Die tiefste Nacht (eBook)
448 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01506-7 (ISBN)
Ann Cleeves lebt mit ihrer Familie in West Yorkshire und ist Mitglied des «Murder Squad», eines illustren Krimi-Zirkels. Für ihren Kriminalroman «Die Nacht der Raben» erhielt sie den «Duncan Lawrie Dagger Award», die weltweit wichtigste Auszeichnung der Kriminalliteratur. 2017 wurde sie für ihr exzellentes Lebenswerk mit dem «Diamond Dagger» ausgezeichnet. Sowohl die «Vera Stanhope»-Reihe, als auch Cleeves zweite Serie um das Shetland-Quartett, sind verfilmt worden.
Ann Cleeves lebt mit ihrer Familie in West Yorkshire und ist Mitglied des «Murder Squad», eines illustren Krimi-Zirkels. Für ihren Kriminalroman «Die Nacht der Raben» erhielt sie den «Duncan Lawrie Dagger Award», die weltweit wichtigste Auszeichnung der Kriminalliteratur. 2017 wurde sie für ihr exzellentes Lebenswerk mit dem «Diamond Dagger» ausgezeichnet. Sowohl die «Vera Stanhope»-Reihe, als auch Cleeves zweite Serie um das Shetland-Quartett, sind verfilmt worden. Stefanie Kremer, geb. 1966 in Düsseldorf, arbeitet freiberuflich als Übersetzerin für Sachbücher und Belletristik aus dem Englischen und Französischen. Sie lebt südlich von München.
KAPITEL ZWEI
Es war dunkel und eiskalt, und langsam bekam Vera Panik. Etwa auf halber Strecke war ihr klar geworden, dass es ein Fehler gewesen war loszufahren. Sie hätte auf ihre Leute hören und die Nacht in Kimmerston verbringen sollen, um dort darauf zu warten, dass der Sturm sich verzog, aber sie hatte geglaubt, es besser zu wissen. Sie hatte ihre Kollegen damit aufgezogen, dass sie sich Sorgen machten, und erklärt, dass Extremwetterlagen so früh im Winter äußerst unwahrscheinlich seien, sogar hier oben in den Hügeln von Northumberland. Und überhaupt, wann hatte die Wettervorhersage schon mal recht?
Sie hatte das Revier bei leichtem Schneegestöber verlassen, das ein böiger Wind von der Straße geweht und zu kleinen Haufen an den Bordsteinen und in den Eingängen der Geschäfte zusammengetrieben hatte. Jetzt allerdings, in höheren Lagen, war das Gestöber zu einem Schneesturm geworden; die Flocken waren so dick und dicht, dass sie sich nach vorn beugen und durch die Windschutzscheibe spähen musste, um zu sehen, wo sie langfuhr. Nirgends war Licht, und trotz des Allradantriebs fürchtete sie, von der schmalen Straße abzukommen. Seit sie den letzten Ort hinter sich gelassen hatte, hatte sie kein anderes Auto mehr gesehen, und sie fühlte sich mutterseelenallein, kannte sich nicht mehr aus. Sie fuhr diese Strecke beinahe täglich und hatte ihrem Sergeant Joe Ashworth gesagt, sie würde auch blind nach Hause finden, aber nun hatte sie die Orientierung verloren und war konfus und verängstigt.
Als sie sich jetzt einer Kreuzung näherte, ließ sie den Land Rover ausrollen, um nicht bremsen zu müssen und dabei womöglich ins Schleudern zu geraten. Es gab zwar einen Wegweiser, doch der war zugeschneit. Einen Moment lang packte Vera die nackte Angst, sie erkannte einfach überhaupt nichts mehr wieder. Im Licht der Scheinwerfer sah sie Bäume auf der einen Straßenseite, dicht an dicht gepflanzte Fichten. Sie musste an ihrem Abzweig vorbeigefahren sein. Sie ließ den Motor laufen und stieg aus dem Wagen, um den Wegweiser frei zu wischen. In die eine Richtung ging es nach Sawley Bridge, in die andere nach Kirkhill. Kirkhill lag näher an ihrem Zuhause, deshalb bog sie rechts ab. Auf der leicht ansteigenden Straße drehten ihre Reifen durch. Der Schnee lag so hoch, dass sie schon befürchtete, stecken zu bleiben, doch nun sah sie Reifenspuren vor sich, denen sie folgen konnte. Offenbar war bereits ein anderes törichtes Wesen kurz vor ihr hier entlanggefahren und tatsächlich durchgekommen.
Vera gelangte auf eine kleine Anhöhe und konnte in der Ferne einen durch den Schneesturm fast unsichtbar gemachten Lichtschimmer erkennen. Der Ortsrand von Kirkhill vielleicht. In Kirkhill gab es einen Pub, in dem man, soweit sie wusste, zu Abend essen und sich ein Zimmer nehmen konnte. Es gab schlimmere Orte, um eine Nacht zu verbringen. Dann mussten ihre Leute es auch nicht erfahren, dass sie sich zum Affen gemacht hatte. Schon setzte die Entspannung ein; sie konnte spüren, wie die Wärme des Kaminfeuers ihr bis in die Knochen drang, und schmeckte den ersten Schluck Bier auf der Zunge. Aber als sie nun um die nächste Kurve bog, fuhr sie beinahe auf einen Wagen auf, der von der Straße geschliddert und kurz vor dem Zusammenstoß mit einem Gatter zum Stehen gekommen war. Ein weißer Wagen, fast perfekt getarnt im Schnee. Das törichte Wesen war also doch nicht durchgekommen. Vera fuhr langsam an dem Wagen vorbei und hielt an. Die Fahrertür stand offen. Sie kramte eine Taschenlampe hinter dem Armaturenbrett hervor und stieg aus dem Land Rover. Der Wind hatte sich kurz gelegt, und alles war ruhig und sehr still.
Der Schnee hatte alle Spuren unter sich begraben, doch anscheinend hatte der Fahrer – oder die Fahrerin – die Unfallstelle zu Fuß verlassen können. Nichts wies darauf hin, dass jemand verletzt worden wäre, und jetzt, aus der Nähe, konnte Vera auch sehen, dass der Wagen unbeschädigt war. Sie wollte schon wieder in den Land Rover steigen und weiterfahren, als sie etwas hörte. Ein Weinen. Sie leuchtete mit der Taschenlampe auf die Rückbank des Wagens und erblickte ein Kleinkind in einem Kindersitz. Es war in einen roten Schneeanzug eingemummelt und trug rote Gummistiefelchen. Unmöglich, Geschlecht oder Alter zu erraten. Veras Erfahrungen mit Kleinkindern waren äußerst überschaubar.
«Na du?» Sie hoffte, fröhlich zu klingen, freundlich, doch nun fing das Kind an zu wimmern. «Wie heißt du denn?»
Das Wimmern brach ab, und das Kind starrte sie an.
«Wo steckt denn deine Mam, Herzchen?»
Nichts. Vera zog ihr Handy aus der Tasche. Kein Netz. Das war hier oben in den Hügeln nicht ungewöhnlich. Vermutlich war die Fahrerin des Wagens auf der Suche nach Empfang losmarschiert, um Hilfe rufen zu können. Denn Vera war mittlerweile zu der Überzeugung gelangt, dass es sich um eine Fahrerin handeln musste. Eine Frau, und zwar eine kleine Frau. Der Fahrersitz war ganz nach vorn zum Lenkrad gezogen. Bestimmt hatte sie das Kind, das Vera vom Rücksitz aus unverwandt anstarrte, zurückgelassen, weil sie wusste, dass sie es nicht weit würde tragen können. Denn selbst wenn es schon alt genug wäre, um laufen zu können, lag der Schnee doch so hoch, dass es niemals durchgekommen wäre. Die roten Gummistiefel waren winzig, mehr Modeaccessoire als praktisches Schlechtwetterschuhwerk.
Dennoch machte Vera sich Sorgen. Hätte eine Mutter nicht wenigstens die Autotür zugemacht, um den bitterkalten Wind auszusperren? Sie spürte die Aussicht auf Kaminfeuer und Bier schwinden, hob die Autoschale mitsamt Kind aus dem Wagen und befestigte sie neben sich im Land Rover, wobei es ihr einige Mühe bereitete, den Gurt so zu schließen, dass die Schale nicht verrutschte. Eine komplizierte Technik, wie es schien. Elternschaft war heutzutage wohl wirklich eine herausfordernde Sache.
Vera notierte sich das Nummernschild des weißen Wagens auf der Rückseite eines Kassenzettels, den sie zufällig in der Tasche hatte, und kramte ein zweites, sauberes Stück Papier hervor. Sie schrieb eine Nachricht, die sie in den Wagen aufs Armaturenbrett legte. «Ihr Kind ist bei mir. Es ist in Sicherheit.» Dazu ihre Handynummer. Dann, nach kurzer Überlegung, platzierte sie daneben noch ihre Visitenkarte. Einer Kindesentführung beschuldigt zu werden, konnte sie echt nicht brauchen.
Sie fuhr weiter, sogar noch langsamer als vorher, in der Hoffnung, im Licht ihrer Scheinwerfer eine Frau einzufangen, die sich durch den Schnee kämpfte. Allerdings, dachte sie, müsste sie sie doch inzwischen längst eingeholt haben? Vera fluchte leise vor sich hin. Das Ganze würde offenbar länger dauern als erwartet. Wenigstens war das Kind neben ihr ruhig, es war eingeschlafen und atmete sanft.
Der Schnee wurde immer feiner und setzte schließlich ganz aus. Die Wolken brachen auf, und am Himmel erschien eine schmale Mondsichel. Vera fuhr um eine Kurve, und plötzlich wusste sie genau, wo sie war. Eine lange, mit vereistem Efeu überwucherte Mauer, zwei Pfeiler, die den Durchlass zu einer Auffahrt markierten, die früher einmal prächtig gewesen sein musste, ein Schild mit einem Wappen, ausgebleicht und schneebedeckt. Doch Vera wusste, was dort stand. Ein Wort: Brockburn. Und darüber das Familienwappen der Stanhopes.
Das Licht, das sie von der Anhöhe aus gesehen hatte, musste von hier gekommen sein. Vor den Pfeilern hielt sie kurz an, und die Erinnerungen stürzten auf sie ein. Hector, ihr Vater, hatte sie so manches Mal hierhergeschleppt, wenn er mal wieder vollkommen abgebrannt gewesen war und von der Familie verlangt hatte, seinen Anspruch auf einen Platz an der Sonne anzuerkennen. Alljährlich waren sie uneingeladen bei der Neujahrsjagd aufgetaucht. Da war Hector in seinem Element gewesen, hatte mit den hiesigen Landwirten geplaudert, die ihn schon als Kind gekannt hatten. Das schwarze Schaf war in den Schoß der Familie heimgekehrt, um Whisky aus einem kleinen Plastikglas zu trinken, während die Jagdhunde unruhig wurden und die gestriegelten Pferde vor dem Herrenhaus auf und ab schritten. Um zu beweisen, dass auch er Traditionen respektierte.
Die Familie war ihm ausnahmslos höflich begegnet. Diesem Zweig der Familie diente die Höflichkeit als Waffe zur völligen Vernichtung. Und Hector hatte jedes Mal gedemütigt und wütend wieder abziehen müssen. Vera, die sich ihrem Vater gegenüber nie zur Loyalität verpflichtet gefühlt hatte, hatte den Standpunkt der Familie verstanden. Hector war immer grob aufgetreten und hatte Forderungen gestellt, und bei seinen letzten Besuchen war er halb betrunken gewesen. Vera hatte sich in Grund und Boden geschämt, und zu ihr war die Familie immer freundlich gewesen.
Bei ihrem letzten Besuch war Vera ein Teenager gewesen, fünfzehn Jahre vielleicht, schon ein wenig übergewichtig, linkisch und verhuscht. Heute wusste sie nicht einmal mehr, weshalb sie dort gewesen war. Hector hatte niemals Skrupel gehabt, sie allein zu Hause zu lassen, nicht mal, als sie noch ganz klein war. Vielleicht hatten diese Zusammenstöße ihn ja doch nervöser gemacht, als sie gemerkt hatte, und er hatte eine Art Schutzschild in ihr gesehen. Oder vielleicht hatte er gedacht, dass die Familie mehr Mitgefühl an den Tag legen würde, wenn sie sahen, dass er für seine Tochter sorgen musste. Jedenfalls war es an einem Sommernachmittag gewesen, eine strahlende, warme Sonne hatte das Anwesen mit ihrem Licht geflutet. Sie hatten draußen auf der Terrasse gesessen, Tee getrunken und winzige Sandwiches gegessen, die mit ein, zwei Happen verschwunden waren. Es hatte Baisers gegeben. An die Baisers konnte Vera sich sogar jetzt noch erinnern – knusprig und weich zugleich, die intensive...
Erscheint lt. Verlag | 12.9.2023 |
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Reihe/Serie | Vera Stanhope ermittelt | Vera Stanhope ermittelt |
Übersetzer | Stefanie Kremer |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Agatha Christie • britische Kriminalromane • britische Krimis • Cosy Crime • Cosy Krimi • England • englische Krimis • Herrenhaus • Inspector Barnaby • Krimi • Krimi England • Kriminalroman • Kriminalromane • Krimineuerscheinungen 2023 • Krimis und Thriller • Krimi Taschenbuch • Krimi Thriller • Krimi Winter • Vera Stanhope |
ISBN-10 | 3-644-01506-6 / 3644015066 |
ISBN-13 | 978-3-644-01506-7 / 9783644015067 |
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