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Abgrund (eBook)

Du weißt, sie ist nicht gesprungen.

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
528 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01408-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Abgrund -  Lucy Goacher
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Du weißt, jemand hat sie getötet. Was du nicht weißt: Er ist dir nah...
Clementines Welt liegt in Trümmern. Ihre kleine Schwester ist tot. In einer sternklaren Nacht hat Poppy sich von einer Klippe gestürzt, die Untersuchungsergebnisse sind eindeutig. Doch Clementine zweifelt. Poppy, die Sonnenuntergänge liebte, die so gern zeichnete.

Noch in der Nacht ihres Todes versuchte sie, Clementine anzurufen. Aber der Anruf lief ins Leere. Was wollte Poppy ihr sagen?

Während ihre Eltern wie gelähmt sind vor Schmerz, findet Clementine keine Ruhe. Sie vertieft sich in Poppys Leben, versucht herauszufinden, was in ihren letzten Monaten passiert ist. Bald ist sie sicher: Poppy hat sich nicht umgebracht. Poppy wurde ermordet.

Sie weiß, sie ist die einzige, die Poppys Mörder finden kann. Doch sie hat nicht viel Zeit. Denn während sie nach ihm sucht, kommt er ihr immer näher...

Lucy Goacher ist in Worthing geboren und aufgewachsen. Sie studierte Englische Literaturwissenschaft und Kreatives Schreiben an der Universität von Essex und war Finalistin des Debütroman-Schreibwettbewerbs der Daily Mail. Sie liebt lange Spaziergänge in der Natur und hat ein Herz für Katzen und Füchse, wie ihre Figur Poppy. "Abgrund" ist ihr Debütroman.

Katharina Naumann ist Autorin, freie Lektorin und Übersetzerin und lebt in Hamburg. Sie hat unter anderem Werke von Jojo Moyes, Anna McPartlin und Jeanine Cummins übersetzt.

Ein außergewöhnlicher Thriller auf höchstem Niveau. Eindringlich und hochspannend.

Ein beeindruckendes Debüt.

Kapitel 1


6 Monate später

Ich habe mich nie besonders für Sonnenuntergänge interessiert, aber Poppy schon.

Vor Jahren, als sie noch klein war und ich an Sonntagnachmittagen auf sie aufpassen musste, bettelte sie mich an, dass ich mit ihr in London herumfahren und die beste Stelle suchen sollte, von der aus wir uns den Sonnenuntergang ansehen konnten. Was zunächst einfache Ausflüge waren, wurde schnell zu wöchentlichen Expeditionen: Ich lief mit ihr von Aussichtspunkt zu Aussichtspunkt, von U-Bahn zu U-Bahn, die Sonnenuntergangstabelle im Kopf und mit der Uhr am Handgelenk; sie hatte eine Touristenkarte und einen Filzschreiber dabei, mit dem sie die Orte abhakte. Ich ging mit ihr in jeden Park, zu jeder Brücke, zu jeder Plattform, für die man nicht bezahlen musste. Einen Nachmittag verbrachten wir aneinandergekuschelt unter einem Regenschirm auf Primrose Hill, weil sie darauf bestanden hatte, dass wir «nur noch ein bisschen» bleiben sollten, «für den Fall, dass das Wetter aufklart», während der Regen auf uns herunterprasselte und der Wind heulte, meine Augen unter der Brille blind vor Tropfen waren und ihre Karte durchnässt war. In einem ihrer Briefe Jahre später verriet sie mir, dass Primrose Hill ihr Lieblingsort sei, ihre schönste Sonnenuntergangserinnerung, aber an jenem Tag sahen wir nur Grau. Sie musste wohl noch einmal ohne mich dorthin gegangen sein.

So erinnere ich mich an sie: rosige Wangen im Regen; vom Wind zerzauste, rotblonde Haare. Bloße Füße, die unter dem Vorhang ihres Himmelbetts hervorschauten. Wie sie aufgeregt über Schneeflocken oder Mondlicht oder das Leuchten des Sonnenaufgangs redete und mich bat, es mit ihr anzuschauen.

Ich kann jetzt beinahe ihre Stimme hören, spüren, wie sie wie früher meine Hand nimmt.

«Das ist so hübsch, Clemmie! Dreh dich um und sieh es dir an. Schau mal!»

Aber ich drehe mich nicht um. Ich schaue nicht hin. Ich folgte dem trüben, grauen Bürgersteig Richtung Osten, bis er in einer U-Bahn-Station verschwindet und das künstliche Licht das natürliche verdrängt. Ich gehe unter die Erde.

Meine Schwester war es, die Sonnenuntergänge liebte, nicht ich.

Am Bahnsteig ist viel los. Ich gehe ihn entlang, schlängele mich zwischen Paaren, die nach dem Abendessen wieder nach Hause fahren, und Studenten hindurch, deren Nacht gerade erst beginnt. Irgendwo im Tunnel kreischt ein Zug und schiebt die schmutzige Luft durch die Röhre vor sich her. Er ist nur noch zwanzig Sekunden entfernt, vielleicht weniger. Das Poster der Telefon-Helpline UK-Listeners hängt an der Wand am anderen Ende des Bahnsteigs: Egal, wie einsam Sie sich fühlen, wir sind immer da. Mit uns können Sie reden.

Mit anderen Worten: Springen Sie nicht.

Ich schaue mich in der Menge um und sehe die Gesichter. Früher dachte ich – nicht dass ich damals besonders viel darüber nachgedacht hätte, aber ich ging irgendwie davon aus –, dass man es sähe, wenn jemand Selbstmordgedanken in sich trägt. Denn diese Leute sähen doch ganz sicher traurig aus und weinten und benähmen sich merkwürdig. Sie würden ganz offen zeigen, dass sie das Leben hassten. Sie hätten ein großes, gut sichtbares, neonfarbenes Zeichen um den Hals: Bin depressiv und werde meinem Leben ein Ende setzen!

Die Realität ist anders.

Selbstmordgefährdete Menschen lächeln. Sie gehen zur Arbeit, kaufen ein, winken den Nachbarn zu. Sie verstecken ihre Gefühle vor den Leuten, die ihnen wichtig sind.

Statistisch gesehen sind die Mehrheit der jährlich 6500 Menschen, die sich in Großbritannien das Leben nehmen, Männer, Mitte bis Ende vierzig, oder Teenager und junge Erwachsene. Aber auf diesem Bahnsteig, heute Abend, könnte jeder jemand sein, der an Selbstmord denkt.

Dieser Mann im Anzug könnte Probleme bei der Arbeit haben, eine Scheidung durchleben, die Kinder in einem Sorgerechtsstreit verlieren und mit niemandem darüber reden. Und die alte Frau, die dort alleine sitzt und strickt, hat vielleicht gerade ihren Mann verloren, nach fünfzig Jahren Ehe. Die heitere Frau in der Supermarktuniform könnte Antidepressiva nehmen. Das Mädchen, das lacht und mit ihren Freundinnen scherzt, könnte sich innerlich leer fühlen, weil sie jahrelang gemobbt wurde.

In einem Moment kann ein Mensch Weihnachtslieder singen, in der Küche tanzen und Wärme, Licht, Liebe und eine Million Hoffnungen für die Zukunft in sich haben – und im nächsten kann er sich das Leben nehmen.

So wie Poppy.

Der Zug donnert vorbei, Lärm und Luft klatschen mir ins Gesicht und reißen Strähnen aus meinem Pferdeschwanz. Die Wagen verschwimmen vor meinen Augen, ich schließe sie. Und dann bin ich wieder dort: kalkige Erde ist unter meinen Füßen, salzige Luft weht um mich herum, Wellen brüllen und brechen unten am Fuß der Klippe.

Nicht alle selbstmordgefährdeten Menschen rufen bei einer Helpline an. Manche sprechen mit ihren Freunden oder Geliebten. Manchmal brauchen Menschen, die verzweifelt sind, nur jemanden, mit dem sie reden können, jemanden, der sie kennt, jemanden, der ihre Hand nimmt und sie vom Abgrund wegführt.

Genau das brauchte Poppy in jener Nacht. Sie musste hören, dass alles wieder gut werden würde. Sie musste wissen, dass sie geliebt wird. Und deshalb rief sie mich an, als sie in der Dunkelheit am Rand der Klippe stand.

Aber ich ging nicht ran.

Und sie sprang.

Ich verlasse die Aldgate Station und nehme den üblichen Weg durch Whitechapel. Immer wieder stehen Touristen im Weg, Reisegruppen versammeln sich um die Reiseleiter, die die grausigen Einzelheiten von Jack the Rippers Morden beschreiben und auf viktorianische Tatorte zeigen, die längst abgerissen und in Wohnungen umgewandelt worden sind.

Die fünf umgebrachten Frauen haben ein morbides Vermächtnis hinterlassen, und ihre Leben sind zu albtraumhaften Fotos und Haltepunkten auf einer Besichtigungstour zusammengeschrumpft worden. Bevor sie zu Opfern wurden, waren sie Menschen. Die Leute vergessen das immer.

Es ist dunkel, als ich bei der Helpline ankomme. Ich gehe hinein, laufe einige Treppenstufen hinauf und trage meinen Namen in die Liste an der Rezeption ein. Clementine Harris, 21.52 Uhr.

Unsere Zweigstelle ist ein schlichter Büroraum mit einer Aufenthaltsecke, einer Küche, ein paar abgeschlossenen Räumen und einem Telefonbereich. Auf jeder Fensterbank stehen Grünpflanzen, auf vielen Tischen liegen Päckchen mit Taschentüchern. An den weißen Wänden hängen Pinnwände und Poster mit wohlmeinenden Sprüchen in freundlichen Schriftarten.

Wie allein Sie sich auch fühlen, wir sind immer für Sie da und reden mit Ihnen.

Ich war nicht für Poppy da, als sie mich am meisten brauchte, und daran kann ich nichts mehr ändern, aber ich kann für andere da sein.

Und es gibt so viele andere.

«Clementine?» Brenda, eine der Leiterinnen dieser Zweigstelle, winkt mich in die Küche gegenüber dem Telefonraum. Sie bereitet gerade Tee zu. «Ich habe dich nicht schon wieder hier erwartet. Hattest du nicht gerade vor ein paar Tagen eine Nachtschicht?»

«Ja, von Freitag auf Samstag. Ich versuche, zwei oder drei pro Woche zu machen.»

Brenda schürzt die Lippen und gibt Milch in die Teetassen. «Clementine, du darfst es nicht übertreiben. Wir freuen uns sehr, dich zu haben, aber wir wollen, dass unsere Ehrenamtlichen nur ein, zwei Nachtschichten pro Monat übernehmen. Bitte fühle dich nicht gezwungen, mehr als drei oder vier Stunden wöchentlich zu machen, ob nun tagsüber oder nachts.»

«Ach, das ist gar kein Problem», sage ich und reiche ihr den Deckel der Milchflasche, nach dem sie sich suchend umsieht. «Ich habe ja Zeit.»

«Das ist keine Frage der Zeit. Zuhören ist ein sehr anstrengender Prozess, und du bist noch neu hier. Du merkst vielleicht nicht, wenn es dir zu viel wird. Ich möchte nicht, dass du dich überforderst.»

«Ich überfordere mich nicht.» Ich gebe Brenda einen Löffel für den Zucker und nehme die Milchflasche, um sie zurück in den Kühlschrank zu stellen – alles, um die Unterhaltung zu beschleunigen. «Ich helfe gern.»

«Ja, das habe ich bemerkt.» Sie lächelt. «Na ja, solange du dich wohlfühlst, wird keiner deine Stunden kürzen. Aber komm zu mir, wenn du mich brauchst, okay?»

Brenda und ich nehmen die Becher und tragen sie in den Telefonraum. Einige Ehrenamtliche telefonieren bereits. Sie tragen Headsets und beugen sich über ihre Schreibtische. Andere lesen oder unterhalten sich flüsternd, um sich die Zeit zu vertreiben. Ich kenne erst ein paar Namen, ein paar Gesichter, aber selbst die, die mir noch fremd sind, begrüßen mich mit einem warmen Lächeln und winken mir zu. Das ist hier immer so.

«… Buckingham Palace bekommt Frieda neben der Tür, ich nehme London Eye, und unser Picasso da drüben kann die Tate Modern haben.»

Ich stelle den letzten Touristenbecher vor einen Mann mit dunklem, lockigem Haar. Er hat sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und die Stiefel auf den Tisch gelegt. Er trägt ein Headset und zeichnet in einem Skizzenbuch.

«Danke», formt er mit den Lippen und lächelt. Dann widmet er sich wieder seinem Anruf. «Möchten Sie darüber sprechen?»

Hinter uns klingelt das Telefon, und eine der Seelsorgerinnen geht ran, wendet sich dann aber schnell wieder ihrem Buch zu.

«Da hat wohl wieder einer angerufen und sofort aufgelegt», murmelt Brenda. «In letzter Zeit gibt es viele von diesen Anrufen. Alan hat neulich sechsundzwanzig in einer Schicht...

Erscheint lt. Verlag 1.7.2023
Übersetzer Katharina Naumann
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte emotionale Bücher • England • Ermittlung • falsche Freunde • Familiendrama • Geheimnis • Hope Gap • Kleinstadt • Krimi neuerscheinung 2023 • Neue Thriller • Psychothriller • Schicksal • Schwestern • Schwesterngeschichte • Selbstmord • spannende Bücher • Spannung • Spannung für Frauen • Suizid • suizid bücher • Thriller • Thriller für Frauen • Thriller Neuerscheinung 2023
ISBN-10 3-644-01408-6 / 3644014086
ISBN-13 978-3-644-01408-4 / 9783644014084
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