Glutspur (eBook)
464 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60449-9 (ISBN)
Katrine Engberg, geboren 1975 in Kopenhagen, arbeitete für Fernsehen und Theater und war als Tänzerin, Choreografin und Regisseurin landesweit bekannt, bevor sie in der Welt des skandinavischen Thrillers debütierte - mit großem Erfolg, auch international. Katrine Engberg lebt mit ihrer Familie in Kopenhagen.
Katrine Engberg, geboren 1975 in Kopenhagen, arbeitete für Fernsehen und Theater und war als Tänzerin, Choreografin und Regisseurin landesweit bekannt, bevor sie in der Welt des skandinavischen Thrillers debütierte – mit großem Erfolg, auch international. Katrine Engberg lebt mit ihrer Familie in Kopenhagen.
Kapitel 1
Die Dächer von Kopenhagen lagen wie Silhouetten in der frühen Morgenstunde, das Tageslicht hatte sie noch nicht geküsst. Ein schöner Anblick, und trotzdem gab er Liv Jensen das Gefühl, fremd in der Welt zu sein. Nirgendwo mehr hinzugehören. Nicht nach Rødovre, nicht nach Nordjütland und schon gar nicht hier in die Hauptstadt mit ihrem Asphalt und ihrer Geschäftigkeit und ihrer selbstverliebten Arroganz. Die Glaswand vor ihr präsentierte die Postkartenversion der Stadt. War man nur auf der Durchreise, konnte das idyllische Bild durchaus noch intakt sein, wenn man Kopenhagen wieder verließ. Aber Liv war nicht verzückt, sie war nicht einmal neugierig.
Sie sah ihr eigenes Gesicht im Glas und zog den Hotelbademantel fester um sich. Hinter ihr lagen geschlossene Türen und vor ihr Ungewissheit und halbherzige Pläne. Wenn man seine Träume verliert, verblasst das Leben zu nichts.
»Kommst du nicht zurück ins Bett?«
Thereses Stimme war sanft und ohne jeden Vorwurf. Liv drehte sich um und versuchte, die Konturen ihres nackten Körpers unter der Bettdecke auszumachen. Die glatte Haut und die runden Formen würde sie vermissen. Therese verkörperte all die Schönheit, der sie selbst nicht einmal nahekam. Aber es war mehr als das. Sie kannten sich erst fünf Monate, doch Liv wusste genau, was sie so anziehend an ihr fand. Therese war gut im Leben. Gesund. Ihre Lebensentscheidung frei und ohne Scham. Die Fehler, die andere Menschen eifrig zu verbergen suchten, teilte sie freudig mit anderen. Lachend erzählte sie, wie ihre Mutter sie einmal erwischt hatte, als sie ihr Geld aus der Geldbörse stehlen wollte, und wie sie zur Strafe die Gartenhecke hatte schneiden müssen.
Liv hatte nie etwas gestohlen, aber es gab so viel anderes, für das sie sich schämte. Das sie für sich behielt. Trotz Thereses Toleranz war sie ziemlich sicher, dass sie die Lasten nicht verstehen würde, die sie mit sich herumtrug. Vielleicht war es nur gut, sie jetzt zu enttäuschen, dann blieb sie auf lange Sicht verschont. Liv zog den Bademantel aus und kroch unter die kühle Bettwäsche zu Thereses Wärme.
»Kannst du nicht schlafen?«
»Nein.«
Sie lagen im Dunkeln, ohne etwas zu sagen. So lange kannten sie sich auch noch nicht, erinnerte sich Liv, sie schuldete niemandem eine Erklärung.
Therese beugte sich vor und küsste sie mit weichen Lippen, öffnete den Mund und ließ die Zungenspitze den Kuss vertiefen.
Liv wich ein wenig zurück, nur einen Millimeter.
»Es ist okay, wir können uns auch nur küssen, wenn du noch nicht so weit bist.« Therese strich ihr über die Haare.
»Das ist es nicht. Ich muss dir etwas sagen.«
»Okay …?«
Therese zog sich zurück und stützte sich auf den Ellenbogen. Wie sie in ihrem Körper ruhte, war beneidenswert. Die Seele so ganz im Einklang mit dem Körper. Selbst wenn sie wütend war, wirkte sie harmonisch. Keine toten Winkel, war das wirklich so? Liv deckte sich zu und schaute in die Dunkelheit. Der rote Lichtfleck des Flachbildschirms leuchtete einige Meter entfernt, und sie fokussierte den Blick darauf. »Ich komme nicht nach Aalborg zurück.«
»Wie meinst du das?«
»Das hier ist kein Urlaub. Ich habe vor drei Monaten gekündigt und meine Wohnung ausgeräumt. Ich hätte es dir schon früher gesagt, aber …«
Aber was eigentlich? Es war so schnell gegangen, war das ihre Entschuldigung? Sie hatte es zu eilig gehabt wegzukommen, um Rücksicht zu nehmen?
»Ich dachte, du liebst deinen Job?«
Liv lächelte im Dunkeln, doch das Lächeln fühlte sich steif an. »Ich brauchte etwas Neues. Aalborg ist zu klein, ich brauche neue Herausforderungen!«
Die Worte klangen so hohl, wie sie waren. Sie fühlte sich durchschaut wie ein dilettantischer Schauspieler, der sich an Hamlets Monolog versucht.
»Ich habe eine Wohnung in Vesterbro gefunden und hole morgen die Schlüssel ab.«
»Und was ist mit uns?«
Therese klang traurig.
»Wir können uns doch besuchen. Wie jetzt.«
Therese schloss die Augen, als täten Livs Worte ihr weh. Dann schüttelte sie den Kopf. »So funktioniert das nicht, Liv.«
»Was?«
»Die Liebe, verdammt!«
Therese schlug die Decke zur Seite und stand auf. Sammelte ihre Sachen zusammen, ging ins Bad und schloss die Tür hinter sich.
Liv blieb liegen. Sie sollte Therese nachgehen, sie in den Arm nehmen und ihr die Wahrheit sagen, aber das konnte sie nicht. Sie konnte sich kaum selbst in die Augen sehen, wie sollte ein anderer Mensch sie je wieder respektieren, sie sogar lieben? Sie musste sich hier hindurcharbeiten und auf der anderen Seite herauskommen, gestärkt hoffentlich. Sich ein neues Leben in der Hauptstadt aufbauen. Eine neue Liv. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Sie konzentrierte sich wieder auf den roten Lichtfleck. Er verlieh ihr einen Hauch von Sicherheit, das Gefühl eines Ankers mitten im Chaos.
*
An ihrem einundvierzigsten Geburtstag erwachte Hannah Leon früh am Morgen und sah zur Decke ihres alten Kinderzimmers hoch. Ihr erster Gedanke galt ihrem Bruder, wie er das seit dem 11. Februar jeden Morgen tat. Aber vor allem heute, dem ersten Geburtstag ohne ihn. Sie streckte sich und setzte die Füße auf den rauen Holzboden, von dem man Splitter in die Zehen bekam, wenn man nicht daran dachte, über die Flickenteppiche zu gehen. Einen blauen, einen grünen und einen violetten. Sie hatte sie zu ihrem zwölften Geburtstag bekommen und bei derselben Gelegenheit die Teddybären rausgeworfen, um die letzten Spuren von Kinderzimmer zu beseitigen. Mit der Zeit hatte die Sonne die Teppiche so ausgebleicht, dass man die Farben kaum noch unterscheiden konnte, aber sie bildeten weiter einen Weg vom Bett zu Kleiderschrank und Tür.
Das Handy auf dem Nachttisch piepte, und sie beugte sich vor, um einen Blick aufs Display zu werfen. Schloss das Candy-Crush-Spiel, über dem sie am Abend zuvor eingeschlafen war. Keine Nachricht von Rune, vielleicht hatte er es vergessen. Sie legte das Telefon zurück. Der heutige Tag musste einfach überstanden werden.
Als sie am Schlafzimmer ihres Vaters vorbeikam, blieb sie einen Moment stehen und lauschte. Es war still. Kein Grund, ihn jetzt schon zu wecken.
Die Kupferrohre im Badezimmer dröhnten, während Hannah unter den wechselnden Temperaturen der Dusche herumtrippelte. Ihre Eltern hatten davon gesprochen, die Rohre auszuwechseln, es aber nie umgesetzt. Der Spiegel über dem Waschbecken offenbarte die Lachfältchen um ihre dunklen Augen und ein paar graue Haare, die wieder am Scheitel aufgetaucht waren. Hannah zupfte sie mit einer Pinzette aus, nahm die Haare schnell zu einem Knoten zusammen und zog Jeans und einen Pullover an, bevor sie die geschwungene Treppe in die Diele hinunterging.
Sie tastete an der Wand nach dem Lichtschalter und sammelte ihren ganzen Mut, um die Kellertreppe hinunterzusteigen. Daniel war vor fünf Jahren eingezogen, damals, als er von Penelope geschieden worden war und einen sicheren Ort gebraucht hatte, während es ihm am schlechtesten ging. Sie mochte nicht an diese Zeit erinnert werden und vermied es, in den Keller zu gehen. Sie vermied überhaupt vieles seit Daniels Selbstmord im Februar. Sich mit Leuten zu treffen zum Beispiel und zur Arbeit und zu ihren Tangostunden zu gehen, ja, generell das Haus zu verlassen.
Sie ertrug die Neugier der Menschen nicht. Sie ertrug auch ihr Mitleid nicht.
Ihre Finger ertasteten den Schalter, er hatte sich leicht vom Putz gelöst und hing an den Kabeln. Die Liste, was alles in dem alten Haus repariert werden musste, erinnerte an die Köpfe des Seeungeheuers Hydra. Jedes Mal, wenn man einen abschlug, wuchsen zwei neue nach.
Sie zog das Handy aus der Hosentasche. Der Lichtschein ihrer Handytaschenlampe fegte über die alten Möbel ihres Bruders – das schmale Bett, den Schreibtisch und das volle Bücherregal –, bevor er bei zwei Umzugskartons haltmachte. Sie enthielten die Fallakten von Daniels Prozess und Tod und die wenigen Besitztümer, die er mit im Gefängnis gehabt hatte.
Hannah legte eine Hand auf den obersten Karton. Er war eingestaubt, und die Ecken waren nach innen eingebeult. Der Name der Spedition stand schwarz auf der Seite. Sie öffnete ihn und leuchtete hinein....
Erscheint lt. Verlag | 28.9.2023 |
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Reihe/Serie | Liv-Jensen-Reihe |
Liv-Jensen-Reihe | Liv-Jensen-Reihe |
Übersetzer | Hanne Hammer |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | besondere Ermittler • Bestseller-Autorin • dänischer Bestseller • Dänischer Krimi • Dunkle Vergangenheit • Familiengeheimnisse • Flucht • Gehobene Spannung • Juden • Jütland • Kopenhagen • Krimireihe • Krisenpsychologin • Nazis • Privatdetektivin • Skandinavischer Krimi • Verfolgung • Vergangenheitsbewältigung • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-492-60449-8 / 3492604498 |
ISBN-13 | 978-3-492-60449-9 / 9783492604499 |
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