Tod und Regen / Vom Lieben und Sterben - Zwei Zorn-Thriller in einem Band (eBook)
736 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491925-6 (ISBN)
Stephan Ludwig arbeitete als Theatertechniker, Musiker und Rundfunkproduzent. Er hat drei Töchter, einen Sohn und keine Katze. Zum Schreiben kam er durch eine zufällige Verkettung ungeplanter Umstände. Er lebt und raucht in Halle.
Stephan Ludwig arbeitete als Theatertechniker, Musiker und Rundfunkproduzent. Er hat drei Töchter, einen Sohn und keine Katze. Zum Schreiben kam er durch eine zufällige Verkettung ungeplanter Umstände. Er lebt und raucht in Halle.
Eins
»Glauben Sie mir«, sagte der Mann und betrachtete nachdenklich das Messer, »je schneller wir das alles hinter uns bringen, umso besser für uns beide.«
Langsam kämpfte sie sich durch den Nebel, und jetzt, da sie zu sich kam, versuchte sie zuerst, die Augen zu öffnen. Was ihr mit einiger Mühe gelang.
Er saß ihr gegenüber, zwischen ihnen ein schmieriger Holztisch, eingetrocknete Weinflecken, sein Gesicht höchstens einen halben Meter von ihrem entfernt. Ein feuchter, grob verputzter Raum. Fensterlos. Kahl, wie eine Gefängniszelle. Sie roch sein Aftershave. Und etwas anderes, Metallisches.
»Ehrlich gesagt hatte ich gedacht, dass Sie früher wieder bei Bewusstsein sind.« Das klang fast vorwurfsvoll. Er lehnte sich ein wenig zurück, der Stuhl antwortete mit einem leisen Ächzen. »Schließlich habe ich Sie bereits vor knapp drei Stunden niedergeschlagen.«
Sie hörte deutlich, was er sagte. Was genau er allerdings damit meinte, verstand sie nicht. Das Denken fiel ihr schwer, es war wie am frühen Morgen, wenn der Wecker klingelt und man für ein paar Sekunden glaubt, bereits seit Ewigkeiten wach zu liegen, und noch keinen klaren Gedanken fassen kann. Sie hatte das Gefühl, zwischen Traum und Wirklichkeit zu treiben, knapp unter der Oberfläche eines lauwarmen, übelriechenden Sees, der sich irgendwo zwischen den Dimensionen befinden musste.
Ihre Hände und Füße waren mit Kabelbindern an einen Stuhl gebunden, dessen Lehne ungewöhnlich hoch zu sein schien. Um Hals und Stirn hatte er ihr dünne Lederriemen geschnallt, die an den Querstreben hinter ihr befestigt waren.
Vorsichtig versuchte sie, den Kopf zu bewegen.
Nichts.
Etwas musste er ihr in den Mund gestopft haben. Keuchend rang sie nach Atem, wartete auf die Panik, stattdessen spürte sie eine seltsame Euphorie. Wie damals, als sie ihren ersten (und einzigen) Joint geraucht hatte. Wie lange war das jetzt her? Dreißig Jahre?
»Wenn Sie sich übergeben, ersticken Sie. Hören Sie mich? Ich kann den Knebel nicht lösen. Und die Fesseln auch nicht.«
Er sprach leise, als würden sie an einem warmen Frühlingsabend in einem Straßencafé sitzen. Gleich kommt der Kellner, dachte sie, nein, es ist ein französisches Restaurant, verbesserte sie sich, wie heißen da die Kellner? Garçon? Ja, und er empfiehlt uns Eistörtchen zum Nachtisch. Nein, nicht Eistörtchen, was essen Franzosen zum Nachtisch? Himmelherrgott, warum war ich noch nie in Frankreich?
Wieder dieses seltsame Hochgefühl.
Was hast du mir gegeben? Und was willst du von einer fünfzigjährigen, übergewichtigen Deutschlehrerin, die seit dreizehn Jahren und vier Monaten keinen Mann hatte? Was?
Es war absolut still im Raum, abgesehen von ihrem angestrengten Atmen. Zwischen ihren Schläfen dröhnte ein hektisches Pochen, sie hatte Durst und spürte, wie etwas Klebriges, Feuchtes an ihren Beinen hinunterlief.
»Sie wissen natürlich nicht, warum Sie hier sind. Aber Sie können mir eines glauben«, er legte die Fingerspitzen aneinander, »das alles hier ist kein Zufall. Kein Zufall.«
Er hat ein bisschen was von diesem amerikanischen Schauspieler, dachte sie. Der, der wahrscheinlich als Rentner noch aussehen wird wie ein Teenager. Sie kam nicht auf den Namen, doch irgendwie musste sie sich erinnern, wie er hieß, es gab im Moment nichts Wichtigeres. Sie kniff die Augen zusammen, konzentrierte sich und wunderte sich selbst über ihre Erleichterung, als es ihr endlich einfiel: Johnny Depp. Nein, dachte sie dann, nicht Johnny Depp, was für ein Schwachsinn. Seine Augen sind ganz anders und haben nicht dieses tiefe Kastanienbraun, das ich so mag. Und er scheint größer zu sein, und irgendwie unbeholfener.
Aber die Ausstrahlung ist ähnlich. Dieses Traurige, Schwermütige.
Ein hysterisches Kichern stieg in ihr auf, ich bin von einem melancholischen Psychopathen entführt worden. Das Kichern ging in ein würgendes Husten über, die Luft wurde knapp, gelbe Punkte tanzten vor ihren Augen, wurden zu einem flammenden, kreischenden Rot, sie zerrte an ihren Fesseln, die sich immer fester in ihr Fleisch gruben. So ist es also, wenn man sich totlacht, dachte sie und spürte erleichtert, wie sie langsam wieder wegtauchte.
Er beugte sich vor und schlug ihr mit der flachen Seite des Messers leicht, fast spielerisch auf den rechten Unterarm.
»Atmen Sie durch die Nase. Und bleiben Sie ruhig.«
Schnaufend holte sie Luft.
»Besser?«
Ich fühle mich, als hätte ich einen feuchten Hamster verschluckt, bin am Ersticken, habe Durst und keine Ahnung, wer du bist, aber ansonsten geht’s mir gut, danke der Nachfrage, du … sie suchte nach dem geeigneten Schimpfwort, doch sosehr sie sich auch anstrengte, ihr fiel nichts ein, was passend erschien. Sie hatte Bukowski gelesen, Henry Miller kannte sie, gezwungenermaßen, auch, schließlich war das Unterrichtsstoff, doch am liebsten waren ihr die Klassiker. Einfache, klare Stoffe, ohne irgendeine Ferkelei, die den Kindern vermitteln, was wichtig ist. Hemingway zum Beispiel mochte sie, der war zwar einfach, bäuerlich, aber niemals vulgär. Das war etwas, was sie schon immer abgestoßen hatte, doch jetzt, unfähig zu sprechen, geschweige denn, sich zu bewegen, verspürte sie den unbändigen Drang, sich zu wehren. Und sei es nur in Gedanken.
Was sagte man in solchen Fällen? Arschloch? Wichser?
Sie spürte wieder, wie etwas Warmes an ihren Beinen hinunterfloss. O Gott, ich habe mich bepinkelt. Kann es noch schlimmer werden, du mieses, melancholisches Stück Scheiße?
Das waren für ihre Verhältnisse verbale Fäkalien der untersten Schublade, doch es half. Noch immer war da keine Angst, sondern eher etwas wie …
… Wut?
Mit einem Schlag wurde ihr bewusst, dass er sie töten würde. Dann bring es einfach hinter dich, dachte sie. Du kannst es nicht wissen, aber ich habe längst mit dem Leben abgeschlossen. Wer weiß – vielleicht tust du mir ja einen Gefallen?
»Sie sollten wissen, dass ich nicht krank bin.« Das schien ihm wichtig zu sein, er hatte sich vorgebeugt und sah sie ernst an. »Ich bin nicht krank, also nicht verrückt – jedenfalls nicht verrückter als jeder andere. Ich bin als Kind nicht missbraucht worden, und … und ich hatte auch niemals Spaß daran, irgendwelche Tiere zu quälen. Ich meine, ich habe meiner Katze nicht den Schwanz angezündet oder den Hund meiner Nachbarn vergiftet.«
Du musst mich vor dem Supermarkt erwischt haben, fiel ihr plötzlich ein. Ich wollte Dünger kaufen, für die Blumen und …
»Sie und ich, wir beide sind jetzt hier. Und Sie müssen wissen, dass Sie in meinen Augen überhaupt keine Schuld tragen an dieser Situation, Sie können wirklich nichts dafür …«, er zögerte und schien nach der geeigneten Formulierung zu suchen, blickte zur rissigen Wand, als würde dort im nächsten Moment das richtige Wort erscheinen.
… Basilikum?
»… für Ihren schmerzvollen vorzeitigen Tod.«
Schmerz?, dachte sie. Wieso spüre ich dann nichts?
»Ich denke, das sollten Sie wissen.«
Genau, Basilikum, überlegte sie, ich wollte Salat machen und dann zeitig ins Bett gehen. Die Augenlider wurden ihr schwer, und wieder spürte sie, wie sie langsam wegdriftete. Bilder schossen durch ihren Kopf, Dinge, die sie längst vergessen zu haben glaubte.
Sie schreckte hoch, als er krachend den Stuhl nach hinten schob, aufstand und in die Hände klatschte wie jemand, der nun endlich, wohl oder übel, zur Sache kommen muss. »Ich merke schon«, sagte er und lächelte ein wenig, »ich rede zu viel, Sie sind müde.«
Er hat schöne Zähne, dachte sie verwirrt.
»Sie sind nicht der erste Mensch, den ich töte, und so, wie es momentan aussieht«, mit einem Ruck löste er die Fesseln an ihrem Kopf, die mit einem leisen Klatschen zu Boden fielen, »werden Sie auch nicht der letzte sein.«
Er stand nun direkt vor ihr, beugte sich nah an ihr Ohr und flüsterte leise, ganz leise: »Es tut mir leid. Es tut mir sehr leid. Und ich bitte Sie um Verzeihung.«
Jetzt registrierte sie, dass er Gummistiefel trug, die fest mit einer olivgrünen, wasserdichten Anglerhose verschweißt waren. Das, mein Lieber, wollte sie sagen, sieht reichlich albern aus, doch das Einzige, was sie hervorbrachte, war ein ebenso albernes, gurgelndes Schnaufen.
Als sie endlich nach unten blickte, wurden ihre Sinne klar, und sie verstand. Es war, als hätte sie einen Eimer Wasser ins Gesicht bekommen, urplötzlich war sie hellwach, ein ätzendes, schwefliges Licht ging an, und obwohl sie sich wehrte, wurde das Bild scharf, grobkörnig, und sie wusste jetzt, warum es so nach Eisen roch, sah, dass das, was da an ihren Beinen herunterlief, etwas anderes war, etwas, das, wie man so schön sagte, dicker war als Wasser und dicker als Urin.
Sie schluchzte leise, als sie die immer größer werdende Pfütze bemerkte, die sich zwischen ihren Beinen gebildet hatte, und nun leuchtete ihr ein, warum er die Stiefel trug. Obwohl er jetzt zwei Meter von ihr entfernt war, stand er mitten in dieser dunkelroten, öligen Lache, in der sich das trübe Deckenlicht spiegelte.
Dann war er bei ihr, sie hörte das schmatzende Geräusch seiner Schritte, und als er ihr sagte, dass er nicht mehr warten könne, lächelte er verlegen.
Kurz darauf barsten die Wände, der Wahnsinn stand brüllend im Raum, öffnete dem Horror die Tür, und es war nicht Johnny...
Erscheint lt. Verlag | 1.6.2023 |
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Reihe/Serie | Zorn |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Bundle • Claudius Zorn • Der dicke Schröder • E-Book-Bundle • Ermittlerduo • Halle • Kleingartenanlage • Olaf Schubert • Rabattaktion • Schrebergarten • Serienmörder • Stephan Ludwig • Thriller Bestseller • Zorn-Serie |
ISBN-10 | 3-10-491925-9 / 3104919259 |
ISBN-13 | 978-3-10-491925-6 / 9783104919256 |
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