Es ist die Zeit, in der die noch unbekannte Sigrid Damm Geschichte und Germanistik in Jena studiert. Sie ist fünfundzwanzig Jahre alt; bis zu ihrer literaturwissenschaftlichen Dissertation sind es noch fünf, bis zu ihrem ersten literarischen Buch zwanzig Jahre. Die Erfahrung aber, die Hermlin beschreibt, könnte wie ein emblematisches Bild auch über ihrem künftigen Werk stehen. Zuerst weil es um eine Leseerfahrung geht, dann weil das Erlebnis nicht nur einen vermeintlich vertrauten, kanonischen Text in verändertem Licht zeigt, sondern von dort aus auch die Gegenwart der Lesenden schlagartig verwandelt, und schließlich weil es vom Verhältnis zwischen dem einen, einzelnen Menschen und den gesellschaftlichen Lebensbedingungen aller handelt. Für Hermlin wie dann für Damm (und, wie sich zeigt, schon für Marx und Engels) steht am Anfang das einzelne Leben in seiner Besonderheit und seinem unveräußerlichen Recht. Die sozialistische Gesellschaft ist nicht Selbstzweck, sondern soll als eine freie, eine frei machende und Freiheit ermöglichende Assoziation der Entfaltung dieses einzelnen, besonderen Lebens dienen. Und dieser Gedanke, der aus der Schrift hervortritt, ist nicht Feststellung einer schon bestehenden Wirklichkeit, sondern Gegenstand einer Hoffnung. Wie auf hoher See jene wunderbaren »Vögel, die verkünden Land«.

Sigrid Damms Schreiben ist stärker durch die Sozialisation in der DDR bestimmt, als es ihren westlichen Leserinnen und Lesern manchmal bewusst ist. Die Spannungen von gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Freiheitserwartungen, das Vertrauen auf die Schrift, die über räumliche und zeitliche Abstände hinweg Gespräche und Einsichten ermöglicht, die lebensverändernd, vielleicht lebensrettend sein könnten, der Mut zu hoffnungsvollen neuen, eigenen Lektüren, die unstillbare Neugier auf die Literaturgeschichte als ein großes Archiv der Stimmen und Schriften, schließlich die Selbstverständlichkeit, mit der diese Stimmen auf ihre sozialen Ursprünge und Zusammenhänge hin befragt werden – dies alles gehört zu Sigrid Damms Lese- und Schreibpraxis, und es entspringt in Einverständnis und Widerstand, in Solidarität und Gegenrede dem Leben in der Deutschen Demokratischen Republik. Diesen Ursprüngen verdanken sich die Bücher, die bis in die Bestsellerlisten hinein im ganzen deutschen Sprachraum gewirkt haben.

Die Spuren der ausgesprochenen wie die nur zwischen den Zeilen zu lesenden Erfahrungen zeigen sich noch im Beiläufigen. Die Selbstverständlichkeit, mit der Stichworte fallen wie »Frankfurt / Oder. Die Romantikerkonferenz« oder »Akademie der Künste der DDR. Gedenkveranstaltung für Franz Kafka«, stellt heutigen Lesenden schlagartig vor Augen, was es zum Beispiel bedeutete, in den Nachwehen des Sozialistischen Realismus von romantischen Träumen zu sprechen oder 1983 in Ostberlin über Kafka. Und welcher Schmerz ist noch immer spürbar in einer lakonischen Notiz wie »Sarah ging«.

In der DDR-Literatur der siebziger und achtziger Jahre – und mit Büchern von Peter Härtling, Adolf Muschg, Wolfgang Hildesheimer auch im Westen – rückt die Frage nach der freien Entwicklung eines jeden unter den Bedingungen einer daran wenig interessierten Gesellschaftsordnung ins Zentrum eines Interesses, das nicht nur historisch ist. Hier geht es um Lebensfragen. Biographische Erzählungen aus der Geschichte der Literatur werden zu Fallstudien über Möglichkeit und Grenzen eines selbstbestimmten Lebens. Christa Wolf vergegenwärtigt Kleist und Günderode in Kein Ort. Nirgends, Stephan Hermlin lässt gegen alle Funktionärswiderstände Kafka in der DDR zu Wort kommen und erinnert in Scardanelli an den armen Hölderlin im Tübinger Turm, Günter de Bruyn erzählt von Jean Paul und Franz Fühmann von Trakl. Es ist dieser Kontext, in dem die junge Sigrid Damm sieben Jahre lang die Lebens- und Leidensgeschichte von Jakob Michael Reinhold Lenz rekonstruiert, die sie dann 1985 in ihrem ersten Buch erzählen wird. Schreibend folgt sie seinem Blick hinauf zu den Vögeln, die verkünden Land. »Indem ich die bitteren Erfahrungen eines anderen teilte, konnte ich mir selbst Mut machen«, schreibt sie rückblickend; mit Caroline Schlegel-Schelling, Christiane Vulpius und Cornelia Goethe werden es die bitteren Erfahrungen auch und gerade von Frauen.

Ein eigener Mensch zu werden, die Entscheidung zwischen »Leben oder Gelebtwerden« ist das Thema ihrer Heldinnen und Helden, weil es ihr eigenes Lebensthema ist. Es gibt den historischen Gestalten ihrer Essays gerade in ihren Eigenheiten, über die nur die Archive Auskunft geben können, etwas Exemplarisches: die Einmaligkeit ihres besonderen Lebens. Sigrid Damms Essays sind nicht lediglich Ergebnisprotokolle, sondern sie sind Schauplätze von Begegnungen mit Menschen. Denn allein die Literatur macht es – wie der von Sigrid Damm zitierte Ulrich Schacht notiert – möglich, »Menschen wiederzuerkennen, denen man nie begegnet ist«.

Lenz und Caroline erscheinen in diesen Essays als die »geheimen Lernfiguren« (so die Überschrift zum ersten Lenz-Essay), weil sie beide Auf- und Ausbrechende sind. Lenz wird zu Sigrid Damms erstem Helden, weil er anstürmt gegen die Maschinerie der »Republik« als »die große Maschine, die wir Welt nennen«. Caroline folgt ihm, mit Sigrid Damms zuerst 1979 erschienener umfangreicher Auswahl aus ihren Briefen und dem längsten ihrer literarischen Essays, weil sie als Frau, als Intellektuelle und als Citoyenne ein Selbstbewusstsein entwickelt, das ihr Flügel wachsen lässt. Wenigstens zeitweise vermag sie sich schreibend zu erheben über Hohn und Verachtung einer feudalen, patriarchalen Mitwelt, gegen deren Zumutungen und Zurichtungsversuchen sie in ihrem turbulenten Ehe- und Familienleben aufbegehrt. Wenn Sigrid Damm resümiert: »Carolines Leben war die Kunst, in den ihr historisch aufgezwungenen engen Grenzen ihr Leben bewusst zu gestalten« – dann begreift sie dieses Leben selbst als Carolines Kunst. Aber erst im Briefwerk (die Briefe seien »eigentlich Tagebücher«, notiert Damm) kommt diese Kunst zu sich selbst, wird sie zum nachlesbaren und nachlebbaren Vor-Bild.

Zu den widerständig eigensinnigen Begleitern in Sigrid Damms Essays gehören auch Mitlebende wie Franz Fühmann, der »Glücksgott und Schmerzensmann«, vergessene, von der SED bedrängte und verjagte Schriftsteller wie Ulrich Schacht, neu zu Entdeckende wie die sorbische Dichterin Róžsa Domašcyna, Wiederzulesende (und im Westen nie richtig Angekommene) wie Horst Drescher oder Kurt Batt. Sie und andere lassen sich in diesen Essays wiederfinden. Mit Fühmanns zart-ungeschlachter »Arbeit an der Schuld der Selbstauslöschung« durchmisst Sigrid Damm die Abgründe von Faschismus und Stalinismus, die alptraumhaften Bergwerke des 20. Jahrhunderts, die »Denkmuster, denen wir so oder ähnlich ausgesetzt oder auch zeitweise erlegen oder verhaftet waren«. Ausgesetzt, erlegen, verhaftet: sehr genau gibt die Abfolge der drei Wörter wieder, auf welche Weise hier die Kindheitsmuster wirken und wie sie überwunden werden konnten.

Wie sie selbst ein Teil der »Maschine« gewesen sei und wie sie das Räderwerk verlassen habe, indem sie ausbrach, um als freie Schriftstellerin zu leben, das schildert Sigrid Damm in einem Essay, der auf etwas so Wundersames hinausläuft wie eine Liebeserklärung an das literarische Archiv. Dass dieser Ausbruch sich im Zeichen des...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2023
Vorwort Heinrich Detering
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte aktuelles Buch • Angela Krauß • Briefe • bücher neuerscheinungen • Caroline von Schlegel-Schelling • Christiane von Goethe • Cornelia Goethe • Die schönsten Liebesgedichte • Franz Führmann • Frauenporträt • Friedrich Schiller • Geschenk für Frauen • Geschenk für Freundin • Goethes letzte Reise • Heinrich Detering • insel taschenbuch 4975 • IT 4975 • IT4975 • Johann Wolfgang von Goethe • Lenz • Neuerscheinungen • neues Buch • Otto-Braun-Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung 1997 • Romantik • Rückblick • Thüringer Literaturpreis 2005 • Weimar • Weimarer Klassik • Weimar-Preis 2020
ISBN-10 3-458-77666-4 / 3458776664
ISBN-13 978-3-458-77666-6 / 9783458776666
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