Der Fernsehapparat dröhnte, die bunten Trickfilmfiguren auf dem Bildschirm quietschten und schnatterten in ohrenbetäubender Lautstärke, und es klang wie das Schreien verdammter Seelen aus der Hölle. Dabei waren es nur Bugs Bunny und seine Kumpane, die ihre derben Späße trieben.
Aber der kleine Jimmy Hayden litt unter dem Lärm. Wie ein Messer schnitten die Laute ins Gehirn des kleinen farbigen Jungen. Dabei war der lustige Cartoon-Hase eine seiner Lieblingsfiguren. Doch nun hielt sich Jimmy mit verzerrtem Gesicht die Ohren zu.
Seine vier Geschwister feixten. Sie hockten dicht neben ihm auf dem durchgesessenen Sofa in dem winzigen Wohnzimmer in Harlem. Sie dachten zuerst, ihr Bruder wollte Quatsch machen. Sonst war der Sechsjährige immer zu lustigen Ideen aufgelegt. An diesem Nachmittag nicht.
Plötzlich wurde der Oberkörper des Kindes nach vorne geschleudert, als ob jemand Jimmy in den Magen geboxt hätte. Jimmy schrie auf. Auf seinen vollen Lippen erschien blutiger Schaum. Die Augen schienen ihm aus dem Kopf zu quellen.
Es gibt Geschichten, die auch einen erfahrenen FBI-Agenten nicht unberührt lassen. So ging es mir jedenfalls an diesem trockenen New Yorker Januarmorgen, als ich gerade zur Arbeit fahren wollte.
Während des Frühstücks hatte ich im Radio vom Schicksal des kleinen Jimmy Hayden erfahren, der einen qualvollen Tod gestorben war, während er mit seinen vier Geschwistern ferngesehen hatte. Es sah ganz so aus, als ob eine einfache Kopfschmerztablette für sein plötzliches Ende verantwortlich war. Die Ärzte vermuteten eine äußerst seltene allergische Reaktion.
Die Herstellerfirma würde sich auf eine gewaltige Schadenersatzklage gefaßt machen können. Aber auch alles Geld der Welt würde den Eltern ihren Jungen nicht zurückgeben können.
Seufzend zog ich den Mantel über meinen Anzug, schloß mein Apartment ab und nahm den Fahrstuhl in die Tiefgarage. Dort stieg ich in meinen roten Sportwagen.
Sonst machte es mir immer Spaß, den Sechszylinder-Viertakt-Motor aufheulen zu lassen und die Power des britischen Babys zu spüren. Aber an diesem Morgen lag mir der sinnlose Tod des kleinen Jimmy aus Harlem im Magen.
Milo wartete an unserer gewohnten Ecke.
Wie immer nahm ich meinen Freund und Kollegen mit zu unserem gemeinsamen Arbeitsplatz im FBI Field Office New York City. Milo spürte sofort, daß etwas mit mir nicht in Ordnung war.
»He, Partner! Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?«
Ich blieb ernst. »Hast du schon Nachrichten gehört?«
»Was meinst du?«
»Tod durch Kopfschmerztabletten -dieses Kind in Harlem.«
Milo nickte. »Ja, das ist traurig.«
»Es ist mehr als traurig«, erwiderte ich. »Es ist tragisch. Kinder in so einem Ghetto großzuziehen, ist bestimmt kein Spaß. Da versuchst du, deine Kleinen von den verdammten Drogendealern fernzuhalten. Aufzupassen, daß sie regelmäßig zur Schule gehen. Daß sie genug zu essen bekommen. Und dann gibst du ihnen eine verdammte Kopfschmerztablette - und das war es dann!«
»Diese Welt ist manchmal zum Heulen«, bestätigte Milo. Doch wir wußten beide, daß uns diese Wahrheit nichts nutzte. Wir konnten nur versuchen, das Leben für die friedlichen und gesetzestreuen Menschen ein bißchen erträglicher zu machen. Das war schließlich unser Job als G-men.
In unserem gemeinsamen Büro im 26. Stockwerk des FBI-Gebäudes an der Federal Plaza erwartete uns wenigstens eine positive Überraschung.
Der von Milo und mir verhaftete Erpresser war im Verhör unter der Last der Indizien zusammengebrochen. Das Protokoll unserer Verhörspezialisten war erfreulich. Der Bursche hatte ein umfassendes Geständnis abgelegt.
»Sehr schön«, sagte ich. »Dann müssen wir nur noch unseren Abschlußbericht schreiben.«
»Ich kann nicht«, jammerte Milo und hielt seine rechte Hand. »Ich hab' mir den Zeigefinger verstaucht. Und das ist doch der einzige, mit dem ich tippen kann!«
»Zu schade.« Ich grinste schief. »Dann kannst du ja auch nicht heute abend mit Mona zum Bowling gehen, wie du es vorhattest. Oder willst du die Nase in die Bowlingkugel stecken?«
Papierkrieg ist meinem Freund ebenso verhaßt wie mir selbst. Wenn wir eine Gelegenheit finden, um nicht hinter der Computertastatur zu versauern, dann nutzen wir sie.
»Also irgend jemand muß diesen Bericht schreiben«, stellte Milo sehr treffend fest. »Du hast also auch keine Lust dazu, Jesse?«
»Das habe ich nicht gesagt. Lassen wir doch die Glücksgöttin entscheiden!«
Und ich zog ein 50-Cent-Stück aus meiner Hosentasche. Doch bevor ich es werfen konnte, klingelte das Telefon.
Milo grabschte hastig nach dem Hörer. Er hoffte wohl, einen Auftrag zu bekommen, der ihn vom Berichteschreiben abhalten würde.
Als er das Gespräch beendete, spaltete ein breites Grinsen sein Gesicht.
»Keine Zeit für das Clive-Graham-Geschreibsel, Partner! Mr. McKee braucht uns.«
Es dauerte nur Minuten, bis wir im Büro unseres Chefs waren.
Jonathan D. McKee ist als Special Officer in Charge der Leiter des FBI Field Offices New York. Seiner besonnenen und klugen Denkweise hat das organisierte Verbrechen schon manche seiner größten Niederlagen zu verdanken.
Jonathan D. McKees Hartnäckigkeit im Kampf gegen das Verbrechen hat allerdings seinen Grund. Vor Jahren wurde Mr. McKees Familie eiskalt von Gangstern getötet.
An diesem frostigen Januarmorgen saß unser Vorgesetzter in einem dunkelgrauen Anzug mit Weste hinter seinem wie stets penibel aufgeräumten Schreibtisch. Er hatte seine schmalen Künstlerhände auf der Arbeitsplatte gefaltet und sah uns ernst an.
Wir nahmen auf den Besucherstühlen Platz.
»Jesse und Milo, Sie haben vermutlich auch schon vom Tod des kleinen Jimmy Hayden gehört?«
»Ja, Sir«. Ich nickte. »Es kam ja wohl auf allen New Yorker Radio- und Fernsehsendern. Eine wirklich tragische Geschichte.«
Der Chef wiegte stumm den Kopf. Auch er war einmal Vater gewesen, bevor Gangster seine Tochter und seine Frau ermordet hatten. Ob er wohl in diesem Moment daran denken mußte, wie es war, ein Kind zu verlieren?
»Bisher hatte ich nur die Informationen, die jeder New Yorker aus den Medien erhalten hat, Jesse. Jimmy Hayden ist - war - sechs Jahre alt, als er starb. Er lebte mit seinen Eltern und vier Geschwistern in einem Drei-Zimmer-Apartment in Harlem. Gestern mittag klagte er über Kopfschmerzen. Seine Mutter gab ihm eine Tablette. Nachmittags ist er dann plötzlich und unter großen Qualen gestorben.«
Ich hatte genau zugehört. »Sie sagten ›bisher‹, Sir. Haben Sie noch weitere Fakten in Erfahrung bringen können?«
»Ich bekam heute morgen ein Fax aus dem kriminaltechnischen Labor des NYPD. Die Kollegen von der City Police haben die weiteren Tabletten aus dem Röhrchen untersucht. Ich meine die Packung, aus der die tödliche Pille stammt.«
Wir sahen ihn gespannt an.
»Das Medikament ist eine Fälschung«, erklärte Mr. McKee mit leiser, aber nachdrücklicher Stimme. »Die Packung, die Inhaltsstoffe - alles! Die Kopfschmerztabletten sind ein Markenprodukt von US Pharm.«
Milo pfiff durch die Zähne. »Einer der größten Pharmakonzerne unseres Landes. Fast jeder hat irgendwelche Medikamente von denen im Medizinschrank. Ich auch.«
»Genau, Milo«, bestätigte Mr. McKee. »Jeder kennt diese Marke und vertraut ihr. Deshalb ist es auch so gefährlich, wenn diese Medikamente gefälscht werden.«
»Woher wissen wir überhaupt, daß es Fälschungen sind?« wollte ich wissen. »Vielleicht ist ja auch bei US Pharma etwas schiefgelaufen. Und sie wollen es bloß vertuschen.«
Mr. McKee schüttelte den Kopf. »Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Obwohl wir auch dieser Spur nachgehen werden. Die Herstellung von Arzneimitteln wird sehr streng kontrolliert. Und in diesen gefälschten Pillen waren die merkwürdigsten Substanzen. Nein, daß diese Kopfschmerztabletten jemals aus der US-Pharm-Fabrik in Chicago gekommen sind, ist sehr unwahrscheinlich.«
»Es gibt also Leute, die mit gefälschten Markenmedikamenten das große Geld verdienen«, faßte ich zusammen.
»Und wir als FBI bekommen den Fall, weil ein einzelner so ein Verbrechen nicht allein durchführen kann«, ergänzte Milo. »Da muß organisiertes Verbrechen dahinterstecken und damit wird es zum Bandendelikt und fällt in unsere Zuständigkeit.«
Mr. McKee nickte zustimmend. »Sie müssen diese Kriminellen so schnell wie möglich unschädlich machen«, schärfte er uns ein. »Wir wissen nicht, wieviele von diesen Pillen schon im Umlauf sind. Es kann jederzeit neue Todesopfer geben. Hunderte in New York, Tausende in den ganzen USA. Wir können eine Massenpanik nur vermeiden, wenn wir diese Bande auffliegen lassen.«
...