Der Schattenmann (eBook)
352 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-27774-1 (ISBN)
Kester Schlenz war bis vor kurzem noch Redakteur und Ressortleiter beim Magazin Stern. Jetzt ist er Rentner, lehnt diese Bezeichnung aber für sich ab, weil sie ihm zu sehr nach »alter Knacker« klingt. Schlenz ist Autor zahlreicher Sachbücher, darunter die Besteller 'Mensch, Papa! Vater werden - das letzte Abenteuer' und 'Alter Sack, was nun?'. Außerdem schreibt er mit seinem Kumpel Jan Jepsen erfolgreiche Krimis.
… – – – …
Alles schlief, als ein blauer VW Tiguan in der Dunkelheit über die Max-Brauer-Allee in Hamburg-Altona fuhr und links in die kleinere Julius-Leber-Straße abbog. Der Wagen verlangsamte sein Tempo. Zone 30. Bloß nicht auffallen jetzt. Der Fahrer schien etwas zu suchen. Eine Hausnummer. Dann stoppte er, setzte etwas zurück und fuhr in eine der seltenen Parklücken in dieser Gegend. Der Motor wurde ausgeschaltet. Das Licht erlosch. Doch die Türen blieben verschlossen.
Eine Zeitlang stand der Wagen in der Dunkelheit. Nichts rührte sich im Auto. Als würde noch schnell ein Telefonat geführt, ein Beitrag im Radio zu Ende gehört. Oder noch einmal die eigene Entschlossenheit geprüft, an der es offenbar nicht haperte, wie sich später anhand des Tatortes feststellen ließ.
Dann wurde die Autotür geöffnet. Im Licht der Innenbeleuchtung war kurz eine ganz in Schwarz gekleidete Gestalt zu sehen. Mit Handschuhen und dunklem Mundschutz. Jener bis vor Kurzem noch vorgeschriebenen Hygiene-Vermummung, als gälte es noch immer, Corona zu bekämpfen.
Doch dieser Kampf war anders, er war den Dämonen der Vergangenheit geweiht.
Die Tür fiel ins Schloss. Das Licht im Wageninneren erlosch. Der Vermummte stand da, sah sich um und wartete. Niemand sonst war zu sehen, was um diese Uhrzeit auch nicht anders zu erwarten war. Dann beugte sich die Gestalt nach unten, griff zu einem ledernen Rucksack, setzte ihn auf und ging die restlichen Meter zu Fuß, zwei Straßen weiter auf ein Mietshaus zu, das still in der Dunkelheit lag. Alle Bewohner schienen bereits zu schlafen. Die Wohnung im Erdgeschoss links war das Ziel des Schattenmanns. Der fast ebenerdige Balkon lag hinter einer hässlichen Blautanne, die in Wälder gehörte, aber eigentlich nichts in städtischen Vorgärten zu suchen hatte. Unter normalen Umständen raubte sie Licht, in diesem Moment bot sie idealen Sichtschutz, um sich mit einem Stemmeisen vor der Balkontür hinzuknien. Wenn man wusste, wo man den Hebel ansetzen musste, brauchte es nur mäßig Kraft, um sich Einlass zu verschaffen. Kinderspiel, dachte er. Darüber war der Eindringling selbst erstaunt. Er war kein geübter Einbrecher; er machte das hier zum ersten Mal.
* * *
Albrecht Tarnow erwachte von einem knirschenden Geräusch. Es kam von der hinteren Hausseite. Oder war das ein Traumfragment? Er setzte sich mühsam auf. Was war das? Da hörte er auch schon erste Schritte. Eine Szene wie aus Aktenzeichen XY, nur diesmal live.
Ehe Albrecht Tarnow das Licht anmachen und »Wer ist da?« rufen konnte, stand schon jemand im Zimmer, maskiert und ganz in Schwarz gekleidet, wie aus einem dieser Ninja-Filme, die er so gern sah.
»Was soll …?!«, brachte er noch heraus. Weiter kam er nicht. Bevor er mit dem Arm die Nachttischlampe erreichte, hörte er ein Zischen und spürte einen Stich, unmittelbar gefolgt von einem Gefühl, als habe der Blitz im Brustkorb eingeschlagen. 50.000 Volt schossen durch seinen Körper. Er schrie vor Schmerzen auf, fiel zurück auf sein Bett und wurde ohnmächtig.
Als das Leben zurückkehrte und er sich zu bewegen versuchte, fühlte er sich benommen.
»Da bist du ja wieder«, flüsterte die Gestalt, streichelte ihm sanft über den Kopf und tupfte ihm den Schweiß von der Stirn.
»Liegst du bequem? Ist ein wenig eng, oder? Bist dick geworden, ganz schön dick!«
Albrecht Tarnow versuchte zu antworten. Aber sein Mund war fest mit Klebeband verschlossen. Nur die Nase des 78-Jährigen war noch frei. Sein Oberkörper steckte in einer Art Zwangsjacke. Die Beine waren mit Spanngurten an das Bett festgeschnallt, wie man sie sonst zum Fixieren von Lasten auf einem Pritschenwagen nutzte. So fest, dass seine Füße bereits anfingen, taub und kühl zu werden. Die meiste Kälte aber ging von der Stimme seines Peinigers aus.
Tarnow war zu sediert und gleichzeitig zu verschreckt, als dass er einen klaren Gedanken fassen konnte. Wer, warum … worum ging es hier?
Der Eindringling nahm seine Maske ab.
Ein Mann. Nicht mehr jung.
»Du kannst mich ruhig ansehen, Tarnow«, hörte er. »Beschreiben wirst du mich nicht mehr können. Es wird etwas dauern, bis du den Styx überquerst, den Fluss des Grauens, und das Ufer des Hades erreicht hast, falls dir das was sagt.«
Mit diesen kryptischen Worten verschwand der Mann. Der todgeweihte Tarnow hörte noch, wie in der Küche eine Schranktür geöffnet wurde. Wie Wasser lief. Sah wie sein Mörder mit einem großen, gefüllten Glas zurückkehrte und es neben das Bett auf dem kleinen Nachttisch stellte.
»Hier, Freundchen. Bitte sehr. Aber nicht anfassen. Du musst das Wasser sehen, wenn der Durst kommt. Kaltes, klares Wasser.«
Tarnow wand sich, versuchte zu schreien, aber es gelang ihm nur ein dumpfes Gegrunze.
»Na, na, nicht doch«, sagte der maskierte Mann. »Du kennst doch die Regel: Du schweigst und gehorchst.«
Dann zog die Gestalt ein Foto aus der Tasche und hielt es Tarnow dicht vor sein Gesicht.
»Hier, kleine Gedächtnisstütze. Erinnerst du dich?«
Albrecht Tarnow schüttelte den Kopf, machte eine hilflose Kopfbewegung Richtung Brille, die auf dem Nachttisch lag.
»Ach so, ja, das Alter …!«
Die Gestalt setzte ihm behutsam die Brille auf.
»So besser? Guck es dir an. Ist schon etwas her.«
Tarnow blickte auf das alte Schwarz-Weiß-Bild.
Und er erinnerte sich.
Damals.
Es war so lange her.
Er versuchte, etwas zu sagen.
»Nicht doch«, sagte sein Mörder und ohrfeigte ihn. Ein Schlag so kräftig, dass Tarnow die Brille vom Kopf flog und neben dem Bett liegen blieb. Er begann zu wimmern. Tränen schossen ihm in die Augen. Tränen des Schmerzes, Tränen der Reue, Tränen über die Ausweglosigkeit der eigenen Situation.
»Du wirst ganz langsam sterben«, sagte die Gestalt und begann wieder, sanft seinen Kopf zu streicheln. »Und denk an mich und die anderen, wenn der Durst kommt. Du hast mir die ersten Jahre genommen, ich nehme dir die letzten.«
Kurz darauf hörte Tarnow ein Zischen, wie aus einer Sprühdose. Es roch nach Farbe. Selbst mit Brille hätte er nicht sehen können, was da über seinen Kopf an die Wand gesprayt wurde. Er hätte es gern gewusst, am wahrscheinlichsten schien ihm sein Name – samt Todesdatum. Aber die Antwort blieb so unerreicht wie das Glas Wasser, das nur eine knappe Armlänge entfernt von ihm stand.
Albrecht Tarnows langsames Sterben begann.
* * *
Kommissar Thies Knudsen genoss mal wieder die Gastfreundschaft von Oke Andersen. Die beiden hatten gerade eines ihrer regelmäßigen gemeinsamen Abendessen beendet. Kabeljau mit Basmatireis und Fenchel hatte es heute gegeben. Oke Andersen, ein pensionierter Lotse, hatte – wie immer – gekocht und seinen Freund Thies Knudsen, der leitender Ermittler beim LKA in Hamburg war, zum Essen eingeladen. Beide schätzten das Ritual sehr: gemeinsam essen, ein bisschen was trinken und reden. Und ab und zu einen Blick hinunter auf die Elbe werfen, die ein paar Meter vor Andersens Balkon vorbeifloss. Als gräulich silbernes Band. Wie flüssiges Blei, dachte Knudsen oft.
Andersen fuhr sich gerade mit der Serviette über den Mund, als es an der Tür des kleinen Hauses in Hamburg-Övelgönne klingelte. Er sah seinen Freund fragend an und sagte: »Huch, so spät? Wer mag das sein? Hast du zur Sicherheit noch Pizza bestellt?«
Knudsen lächelte und sagte: »Oke, mein schlauer Freund, es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Geh mal hin und schau nach.«
»Wo du recht hast, hast du recht«, erwiderte Andersen, stand auf und ging durch den schmalen Flur zu seiner Haustür. »Ich tippe auf Klingelstreich! Aber nicht wieder hinter meinem Rücken den Teller ablecken, das kann ich nicht leiden.«
Kommissar Knudsen sah derweil aus dem Fenster zu, wie ein Containerschiff der Grimaldi-Line die Elbe hoch in Richtung Hafen fuhr. War von den Kästen nicht kürzlich eins vor der holländischen Küste in Seenot geraten? Er konnte in der Dämmerung noch gut den dicken schwarzen Rauch sehen, der aus den Schornsteinen des gigantischen Schiffes quoll. Schweröl. Abfall als Treibstoff, dachte Knudsen kopfschüttelnd und griff zu seinem Bier. Und höchstwahrscheinlich subventioniert. Wie sollte das gut gehen? Mit der Menschheit, wenn erst ein Mädchen die Schule schwänzen musste, damit die Leute aufwachten – und zeitgleich jedes Jahr mehr SUVs auf die Straße kamen?
Es klingelte ein zweites Mal, und er hörte, wie sein Freund Andersen mit einem gebrummten »Ja doch« die Tür öffnete.
Dann Stille.
Knudsen wurde es etwas mulmig. Eine Art Flashback – sein letzter Fall. Schließlich geisterte der mehrfache Mörder Gottfried Hellberg immer noch irgendwo herum. Und Knudsen hatte keine Waffe dabei. Natürlich nicht. Das hatte er nie, wenn er privat unterwegs war.
Knudsen sah über Andersens Schulter hinweg eine riesige Gestalt im Hausflur auftauchen. Ein breitschultriger Hüne. Der Kommissar war schon am Aufstehen, als die Gestalt einen Schritt vortrat. Jetzt beleuchtete die Lampe über der Tür das Gesicht. Knudsen atmete durch. Nein, nicht Hellberg. Eher, als stünde da Shreks kleiner Bruder. War das ein Nachbar? Sahen so Övelgönner aus? Nein.
Er ging vorsichtshalber ein paar Schritte näher Richtung Flur.
Sein Freund schien jedoch völlig entspannt.
»Im Ernst, du?«, entfuhr es Andersen, der das Riesenbaby offenbar sofort erkannt hatte. »Mensch, komm rein«.
»Oke«, sagte die Gestalt etwas fahrig. »Ich hab Mist gebaut.«
»Wie? Mist...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2023 |
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Reihe/Serie | Die Knudsen/La Lotse-Serie |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2023 • der bojenmann • eBooks • Hamburg • Hamburgkrimi • Klaus-Peter Wolf • Klüpfel & Kobr • Knudsen/La Lotse-Krimi • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Morden im Norden • Neuerscheinung • Nordsee • Nordseekrimi |
ISBN-10 | 3-641-27774-4 / 3641277744 |
ISBN-13 | 978-3-641-27774-1 / 9783641277741 |
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