Der literarische Adventskalender. 24 Weihnachtserzählungen und Gedichte (eBook)
240 Seiten
Anaconda Verlag
978-3-641-31143-8 (ISBN)
»Ich will was springen lassen für ’nen Spiegel
Und dutzendweise Schneider unterhalten.«
Shakespeare, König Richard III.
Für Freda, weil du Märchen so gerne hast und weil du krank warst
Zur Zeit der Schwerter und Perücken und der gebauschten Kleider mit geblümtem Brustlatz, als die Herren Rüschen trugen und goldgeränderte Westen aus Seide und Taft, da lebte ein Schneider in Gloucester. Von morgens bis abends saß er in seiner kleinen Werkstatt in der Westgate Street mit gekreuzten Beinen am Fenster. Den ganzen Tag hindurch, solange er genügend Licht hatte, nähte er und schnitt zu und machte Schönes aus Brokat und Plissee und Popeline. Die Stoffe hatten seltsame Namen und waren sehr teuer zur Zeit des Schneiders von Gloucester.
Obwohl er für die Nachbarschaft feine Seidenkleider nähte, war er selbst sehr, sehr arm – ein kleiner, alter Mann mit verhärmtem Gesicht und krummen Fingern, der eine Brille und abgenutzte Sachen trug. Wenn er bestickte Stoffe zuschnitt, blieben kaum Reste übrig. Es fielen nur ganz kleine Ecken und Streifen ab, die überall auf dem Tisch herumlagen. »Schmale Zipfel, zu nichts zu gebrauchen – höchstens für Mäusewesten«, sagte der Schneider.
Eines bitterkalten Tages kurz vor Weihnachten begann der Schneider mit einem Mantel – einem Mantel aus kirschfarbener, gerippter Seide, die mit Stiefmütterchen und Rosen bestickt war – und einer cremefarbenen Weste aus Satin, mit einer Bordüre aus Samt und weichem grünem Kammgarn, und zwar für den Bürgermeister von Gloucester.
Der Schneider nähte und nähte und führte dabei Selbstgespräche. Er vermaß die Seide, wendete sie wieder und wieder und schnitt die Teile mit der Schere zurecht. Der ganze Tisch war bedeckt mit kirschfarbenen Schnipseln.
»Nichts verschwenden, schräg anschneiden, möglichst nichts übriglassen. Schärpen für Mäuse und Bänder für Mücken! Für Mäuse!«, sagte der Schneider von Gloucester.
Als die Schneeflocken auf die kleinen bleiverglasten Fenster fielen und ihm das Licht nahmen, beendete der Schneider sein Tagwerk. Die Seiden- und Satinstoffe blieben zugeschnitten auf dem Tisch liegen. Es waren zwölf Teile für den Mantel und vier für die Weste, außerdem lagen Taschenaufsätze, Manschetten und Knöpfe da, alles wohlsortiert. Als Futter für den Mantel gab es feinen gelben Taft und für die Knopflöcher der Weste kirschfarbenes Garn. Alles war vorbereitet, um es am Morgen zusammenzunähen, alles vorbedacht und komplett – bis auf einen letzten Strang kirschfarbenes Seidengarn.
Der Schneider trat in der Dunkelheit aus seiner Werkstatt, denn dort schlief er nicht. Er verriegelte die Fenster, verschloss die Tür und nahm den Schlüssel mit. Hier wohnte nachts niemand außer kleinen, braunen Mäusen, und die brauchten zum Ein- und Ausgehen keine Schlüssel! Denn hinter den Holzvertäfelungen aller alten Häuser in Gloucester gibt es kleine Mäusestiegen und geheime Falltüren, und die Mäuse laufen durch lange, schmale Gänge von Haus zu Haus. So gelangen sie durch die ganze Stadt, ohne je auf die Straße zu müssen.
Der Schneider aber trat aus seiner Werkstatt und schlurfte durch den Schnee nach Hause. Er wohnte ganz in der Nähe, und obwohl es kein großes Haus war, konnte der arme Schneider sich die Miete nur für die Küche leisten. Er lebte allein mit seiner Katze, die Simpkin hieß. Den ganzen Tag lang, während der Schneider bei der Arbeit war, kümmerte Simpkin sich allein um den Haushalt. Er mochte die Mäuse, auch wenn sie von ihm keine Seide für Mäntel bekamen!
»Miau?«, sagte die Katze, als der Schneider die Tür öffnete. »Miau?«
Der Schneider erwiderte: »Simpkin, eines Tages werden wir noch unser Glück machen, aber jetzt bin ich abgebrannt. Nimm diese vier Pennys (es sind unsere letzten) und eine Kanne. Kauf für einen Penny Brot, für einen Penny Milch und für einen Penny Wurst. Ach, und Simpkin, mit dem letzten Penny kauf mir kirschfarbenes Seidengarn. Aber verlier mir den letzten Penny nicht, Simpkin, sonst bin ich ruiniert und am Ende, denn das GARN IST AUS.«
Da sagte Simpkin noch einmal: »Miau?«, nahm das Geld und die Kanne und ging hinaus in die Dunkelheit.
Der Schneider war sehr müde, und er brütete eine Krankheit aus. Er setzte sich an den Kamin und führte Selbstgespräche über diesen herrlichen Mantel. »Ich werde mein Glück machen – schräg zugeschnitten – der Bürgermeister von Gloucester wird am Morgen des ersten Weihnachtstages heiraten, und er hat einen Mantel und eine bestickte Weste in Auftrag gegeben – gefüttert mit gelbem Taft – und der Taft reicht mir gerade. Aus den wenigen Stoffresten ließen sich höchstens noch Schärpen für Mäuse machen –«
Da schreckte der Schneider hoch, denn plötzlich kam von der Kommode auf der anderen Küchenseite her ein leises Geräusch, das ihn aufstörte – Tipp tapp, tipp tapp, tipp tapp tipp!
»Nanu, was ist das denn?«, sagte der Schneider von Gloucester und sprang von seinem Stuhl auf. Die Kommode stand voll mit Geschirr und Kannen, dazu Teller, Teetassen und Becher mit blauen Motiven. Der Schneider durchquerte die Küche und stellte sich ganz still vor die Kommode. Er lauschte und spähte durch seine Brille. Und wieder ertönten von unter einer Teetasse diese ulkigen leisen Geräusche – Tipp tapp, tipp tapp, tipp tapp tipp!
»Das ist sehr merkwürdig«, sagte der Schneider von Gloucester, und er hob die Teetasse hoch, die verkehrt herum dastand. Hervor kam eine lebendige kleine Mäusedame und machte vor dem Schneider einen Knicks! Dann sprang sie die Kommode hinab und lief hinter die Vertäfelung davon. Der Schneider setzte sich wieder ans Feuer, wärmte seine armen, kalten Hände und sagte murmelnd zu sich selbst:
»Die Weste besteht aus pfirsichfarbenem Satin und ist fein mit Rosenknospen bestickt, mit herrlichem Seidengarn. War es klug, Simpkin meine letzten vier Pennys anzuvertrauen? Einundzwanzig Knopflöcher, eingefasst mit kirschfarbenem Garn!« Doch da kam mit einem Mal von der Kommode her erneut ein leises Geräusch – Tipp tapp, tipp tapp, tipp tapp tipp!
»Das ist doch wirklich ungewöhnlich!«, sagte der Schneider von Gloucester und drehte eine weitere Teetasse um, die verkehrt herum stand. Hervor kam ein kleiner Mäuseherr und verbeugte sich vor dem Schneider! Daraufhin war aus der gesamten Kommode ein Chor von kleinen Tapsern zu hören, ein einziges großes, ineinandergreifendes Getümmel, wie bei Nagekäfern in einem alten, wurmzerfressenen Fensterladen – Tipp tapp, tipp tapp, tipp tapp tipp! Und unter den Teetassen, unter Schalen und Schüsseln kamen weitere und immer mehr kleine Mäuse hervor, die von der Kommode hinabsprangen und hinter der Vertäfelung davonliefen.
Der Schneider setzte sich ganz dicht ans Feuer und jammerte: »Einundzwanzig Knopflöcher aus kirschfarbener Seide! Müssen bis Samstagmittag fertig sein, und jetzt ist Dienstagabend. War es recht, diese Mäuse laufen zu lassen, die zweifellos Simpkins Eigentum sind? Wehe mir, ich bin ruiniert, denn das Garn ist aus!«
Die kleinen Mäuse kamen wieder hervor und hörten dem Schneider zu. Dabei achteten sie darauf, was er über das Schnittmuster dieses herrlichen Mantels sagte. Sie flüsterten sich etwas zu, über das Taftfutter und über kleine Mäuseschärpen. Und dann liefen sie auf einmal alle fort, den Gang hinter der Vertäfelung entlang. Sie piepsten und riefen einander zu, während sie von Haus zu Haus eilten. Und als Simpkin mit der Kanne Milch zurückkehrte, war keine einzige Maus mehr in der Küche des Schneiders!
Simpkin öffnete die Tür und polterte herein. Er machte mürrisch »G-r-r-miau« wie eine zornige Katze, denn er konnte Schnee nicht ausstehen, und er hatte Schnee in seinen Ohren und Schnee hinten am Hals im Kragen. Er legte das Brot und die Wurst auf die Kommode und schnupperte.
»Simpkin«, sagte der Schneider, »wo ist mein Garn?«
Doch Simpkin stellte die Kanne Milch auf die Kommode und blickte argwöhnisch auf die Teetassen. Er wollte seine Mahlzeit aus kleinen, fetten Mäusen!
»Simpkin«, sagte der Schneider, »wo ist mein GARN?«
Doch Simpkin steckte heimlich ein kleines Päckchen in die Teekanne und fauchte und knurrte den Schneider an. Und wenn Simpkin hätte sprechen können, hätte er gefragt: »Wo sind meine MÄUSE?«
»Wehe mir, ich bin ruiniert!«, sagte der Schneider von Gloucester und ging traurig zu Bett.
Die ganze Nacht lang durchsuchte Simpkin die Küche. Er spähte in die Schränke, hinter die Vertäfelung und in die Teekanne, wo er das Garn versteckt hatte, aber noch immer bekam er keine einzige Maus zu fassen.
Wenn der Schneider etwas im Schlaf murmelte oder rief, sagte Simpkin jedes Mal: »Miau-gr-r-w-s-sch!«, und machte seltsam schreckliche Geräusche, wie es bei Katzen des Nachts so üblich ist. Der arme alte Schneider hatte nämlich sehr starkes Fieber. Er wälzte sich in seinem Himmelbett hin und her und murmelte im Traum: »Garn ist aus! Garn ist aus!«
Am nächsten Tag war er krank, am übernächsten auch und ebenso an dem danach. Und was sollte aus dem kirschfarbenen Mantel werden? In der Werkstatt des Schneiders lagen die bestickte Seide und der Satinstoff zurechtgeschnitten – und mit einundzwanzig Knopflöchern – auf dem Tisch, aber wer sollte kommen, um alles zusammenzunähen, wenn das Fenster verriegelt und die Tür fest verschlossen war?
Doch die kleinen braunen Mäuse konnte das nicht aufhalten. Sie gingen ohne Schlüssel in sämtlichen alten Häusern von Gloucester ein und...
Erscheint lt. Verlag | 20.9.2023 |
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Zusatzinfo | Mit sw-Illustrationen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2023 • Adventgeschichten • Adventkalender • Adventsgeschichten • Adventskalender Buch • Adventskalender für Erwachsene • Adventszeit • Adventzeit • Charles Dickens • eBooks • immerwährender Adventskalender • Kalender • klassische Literatur • literatur bücher • Literaturkalender • Literatur Klassiker • NACHHALTIGER ADVENTSKALENDER • Neuerscheinung • Nobelpreis für Literatur • Weihnachten • Weihnachtsbuch • Weihnachtsbücher • Weihnachtsgeschenk • Weihnachtsgeschichten • Weihnachtsgeschichten für Erwachsene • Weihnachtskrimi • Weihnachtsmärchen • Weihnachtsromane • Weltliteratur |
ISBN-10 | 3-641-31143-8 / 3641311438 |
ISBN-13 | 978-3-641-31143-8 / 9783641311438 |
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