David Copperfield (eBook)
1296 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01337-7 (ISBN)
Charles Dickens wurde 1812 als zweites von acht Kindern geboren. Nach einer harten Jugend begann er seine schriftstellerische Laufbahn mit Skizzen, die er unter Pseudonym in Zeitungen und Magazinen veröffentlichte. All seine großen Romane schrieb er in fieberhaftem Tempo. 1868 erfüllte sich Dickens, inzwischen ein gefeierter Dichter, seinen Kindheitstraum und kaufte ein Landhaus in Kent, wo er 1870 starb.
Charles Dickens wurde 1812 als zweites von acht Kindern geboren. Nach einer harten Jugend begann er seine schriftstellerische Laufbahn mit Skizzen, die er unter Pseudonym in Zeitungen und Magazinen veröffentlichte. All seine großen Romane schrieb er in fieberhaftem Tempo. 1868 erfüllte sich Dickens, inzwischen ein gefeierter Dichter, seinen Kindheitstraum und kaufte ein Landhaus in Kent, wo er 1870 starb. Melanie Walz, geboren 1953 in Essen, hat, neben zahlreichen Herausgeberarbeiten, u.a. Jane Austen, Honoré de Balzac, A. S. Byatt, Charles Dickens, Michael Ondaatje, R. L. Stevenson und Virginia Woolf übersetzt. Preise und Auszeichnungen: Zuger Übersetzer-Stipendium 1999, Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis 2001, Literaturstipendium der Stadt München 2006, zahlreiche Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds. Melanie Walz, geboren 1953 in Essen, hat, neben zahlreichen Herausgeberarbeiten, u.a. Jane Austen, Honoré de Balzac, A. S. Byatt, Charles Dickens, Michael Ondaatje, R. L. Stevenson und Virginia Woolf übersetzt. Preise und Auszeichnungen: Zuger Übersetzer-Stipendium 1999, Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis 2001, Literaturstipendium der Stadt München 2006, zahlreiche Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds.
– Erstes Kapitel – Ich werde geboren
Ob ich mich als der Held meines eigenen Lebens erweisen werde oder ob ein anderer diese Position einnehmen wird, müssen die folgenden Seiten zeigen. Um mein Leben mit dem Beginn meines Lebens zu beginnen, verzeichne ich, dass ich (wie ich erfahren habe und annehme) an einem Freitag um zwölf Uhr nachts geboren wurde. Es wurde gesagt, gleichzeitig habe die Uhr zu schlagen und ich zu schreien begonnen.
Angesichts des Tages und der Stunde meiner Geburt erklärten die Hebamme und einige weise Frauen der Nachbarschaft, die ein lebhaftes Interesse an mir entwickelt hatten, mehrere Monate bevor die Möglichkeit einer persönlichen Bekanntschaft bestand, dass ich erstens dazu bestimmt sei, ein unglückliches Leben zu haben, und dass ich zweitens dazu ausersehen sei, Geister und Gespenster zu sehen, da beide Gaben, wie sie glaubten, unweigerlich allen glücklosen Kindern beiderlei Geschlechts zufallen würden, die in den frühen Morgenstunden einer Freitagnacht geboren wurden.
Zum ersten Thema muss ich jetzt nichts weiter sagen, weil meine Geschichte am besten erweisen wird, ob das Ergebnis diese Voraussage bestätigt hat oder nicht. Zum zweiten Punkt dieser Frage kann ich nur bemerken, dass ich noch nicht in den Besitz dieses Teils meines Erbes gelangt bin, falls ich ihn nicht schon als Baby aufgebraucht habe. Aber ich habe nichts daran auszusetzen, dass mir dieses Erbe vorenthalten wurde, und sollte jemand anderer sich gegenwärtig daran erfreuen, so sei es ihm von Herzen gegönnt.
Ich wurde mit einer Glückshaube geboren, die zum niedrigen Preis von fünfzehn Guineen in den Zeitungen angeboten wurde. Ob es seinerzeit den Seefahrern an Geld mangelte oder am Glauben und sie Schwimmwesten vorzogen, weiß ich nicht; ich weiß nur, dass der einzige Bieter ein Anwalt mit Verbindungen zum Wechselmakeln war, der zwei Pfund in bar und den Rest in Sherry bot, aber nicht bereit war, sich für einen höheren Preis vor dem Ertrinken zu schützen. Daraufhin wurde die Anzeige mit Verlust zurückgezogen – und was Sherry betrifft, wurde der Sherry meiner armen geliebten Mutter damals zum Verkauf angeboten –, und zehn Jahre später wurde die Glückshaube bei einer Tombola in unserer Gegend verlost unter fünfzig Teilnehmern zu jeweils einer halben Crown Einsatz mit der Auflage, dass der Gewinner fünf Shilling zahlen musste. Ich war selbst anwesend und weiß noch, dass ich mich recht unbehaglich und verstört fühlte, als ein Teil von mir auf diese Weise verhandelt wurde. Ich erinnere mich, dass die Glückshaube von einer alten Dame mit einem Henkelkorb gewonnen wurde, die daraus sehr widerstrebend die verlangten fünf Shilling zutage förderte, in Halfpence und mit zweieinhalb Penny zu wenig – was zu beweisen viel Zeit und eine große Verschwendung an Rechenkunst in Anspruch nahm, und das ohne den geringsten Effekt. Der Sachverhalt, der in unserer Gegend als bemerkenswert in Erinnerung blieb, war, dass sie ihr Leben lang dem Wasser fernblieb und triumphierend mit zweiundneunzig Jahren im Bett starb. Soweit ich weiß, war es bis zuletzt ihr größter Stolz, dass sie nie in ihrem Leben dem Wasser näher gekommen war als auf einer Brücke und dass sie bei ihrem Tee (den sie über alles schätzte) bis zuletzt ihrer Entrüstung ob der Gottlosigkeit von Matrosen und Konsorten Ausdruck verlieh, die sich erdreisteten, auf der Welt «herumzumäandern». Es war vergebliche Liebesmühe, ihr vor Augen zu führen, dass manche Annehmlichkeiten, darunter vielleicht Tee, sich dieser anstößigen Praxis verdankten. Sie erwiderte jedes Mal mit größerer Schärfe und im unbeirrbaren Wissen um die Unschlagbarkeit ihrer Ablehnung: «Lasst uns nicht mäandern.»
Um nun nicht selbst zu mäandern, will ich zu meiner Geburt zurückkehren.
Ich wurde in Blunderstone in Suffolk geboren oder «irgendwo dort», wie man in Schottland sagt. Mein Vater war vor meiner Geburt gestorben. Seine Augen hatten sich vor dem Licht der Welt geschlossen, sechs Monate bevor meine sich öffneten. Es kommt mir selbst heute noch sonderbar vor zu denken, dass er mich nie gesehen hat; und sonderbarer noch ist die undeutliche Erinnerung an meine ersten kindlichen Eindrücke seines weißen Grabsteins auf dem Friedhof und an mein undefinierbares Mitleid mit ihm, dass er allein draußen in der dunklen Nacht lag, während Feuer und Kerzenlicht unser kleines Wohnzimmer warm und hell machten und die Türen des Hauses gegen die Nacht verriegelt und verschlossen waren – fast grausam, wie es mir manchmal erscheinen wollte.
Eine Tante meines Vaters und folglich meine Großtante, von der ich nach und nach mehr zu berichten haben werde, war das Oberhaupt unserer Familie. Miss Trotwood oder Miss Betsey, wie meine arme Mutter sie immer nannte, wenn sie ihre Furcht vor dieser einschüchternden Person genügend meisterte, um sie überhaupt zu erwähnen (was selten vorkam), hatte einen Ehemann gehabt, der jünger war als sie und ein schöner Mann, allerdings nicht im Sinn der volkstümlichen Wendung «schön ist, wer schön handelt», denn man verdächtigte ihn stark, Miss Betsey geschlagen zu haben und einmal im Lauf einer finanziellen Auseinandersetzung eilig, aber entschieden Vorkehrungen getroffen zu haben, sie aus einem Fenster im zweiten Stock zu werfen. Diese Beweise einer gewissen charakterlichen Unverträglichkeit bewogen Miss Betsey dazu, ihn auszuzahlen und eine Trennung in beiderseitigem Einverständnis zu erlangen. Er ging mit seinem Kapital nach Indien, wo er einer abenteuerlichen Legende unserer Familie nach einmal auf einem Elefanten gesehen wurde, zusammen mit einem Schimpansen, aber ich vermute, mit einem indischen Adeligen – oder mit einer indischen Fürstin. Jedenfalls erreichten uns aus Indien zehn Jahre später Nachrichten von seinem Tod. Wie meine Tante sie aufgenommen hat, weiß niemand; denn unmittelbar nach der Trennung hatte sie ihren Mädchennamen wieder angenommen, in einem weit entfernten Dörfchen an der Küste ein Häuschen gekauft, in das sie als Alleinstehende mit einem Dienstmädchen einzog, und dort seither in aller Abgeschiedenheit unwandelbar zurückgezogen lebte.
Meinen Vater hatte sie sehr gerne gehabt, wie ich glaube, aber seine Heirat hatte sie tödlich gekränkt, weil meine Mutter «eine Wachspuppe» war. Sie hatte meine Mutter nie kennengelernt und wusste nur, dass sie noch keine zwanzig Jahre alt war. Mein Vater und Miss Betsey haben einander nie wiedergesehen. Er war bei der Heirat doppelt so alt wie meine Mutter und von zarter Konstitution. Er starb ein Jahr darauf und, wie ich sagte, sechs Monate vor meiner Geburt.
Das war der Stand der Dinge an dem Nachmittag jenes ereignisreichen und bedeutenden Freitags, wenn ich es so ausdrücken darf. Ich kann daher keinen Anspruch darauf erheben, damals gewusst zu haben, wie die Dinge standen, oder mich mit dem Zeugnis der eigenen Sinne dessen zu entsinnen, was danach geschah.
Meine Mutter saß am Feuer, sehr schwach und sehr niedergeschlagen, sah durch ihre Tränen ins Feuer, schrecklich verzagt über das, was sie erwartete und den vaterlosen kleinen Fremdling, den bereits einige Mengen prophetischer Stecknadeln in einer Schublade im Obergeschoss willkommen hießen in einer Welt, der das Thema seiner Ankunft herzlich gleichgültig war; meine Mutter saß wie gesagt an diesem sonnigen, windigen Märznachmittag vor dem Feuer, sehr verschüchtert und bekümmert und sehr ungewiss, die Prüfung, die ihrer harrte, lebend zu überstehen; als sie sich die Augen trocknete und den Blick zum Fenster gegenüber hob, sah sie eine fremde Dame durch den Garten kommen.
Auf den zweiten Blick hatte meine Mutter die Vorahnung, dass es sich um Miss Betsey handelte. Die untergehende Sonne schien über den Gartenzaun auf die fremde Dame, die mit schroffer Haltung und unnahbarer Miene, wie sie zu niemand anderem gehören konnten, auf die Tür zukam.
Als sie beim Haus war, lieferte sie einen weiteren Beweis ihrer Identität. Mein Vater hatte oft angedeutet, dass sie sich nur selten wie ein normaler Christenmensch betrug, und statt zu klingeln, trat sie an besagtes Fenster und drückte ihre Nasenspitze so fest an die Glasscheibe, dass meine arme liebe Mutter später zu sagen pflegte, die Nase sei auf der Stelle ganz flach und weiß geworden.
Das jagte meiner Mutter einen solchen Schrecken ein, dass ich bis heute überzeugt bin, Miss Betsey zu verdanken, an einem Freitag geboren zu sein.
Meine Mutter hatte in ihrer Aufregung ihren Stuhl verlassen und sich dahinter in eine Zimmerecke gedrückt. Miss Betsey, die sich langsam und aufmerksam im Zimmer umsah, hatte an der anderen Ecke begonnen und ihre Augen bewegt wie die im Kopf eines Sarazenen auf einer Kuckucksuhr, bis ihr Blick meine Mutter traf. Dann runzelte sie die Stirn und bedeutete meiner Mutter mit einer Geste wie jemand, der gewohnt war, dass man ihm gehorchte, zur Tür zu kommen und sie zu öffnen. Meine Mutter ging hin.
«Mrs. David Copperfield, nehme ich an», sagte Miss Betsey, wobei die Betonung sich vielleicht auf die Trauerkleidung meiner Mutter und ihre Verfassung bezog.
«Ja», sagte meine Mutter schwach.
«Miss Trotwood», sagte die Besucherin. «Sie haben vermutlich von ihr gehört?»
Meine Mutter erwiderte, sie habe das Vergnügen gehabt. Und ihr wurde unbehaglich bewusst, dass sie dabei nicht so wirkte, als wäre es ein überwältigendes Vergnügen gewesen.
«Jetzt steht sie vor Ihnen», sagte Miss Betsey. Meine Mutter neigte den Kopf und bat sie einzutreten.
Sie gingen in das Wohnzimmer, aus dem meine Mutter gekommen war, da im feinen Wohnzimmer an der anderen Seite des Flurs...
Erscheint lt. Verlag | 12.11.2024 |
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Übersetzer | Melanie Walz |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Anspruchsvolle Literatur • Autobiografischer Roman • Bildungsroman • England • Englische Literatur • Entwicklungsroman • Freundschaft • Gesellschaftskritik • Großbritannnien • Identität • Klassiker • Klassiker der Weltliteratur • Klassische Bücher • Lebensgeschichte • Neuübersetzung • Oliver Twist • Realismus • Selbstfindung • Soziale Klasse • viktorianische Romane • Waisenhaus |
ISBN-10 | 3-644-01337-3 / 3644013373 |
ISBN-13 | 978-3-644-01337-7 / 9783644013377 |
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