Taubenschlag (eBook)
384 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30399-5 (ISBN)
Dennis Jürgensen, geboren 1961, ist einer der beliebtesten dänischen Kinder- und Jugendbuchautoren und hat mehr als 60 Bücher veröffentlicht. 2014 startete er mit dem ersten von sechs Bänden seiner Krimireihe um den Kriminalhauptkommissar Roland Triel, die in Dänemark verfilmt wurde. »Gezeitenmord« ist der Beginn einer neuen Reihe, die in zahlreichen Ländern erscheint.
Dennis Jürgensen, geboren 1961, ist einer der beliebtesten dänischen Kinder- und Jugendbuchautoren und hat mehr als 60 Bücher veröffentlicht. 2014 startete er mit dem ersten von sechs Bänden seiner Krimireihe um den Kriminalhauptkommissar Roland Triel, die in Dänemark verfilmt wurde. »Gezeitenmord« ist der Beginn einer neuen Reihe, die in zahlreichen Ländern erscheint. Ulrich Sonnenberg, geboren 1955 in Hannover, arbeitet als freier Übersetzer und Herausgeber in Frankfurt/Main. 2013 erhielt er den Übersetzerpreis des Staatlichen Dänischen Kunstrats. Er übersetzte u.a. Bücher von Hans Christian Andersen, Carsten Jensen, Karl Ove Knausgård und Jens Andersens Astrid-Lindgren-Biografie.
3
Lykke hatte gerade das Badezimmer verlassen, als es klingelte, nicht nur einmal, sondern so beharrlich, dass es sich beinahe wie eine hässliche Melodie anhörte. Sie wickelte ein großes Handtuch um ihren noch dampfenden Körper, ging durch den Flur und hob den Hörer der Gegensprechanlage ab.
»Hören Sie schon auf«, sagte sie. »Wer ist da?«
»Ich bin’s. Wieso gehst du nicht ans Telefon? Lass mich rein! Schnell!«
Die Stimme war so schrill wie damals, als sie frisch verliebt waren und er sich um Karten für ein Springsteen-Konzert betrogen fühlte.
»Thomas?«
»Ja, natürlich.«
»Ich habe jetzt keine Zeit. Ich muss in fünfundzwanzig Minuten im Präsidium …«
»Es ist wichtig! Mach auf!«
Sie hörte, wie er an der Haustürklinke rüttelte.
»Verflucht, jetzt lass mich endlich rein!«
So zu fluchen, war eigentlich nicht seine Art. Das passierte nur, wenn er besonders gestresst war. Vielleicht hatte seine neue Frau auch schon genug von seiner unerträglichen Mutter.
»Lykke! Bist du noch da?«
Sie drückte auf den Knopf und öffnete die Wohnungstür einen Spalt.
Sie hatte es gerade noch geschafft, sich eine Unterhose anzuziehen, als er mit flatternder Jacke und zerzausten Haaren in ihr Schlafzimmer stürmte.
»Warum gehst du nicht ans Telefon?«, wiederholte er.
»Ich habe mir erlaubt, ein Bad zu nehmen, wenn es dir nichts ausmacht. Was ist denn los?«
Er hatte einen ganz besonderen Gesichtsausdruck, der ihre professionellen Alarmglocken schrillen ließ. Instinktiv spannte sie die Arm- und Beinmuskulatur an. Vor ihrer Scheidung hatte sie ihn ein paar Mal so gesehen, aber er hatte sie nicht angefasst. So war er nicht. Es musste sich um etwas anderes handeln. Sie ging ihm entgegen.
»Was ist los, Thomas?«
»Ich habe ihn gerade gesehen.«
»Wen?«
»Na, ihn. Das Schwein. Grys Mörder!«
Sie hatte das Gefühl, als würde die Wärme des Bades schlagartig verschwinden und eine Eisschicht den Nacken und Rücken überziehen.
»Wo? Was meinst du?«
Ihr Ex-Mann wedelte wie eine flügellahm geschossene Möwe hilflos mit den Armen. Lykke packte ihn hart an der Schulter und sah ihm fest in die Augen.
»Wo, Thomas. Erzähl mir, was passiert ist.«
Obwohl es über fünf Jahre her war, dass ihre Tochter unter tragischen Umständen gestorben war, standen beiden die Ereignisse noch klar vor Augen. Lykke hatte gearbeitet und Thomas auf Gry aufgepasst. Sie waren im Park gewesen. Thomas war bei den sommerlichen Temperaturen einen Moment eingenickt, als das Mädchen ihrem kleinen Hund nachlief. Es kam zu einer Konfrontation mit einem Pitbull Terrier, dessen Besitzer den Hund weder an der Leine noch unter Kontrolle hatte. Erst griff der Pitbull den Hund an, dann das Mädchen. Und mitten in dem ganzen Tumult verschwand der Hundehalter mit dem Hund. Trotz mehrerer guter Personenbeschreibungen hatte die Polizei ihn nie gefunden.
»Wo hast du ihn gesehen?
»Im Bus.«
»In welchem Bus? Welche Linie?«
»Er ging zu Fuß.«
»Wo stieg er aus?«
»Er war doch nicht im Bus.«
Sie versuchte, ihre steigende Ungeduld unter Kontrolle zu halten. Seine Frustration war ansteckend. Lykke zwang sich zu professioneller Distanz, als würde sie jemanden im Präsidium verhören.
»Ich verstehe nicht, was du meinst. Welchen Bus? Erklär’s mir.«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich bin sicher, er war es.«
»Nimm dich zusammen, Thomas!«
Er fuhr sich mit der Zunge über seine trockenen Lippen.
»Ich … ich habe den Bus genommen, weil Cecilie das Auto braucht. An den Seen kam es zu einem Verkehrsstau. Ich war mit meinem Handy beschäftigt und habe irgendwann aus dem Fenster geguckt. Es war reiner Zufall. Plötzlich bemerkte ich einen Mann mit einem Hund. Er rauchte eine Zigarette, während der Hund an einen Baum pinkelte. Er hatte mir sein Gesicht direkt zugewandt. Der Abstand zwischen uns betrug höchstens zehn Meter. Zuerst konnte ich mich nicht erinnern, wo ich ihn schon mal gesehen hatte, er kam mir nur bekannt vor. Wie bei Schauspielern, die man in einer Menge Nebenrollen gesehen hat, aber sich nie erinnern kann, in welchem Film genau.«
»Du hast den Mörder deiner Tochter nicht sofort wiedererkannt? Na, großartig.«
»Beruhig dich, lass es mich erklären.«
»All right. Du hast also einen Mann mit einem Hund gesehen. Ich sehe jede Menge Männer mit Hunden. Was war an ihm so besonders?«
»Das war’s ja. Es war die Art und Weise, wie er dastand. Du hast mich doch selbst an seine merkwürdigen Zuckungen erinnert. Und der Hund war ein Pitbull.«
Sie runzelte die Stirn.
»Zuckungen? Du meinst Tics?«
»Tics, ja. Jedes Mal, wenn du mich verhört hast – und das hast du damals ja oft getan, Schatz –, habe ich erklärt, dass er diese Zuckungen oder Tics hatte.«
Lykke ignorierte, dass er sie »Schatz« genannt hatte. Alte Gewohnheit vermutlich. Ihr gefiel auch der Begriff »verhören« nicht, aber wahrscheinlich hatte sie genau das getan. Sie hatte ihn ausgequetscht, sich an so viele Details wie möglich zu erinnern. Mindestens ein weiterer Zeuge hatte der Polizei gegenüber auch diese Tics erwähnt.
»Wie hat es sich geäußert? Es gibt viele verschiedene Tics.«
Sie kannte die Antwort genau, aber sie wollte hören, ob die Antwort von seiner Erinnerung abwich.
»Es war der rechte Arm. Er zuckte am Ellenbogen vom Körper weg.«
Es passte zu seinen früheren Erklärungen.
»War das alles?«
»Es war die Art und Weise, wie er dastand, als er auf den Hund wartete. Er hob den Arm, um an seiner Zigarette zu ziehen, aber der Arm zuckte zur Seite, als ob jemand dem Ellenbogen einen Stoß versetzt hätte. Das wiederholte sich ein paar Mal, bevor er den Arm unter Kontrolle hatte. Es sah durchaus ein bisschen komisch aus. So hat er damals auch im Park gestanden, als er sein Raubtier angeleint hatte und versuchte, sich eine Zigarette anzustecken.«
Wieder eine Übereinstimmung.
»Hast du sein Gesicht gesehen?«
»So deutlich, wie ich dich jetzt sehe. Ich würde ihn in einem vollen Fußballstadion erkennen. Er hat sehr blasse Haut und … nicht kahl, aber sehr kurz geschoren, du weißt schon, so eine Schuhbürstenfris…«
»Welche Haarfarbe?«
»Hellblond, vielleicht ein bisschen rötlich, und so ein kantiges, etwas eingefallenes Gesicht. Seine Augen sind klein und sitzen dicht zusammen.«
»Farbe?«
»Grün.«
»Bist du sicher?«
»Oder blau. Auf jeden Fall nicht braun.«
»Bekleidung?«
»Er trug einen schwarzen Kapuzenpullover, eine Jogginghose und Turnschuhe.«
»Dick? Dünn?«
»Es war ein großer Pullover, aber er sah im Park eher dünn aus. Hör schon auf, wir haben das schon millionenfach durchgespielt. Er hatte an dem Tag ein eng sitzendes T-Shirt an. Er ist schmächtig und groß. Wie ich.«
»Du bist nicht groß, Thomas. Du bist mittelgroß.«
Er machte ein gekränktes Gesicht.
»Ich bin eins achtzig.«
Keine Übereinstimmung. Laut seinem Ausweis war er hundertzweiundsiebzig Zentimeter groß, allerdings mit Schuhen.
»Alter?«
»Zwischen fünfundzwanzig und dreißig. Er war es, Lykke. Ich bin mir absolut sicher.«
Sie musterte ihn skeptisch.
»An welchem See war das?«
»Sortedam. Der mit der Vogelinsel.«
»Warum bist du nicht ausgestiegen und hast ihn verfolgt?«
»Das wollte ich doch, aber dann wurde die Ampel grün, und der Bus fuhr weiter. Ich bin zum Fahrer gelaufen, er sollte anhalten und mich rauslassen, aber das wäre zwischen den Haltestellen nicht möglich, hat er gesagt. Er hätte einen Zeitplan und könnte nicht auf diese Weise den Verkehr blockieren. Ich sagte, es ginge darum, einen Mörder zu fangen, aber das hat er mir nicht abgenommen. Vermutlich hat er geglaubt, es mit einem psychisch Gestörten zu tun zu haben. Also musste ich bis zur nächsten Haltestelle warten, bevor ich aussteigen konnte.«
»Und was hast du dann gemacht?«
»Ich habe versucht, dich anzurufen. Und ich bin natürlich zurückgelaufen, bis zum Ende des Sees, aber er war nicht mehr da. Ich habe mehrere Fußgänger gefragt, ob sie einen Mann mit einem Hund gesehen hätten. Ich habe ihn beschrieben. Eine junge Frau meinte, sie hätte vielleicht einen Burschen gesehen, auf den die Beschreibung passt, aber sie wusste nicht, wohin er gegangen war. Ich bin auch durch die nächsten Seitenstraßen gelaufen, aber er war verschwunden.«
»Und der Hund war ein Pitbull? Bist du sicher?«
»Ja, absolut sicher. Er war es. Diese weiße Fratze, die Frisur und diese nervösen Zuckungen, diese Tics.«
Die Tics waren der vielversprechendste Hinweis. Nicht allzu viele Menschen hatten derartige Zuckungen, und die Götter wussten, dass sie in all den Jahren danach Tausende junger Männer in Kopenhagen und Umgebung beobachtet hatte, ob sie unfreiwillig mit den Armen zuckten.
»Vielleicht wird die Gegend von Videokameras überwacht«, murmelte sie vor sich hin.
»Da gibt’s aber keine Läden«, wandte er ein.
Lykke grübelte.
»Die Verkehrsüberwachung könnte sie installiert haben. Wieso hast du mich nicht einfach angerufen und weitergesucht, statt Zeit zu verschwenden und hierherzukommen?«
»Das habe ich doch schon gesagt. Du bist nicht ans Telefon gegangen.«
Das schlechte Gewissen meldete sich, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gab. Sie verteidigte sich.
»Ich war im Bad, okay?«
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass er...
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2023 |
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Reihe/Serie | Deutsch-dänische Grenzfälle | Deutsch-dänische Grenzfälle |
Übersetzer | Ulrich Sonnenberg |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2. Band • 2. Fall • ann kathrin klaasen ermittelt • Bücher wie Nele Neuhaus • dänemark krimi serie • dänischer Bestseller • Dänischer Krimi • Deutsch-dänische Grenzfälle • Ein Fall für Juncker und Kristiansen • Ermittlerduo • Flensburg • Gezeitenmord • Grenzkrimi • Historischer Bezug • janni pedersen • Jütland • Kiel • kim faber • Klaus Peter Wolf • Kommissarin Lykke Teit • Kommissar Rudi Lehmann • Krimi neuerscheinung 2023 • krimireihen deutschland • Krimis ähnlich wie Simone Buchholz • Mörderland • Nordsee-Krimi • Ostfriesenkrimi • ostfriesensturm • Polizeiarbeit • Polizeitarbeit • Teit und Lehmann • Thriller Neuerscheinungen 2023 • Tove Alsterdal • Trauer • weibliche Ermittlerin • whodunit krimis • Winterland • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-462-30399-6 / 3462303996 |
ISBN-13 | 978-3-462-30399-5 / 9783462303995 |
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