Der stille Vogel (eBook)
512 Seiten
HarperCollins eBook (Verlag)
978-3-7499-0621-5 (ISBN)
Tragödien verjähren nie - ein neuer Fall für den ehemaligen FBI-Agenten John Adderley
In einem Vogelnest wird ein Stück eines menschlichen Knochens gefunden. Der kleine schwedische Ort ist in Aufruhr, denn vor dreißig Jahren verschwanden die Brodin-Zwillinge auf mysteriöse Weise von einem Spielplatz in der Stadt. Stammt der Knochen von einem der Jungen? Warum taucht der Knochen jetzt auf? In der Straße, in der die Zwillinge wohnten, werden die Spekulationen immer wilder. Der frühere FBI-Agent John Adderley - jetzt Bezirksbeamter in Karlstad - hat den erneut geöffneten Fall auf seinem Schreibtisch und muss sich zeitgleich um seine neunjährige Nichte kümmern.
Der dritte Teil der beliebten schwedischen Krimi-Reihe um den Ermittler John Adderley
Peter Mohlin ist Journalist. Er ist genau wie sein Coautor und bester Freund Peter Nyström in der Nähe von Karlstad in Schweden aufgewachsen. Die beiden sind seit Kindheitstagen befreundet und schrieben bereits mit zehn Jahren ihre erste Kriminalgeschichte. Gemeinsam verfassen sie die Karlstad-Reihe
6.
Torgny sah zu, wie sich seine Schwester ein neues Glas Wein einschenkte. Offenbar war er doch genießbar, obwohl keine Katze auf dem Karton prangte. Sie erzählte eine Geschichte, die Torgny schon oft gehört hatte. Sie handelte von Pål Kratz und seiner Rückkehr nach Ålvikshöjden.
Torgny kannte die Hintergründe, denn sie waren Teil seiner eigenen Kindheit. Im Haus neben seinem Elternhaus wohnte Solveig mit ihrem Sohn Pål und ihrer jüngeren Tochter Linnea, die geistig behindert war. Oder Mongo, wie Torgny und die anderen Straßenkinder das arme Mädchen nannten. Aber nie so, dass Mutter Solveig es hören konnte. Sie hatte dicke Oberarme und eine Teppichpeitsche, die an einem Nagel im Flur hing.
Die Kinder fürchteten sich vor Solveig, und die Erwachsenen flüsterten, dass sie ihnen leidtue. Der Vater der Kinder hatte das Weite gesucht, sobald klar war, dass seine Tochter nicht so war, wie sie sein sollte.
Torgny erinnerte sich, wie er ein paarmal versucht hatte, mit dem großen Bruder Pål zu spielen. Sie waren gleich alt, und er ging in die Parallelklasse der Mittelschule in Grums. Es hatte nicht geklappt. Der Junge von nebenan war ein schrecklicher Fußballer und hatte keinerlei Ballgefühl. Er war still und schien am liebsten mit seinen Comics allein zu sein.
Auch als Teenager machte Pål nicht viel aus sich. Er hing mit den jüngeren Jungs auf der Straße herum und ging selten auf Schulpartys. Man kannte ihn vor allem als Mongo-Linneas Bruder.
Bis zur Woche nach den Abschlussprüfungen.
Da trat er aus dem Schatten und war einen Sommer lang das große Gesprächsthema in Ålvikshöjden. Pål haute ab, ohne jemandem ein Wort zu sagen. Der Zettel, den er laut Mythos auf dem Küchentisch hinterließ, brachte ihm unter seinen Altersgenossen in Grums einen legendären Status ein.
Ich bin jetzt weg!
Ein James Dean, der im sulfatgesättigten Licht der Morgendämmerung die Silhouette der Fabrik hinter sich ließ. Cooler ging es kaum.
Torgny erinnerte sich, dass sein Vater nicht so beeindruckt gewesen war. »Solveig hat es auch so schon schwer genug«, hatte er gemurmelt und war mit einer Tüte aufgetauter Brötchen aus der Tiefkühltruhe zum Nachbarhaus gegangen. Dort war er so lange geblieben, dass seine Mutter Torgny als Boten schicken musste, um ihm zu sagen, dass das Abendessen fertig sei.
Ivar hatte dem Ausreißer eine Woche gegeben. Dann würde er zurückkommen, hungrig und beschämt. Torgny hatte auch gedacht, dass Pål bald wiederauftauchen würde. Aber das tat er nicht.
Soweit Torgny wusste, hatte Solveigs Sohn seit über dreißig Jahren keinen Fuß mehr nach Ålvikshöjden gesetzt. Bis vor ein paar Wochen. Da hatte er plötzlich auf dem Nachbargrundstück den Rasenmäher angeworfen, und Sussie, die sich gerade auf der Terrasse sonnte, einen Heidenschreck eingejagt.
»Ich glaube, es geht um das Erbe«, sagte seine Schwester und schnitt ein Stück vom Rinderfilet ab, das vor ihr auf dem Teller lag.
Halil hatte eine Rettungsaktion gestartet und die Fleischstücke auf ein Blech in den Ofen gelegt. Jetzt waren sie an der Oberfläche schwarz und in der Mitte zäh durchgebraten.
»Solveig hat doch kein Geld, oder? Sie hat ihr ganzes Leben in ihrem Laden gesessen und Vorhänge genäht«, sagte Torgny und legte das Besteck beiseite. Er hatte sich an den Kartoffeln und der ungesunden Sauce béarnaise satt gegessen.
»Ihr gehört das Haus«, sagte Sussie. »Du hast doch gehört, was Göran und Birgitta für ihr Haus bekommen haben, oder?«
Ja, Torgny hatte es gehört. Die Leute in Ålvikshöjden sprachen von nichts anderem. Es war, als hätte die ganze Straße in der Postleitzahlenlotterie gewonnen.
»Was sagt Solveig selbst dazu?«, fragte Beatrice. »Weiß sie, dass ihr Sohn sie besucht?«
»Besucht?«, sagte Sussie und stellte das Glas so hart auf das Wachstuch, dass der Wein über den Rand spritzte. »Er ist hier eingezogen, verdammt. Wer tut das seiner alten Mutter an? Bleibt so lange weg und taucht dann wieder auf, als wäre nichts gewesen?«
»Ich glaube nicht, dass sie ihn erkennt«, sagte Halil, als sich Schweigen breitmachte. »Die Demenz wird immer schlimmer.«
»Sie erkennt mich.« Sussie schaute ihren Mann streitlustig an.
»Ja, aber das ist etwas anderes«, sagte Halil. »Du bist seit Jahren jeden Tag dort.«
»Das stimmt«, sagte sie. »Ich habe mich um sie und Linnea gekümmert. Ich habe die häusliche Pflege übernommen, die Rechnungen bezahlt und dafür gesorgt, dass das Haus einigermaßen sauber ist. Alles, was Pål hätte tun sollen, und dann behandelt er mich wie einen Eindringling.«
»Habt ihr euch wieder gestritten?«, fragte Torgny.
Sussie nickte. »Ich war heute Morgen vor der Arbeit da, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Und natürlich hatte der Idiot die Tabletten falsch einsortiert. Sie sollte das Alendronat am Dienstag nehmen, nicht am Donnerstag. Also habe ich Pål aus dem Bett geholt und ihn gefragt, ob er will, dass seine Mutter stirbt.«
Torgny sah, wie Halil seine Brille abnahm und sich zaghaft die Nasenwurzel massierte.
»Aber glaubst du, dass er sich bedankt hat?«, fuhr Sussie fort. »Nix da. Stattdessen wurde er wütend, weil ich ihn geweckt hatte, und sagte, ich solle anklopfen, bevor ich hereinkomme.« Sie bearbeitete das zähe Stück Fleisch so wutentbrannt, dass das Messer über das Porzellan schabte.
»Versteh mich nicht falsch, Sussie«, sagte Beatrice. »Aber es ist kein Wunder, dass er so reagiert. Pål wohnt dort, und das musst du respektieren. Es ist jetzt seine Aufgabe, sich um Solveig und Linnea zu kümmern, nicht deine.«
»Aber er kommt damit nicht klar! Soll ich mich etwa zurücklehnen und die alte Dame sterben lassen?«
»Sie wird nicht sterben, weil sie das Alendronat am falschen Tag bekommt«, sagte Beatrice. »Gib Pål etwas Zeit, dann wird er die Abläufe schon in den Griff bekommen.«
Sussie breitete dramatisch die Arme aus. »Wer sagt, dass er nicht wieder abhaut? All die Jahre hat er seine Mutter und seine Schwester im Stich gelassen und uns die ganze Arbeit machen lassen. Nicht nur mich, auch dich.« Sie nickte Halil zu, der sich die Brille wieder auf die Nase schob.
»Ich habe den Rasen gemäht und Schnee geschippt«, sagte er. »Keine großen Sachen.«
»Und was haben wir dafür bekommen?«, fragte Sussie. »Dafür, dass wir uns um sie gekümmert haben? Nichts, nicht einmal ein Dankeschön.«
»Ganz umsonst war das doch bestimmt nicht«, wandte Beatrice ein. »Als Pflegerin bekommst du eine Aufwandsentschädigung von der Gemeinde, oder?«
Sussie schnaubte. »Diese Pennys machen keinen Unterschied.«
»Aber Solveigs Auto scheint sehr komfortabel zu sein. Damit seid ihr doch im letzten Sommer in den Urlaub gefahren, wenn ich mich recht erinnere.«
Torgny legte seiner Frau die Hand auf den Arm. Auch er hatte Sussies Nörgelei satt, aber seine Schwester in dieser Stimmung zu provozieren, konnte nur auf eine Weise enden. Das wusste er aus Erfahrung. Die Türklinke ihres Kinderzimmers war immer noch lose, weil sie die Tür so oft zugeknallt hatte.
»Solveig hat nichts dagegen, wenn wir uns ab und zu den Audi ausleihen«, meinte Sussie.
»Aber Pål vielleicht schon«, meinte Beatrice. »Da liegt der Hase im Pfeffer. Sonst würde das Auto wie immer in eurer Einfahrt stehen. Aber das tut es nicht mehr, es steht in Solveigs.«
»Es kann dir doch scheißegal sein, wo das Auto steht.« Sussie sprang auf und riss ihr Besteck mit sich. Messer und Gabel fielen auf ihre Hose und hinterließen Saucenflecken, bevor sie auf dem Holzboden landeten. Sie stürmte ins Haus und verschwand. Torgny hatte Mitleid mit Halil, der ihr hinterherlaufen musste, um sie zu beruhigen.
»Musst du so stur sein?«, flüsterte er Beatrice zu, als sie allein auf der Terrasse zurückblieben. »Sussie hat sich wirklich für Solveig und Linnea eingesetzt. Wer weiß, was sonst passiert wäre.«
»Ich weiß, und natürlich war es dumm«, sagte Beatrice. »Aber es stört mich, wenn sie sich als Florence Nightingale aufspielt und sie zugleich ausnutzt.«
»Es ist doch kein Weltuntergang, wenn sie sich manchmal das Auto ausleiht.«
»Es ist nicht nur das. Mach die Augen auf, Torgny. Können wir es uns leisten, mitten in der Woche Rinderfilet zu kaufen? Ich bin sicher, die alte Tante bezahlt es.«
»Du solltest nicht über Dinge reden, von denen du keine Ahnung hast«, sagte er.
Beatrice seufzte. »Ich verstehe nicht, warum du immer auf Sussies Seite bist.«
»Und ich verstehe nicht, warum du sie immer niedermachen musst.«
Stille senkte sich über die Terrasse. Nicht die wortlose Stille, die Torgny zu schätzen gelernt hatte, wenn er mit seiner Frau in der Küche Kaffee trank. Sondern die aufdringliche Art, die früher oder später durchbrochen werden musste.
»Zahlt sie denn Miete für das Haus?«, fragte Beatrice schließlich.
»Ja, laut meiner Mutter schon.«
»Wer’s glaubt, wird selig. Stört es dich nicht, dass sie einfach mit ihren Kindern hier eingezogen ist und das Haus übernommen hat?«
»Können wir ein andermal darüber reden?«, fragte Torgny.
Er stand auf, kratzte die Teller ab und stapelte sie auf dem Tisch. Das übrig gebliebene Fleisch legte er in die Schüssel, in der die Kartoffeln gewesen waren, und stellte sie unter den Deckel des Grills, damit die Vögel nicht an die Reste herankamen. Beatrice sammelte die Gläser ein und kippte die Weinreste auf den Rasen.
...Erscheint lt. Verlag | 23.1.2024 |
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Reihe/Serie | Ein Karlstad-Krimi | Ein Karlstad-Krimi |
Übersetzer | Max Stadler |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Den tysta fågeln |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Arne Dahl • bücher krimi thriller • CLASSIC NORDIC NOIR • Cold Case • ColdCase • Der andere Sohn • FBI • Fortsetzung • Hakan Nesser • Hjorth & Rosenfeldt • John Adderley • Jo Nesbo • Karlstad • Karlstad-Krimi • Krimi Schweden • Lars Kepler • Mohlin und Nyström • Mord am Fjord • Mordfall • Mord Skandinavien • Polizei • Schweden • Schwedenkrimi • Schwedenkrimis • Sebastian Bergman • Stefan Ahnhem • Thriller • undercover |
ISBN-10 | 3-7499-0621-1 / 3749906211 |
ISBN-13 | 978-3-7499-0621-5 / 9783749906215 |
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Größe: 2,6 MB
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