Garten der Engel (eBook)
387 Seiten
Folio Verlag
978-3-99037-142-8 (ISBN)
David Hewson, geboren 1953, lebt in Kent. Er hat zwölf Romane geschrieben, die in Italien spielen. Mit 17 verließ er die Schule und arbeitete von da an als Reporter, u. a. für The Times, The Sunday Times und The Independent. Bekannt wurde er durch die Krimiserie um den römischen Kommissar Nic Costa und seine Roman-Adaption der dänischen TV-Serie Das Verbrechen. Venedig besucht er seit 30 Jahren.
David Hewson, geboren 1953, lebt in Kent. Er hat zwölf Romane geschrieben, die in Italien spielen. Mit 17 verließ er die Schule und arbeitete von da an als Reporter, u. a. für The Times, The Sunday Times und The Independent. Bekannt wurde er durch die Krimiserie um den römischen Kommissar Nic Costa und seine Roman-Adaption der dänischen TV-Serie Das Verbrechen. Venedig besucht er seit 30 Jahren.
1
Ich muss vier oder fünf gewesen sein. Nonno Paolo las mir in meinem kleinen, nach vorne gelegenen Zimmer im dritten Stock eine Gutenachtgeschichte vor. Sie stand in einem Geschichtsbuch und hatte sich wirklich zugetragen. Ein Mann, ein alter König oder Kaiser, blickte am Ende seiner Herrschaft auf seine Erfolge und Misserfolge zurück und fragte sich, während er auf dem Sterbebett lag, was wohl als Nächstes kommen würde.
Ob das ein besonderes Bett sei, fragte das Kind von damals. Eins, das zum Sterben vorgesehen war? Konnte man dem Tod vielleicht entkommen, wenn man nie darin schlief?
Er las mir immer aus schlechtem Gewissen etwas vor, glaube ich. Mein Vater war gewöhnlich auf Reisen, in Amerika oder Japan, in Russland, in Frankreich, um den berühmten Samtstoff des Hauses Uccello zu verkaufen. Als Besitzer einer der letzten traditionellen Webereien Venedigs war das unser Geschäft. Meine Mutter hatte ihre Koffer gepackt und war zu ihren Eltern in England zurückgekehrt. Venedig schien ihr nicht zu gefallen. Genauso wenig wie wir. Bald darauf hatte sie schon einen neuen Mann und eine neue Familie.
Nein, sagte mein Großvater. Ein Sterbebett sei nichts Besonderes. Nur der Ort, an dem man sich befand, wenn die Zeit gekommen war. Dazu sei jedes Bett gut genug.
Selbst jetzt, nach all den Jahren, kann ich die kleine Welt meiner Kindheit wieder heraufbeschwören. Die Geräusche unter dem Fenster meines aufgeräumten Kinderzimmers im Palazzo Colombina. Vaporetti und Motorboote, das sanfte Schwappen der trägen Wellen gegen bröckelnden Backstein und das modernde Holz unseres Privatanlegers. Möwen kreischten, Tauben glitten vom Himmel und flatterten mit ihren luftigen Flügeln. Manchmal hörte ich einen Gondoliere, der für die Touristen eine Opernmelodie sang. Aus dem Kanal stieg der vertraute Geruch nach Diesel und Chemikalien auf, stets mit einem Hauch Fäulnis vermischt.
„Ist in meinem Bett schon einmal jemand gestorben?“
„Aber nein. Dein Bett ist doch nagelneu, Nico!“
„Werde ich darin sterben?“
Er lachte und strich mir übers Haar. Nonno Paolos Gesicht war schmal und grau, mit kantigen Wangenknochen, weshalb ich fand, dass er wie ein lebendig gewordenes Standbild aussah. Er zeigte stets ein freundliches Lächeln, obwohl er oft erschöpft wirkte, nachdem er sich sieben Tage in der Woche um die Angelegenheiten unserer Weberei und ihre betriebsamen Verkaufsstellen gekümmert hatte.
„Natürlich nicht. Das ist ein Kinderbett. Du wirst noch wachsen und bald kaufen wir dir ein neues. Dir stehen in diesem Leben noch viele Betten bevor. Und jede Menge Aufregung. Das wird ein richtiges Abenteuer, in unserer turbulenten Welt groß zu werden. Du willst doch Abenteuer erleben, oder?“
„Ich glaub schon.“
„Alle Jungen wollen Abenteuer erleben.“
„Aber werde ich dann auch sterben? Eines Tages?“
Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Ach was, der Zeitpunkt ist noch so weit weg, darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Denk doch lieber an … jetzt. Diese Woche. Samstag, wenn Chiara dich mit zum Lido nimmt. Du kannst im Sand spielen. Paddeln gehen. Es gibt Eiscreme. Und andere Kinder, mit denen du herumtoben kannst.“
Chiara Vecchi war eine kräftige, lebhafte Frau, die früher einmal für uns als Weberin gearbeitet hatte. Später, nach dem Weggang meiner Mutter, war sie zu einer unentbehrlichen Hilfe geworden, die einkaufte, kochte und mich zur Schule brachte, wenn sonst keiner konnte.
„Du sollst nicht sterben. Niemals.“
Großvater schlug das Buch zu.
„Du bist schon zu müde hierfür.“
„Nein … Ich will eine Geschichte. Noch eine.“
Er beugte sich herunter, gab mir einen Kuss auf die Stirn und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar.
„Alles zu seiner Zeit, mein Junge.“ Sein freundliches Gesicht verdunkelte sich und nahm einen Ausdruck an, den selbst ein Kind wie ich deuten konnte. Einen Ausdruck des Zweifels, und des Bedauerns vielleicht. „Ob du mir für die Geschichte, die ich im Sinn habe, allerdings dankbar sein wirst …“
Bevor ich noch etwas sagen konnte, beugte er sich wieder herunter und gab mir noch einen Kuss. Dann ging er zum Fußende des Bettes, stellte den Fernseher an und suchte einen Kanal mit Zeichentrickfilmen.
Juni 1999. Ich war inzwischen ein nervöser, schlaksiger Fünfzehnjähriger geworden, der ein Einzelzimmer im Krankenhaus Santi Giovanni e Paolo betrat. Jetzt war ich an der Reihe, am Bett zu sitzen. Wie sehr ich mir auch wünschte, anderswo zu sein. Am Strand auf dem Lido zum Beispiel, um Musik zu hören und zu versuchen, mit meinen Altersgenossen mitzuhalten. Um Mädchen zu erobern, wenn ich nur gewusst hätte, wie. Mein Vater war ein Meister darin, hatte sein Talent aber nicht an mich weitergegeben.
Noch lieber wäre ich mit meinen Kameras unterwegs gewesen, um Fotos von den Sümpfen bei Torcello oder den Dünen von San Nicolò zu machen. Das Fotografieren war mein größtes Hobby, fast schon eine Sucht. Großvater hatte ein Kundenkonto bei einem Fotogeschäft in der Nähe von San Giacomo dell’Orio für mich eröffnet. Dort war ich gern gesehen, angesichts der Tatsache, dass ich ein Vermögen für Spiegelreflexkameras, Objektive, Filme und Entwicklungsarbeiten ausgab. Wovon ich natürlich keine Lira selbst bezahlte.
Alle Wände waren weiß. Durch die Flure hallten Schritte und leise Stimmen. Überall hing der strenge Geruch nach Desinfektionsmittel in der Luft, der mir die Kehle zuschnürte. Oder vielleicht war es bloß Angst. Auf der einen Seite des Zimmers gaben zwei hohe Fenster den Blick auf die Fondamente Nove und die Lagune frei. Die stille Wasseroberfläche lag flirrend in einer Hitze, wie sie normalerweise nicht vor Ende Juli hereinbrach. Schwül, drückend, voller sirrender Stechmücken.
Kaum war ich eingetreten, mit gesenktem Kopf und erkennbar lustlos, deutete nonno Paolo auf den Stuhl neben dem Bett. Noch nie hatte ich ihn so schwach gesehen. Schon allein deswegen wäre ich am liebsten weggelaufen, fort aus dieser grell erleuchteten Zelle mit ihrem Desinfektionsmittelgestank und dem stetigen, beharrlichen Surren des Ventilators an der Decke.
Es war nicht einfach, sich eine Welt ohne ihn auszumalen, und weil ich noch ein Kind war, ging ich allem, was nicht einfach war, aus dem Weg. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, wie die Uccellos fortbestehen sollten, ohne dass er sich um die täglichen Abläufe in unserem Palazzo und um unseren kleinen Männerhaushalt kümmerte. Er war unser Fels, der feste Bestandteil in unserem Leben, von dem ich geglaubt hatte, dass er immer da sein würde. Doch bald schon, meinten nun alle – die Schwestern, die Ärzte, mein Vater und Paolo Uccello selbst –, würde der Patriarch einer der berühmtesten Weberfamilien Venedigs nicht mehr sein.
„Wie ich höre“, sagte er mit schwacher Stimme, was seiner Autorität aber keinen Abbruch tat, „gab es Ärger in der Schule.“
Eigentlich hatte ich kaum etwas damit zu tun gehabt. Mein Vergehen bestand eher in einer Unterlassung. Zur Strafe war ich zusammen mit Maurizio Scamozzi, dem Anstifter, und zwei anderen Jungen eine Woche vom Unterricht suspendiert worden. Es war nicht das erste Mal, dass Scamozzi uns in Schwierigkeiten brachte, und offen gesagt war es hauptsächlich eine Mischung aus Neugier und Angst, die mich manchmal dazu brachte, bei seinen Aktionen mitzumachen. Dass ich deswegen aus der Schule geworfen wurde, wenn auch nur vorübergehend, war allerdings neu.
„Tut mir leid“, war alles, was ich herausbrachte.
„Was ist passiert?“
Sie hatten einen Jungen schikaniert. Und ich hatte dabeigestanden und zugesehen. Hatte nicht mitgemacht. Aber auch nicht eingegriffen.
„Ich weiß, dass ich eine Strafe verdient habe“, sagte ich. „Eine Woche Schulverweis …“
„Ach, vergiss es.“ Er fuhr mit der Hand durch die Luft. Es war eine kraftlose Geste für einen Mann, den ich immer für so stark und gesund gehalten hatte. „Ich wollte sowieso, dass du mich besuchen kommst. Du sollst etwas lesen.“
Als ich noch klein war, war mir nonno Paolo wie der größte Mann der Welt erschienen. Alter und Krankheit hatten ihn gekrümmt und ergrauen lassen. Nun lag er hier unter einem weißen Laken im Krankenhausbett, von ein paar Kissen gestützt, ein Buch und einen Krug Wasser auf dem Nachttisch zwischen sich und dem offenen Fenster. Draußen verlief der ruhige Fußweg über die Fondamente Nove, der zum Arsenale, der riesigen, größtenteils leer stehenden ehemaligen Schiffswerft, führte. Wie jeden Sonntag war auf der Lagune Richtung Murano viel los. Ruderboote glitten...
Erscheint lt. Verlag | 28.2.2023 |
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Reihe/Serie | Transfer Bibliothek |
Übersetzer | Birgit Salzmann |
Verlagsort | Wien |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1943 • 2. Weltkrieg • Alpenvorland • Besetzung • Bevilacqa • Cannaregio • Castello • Deportation • Dunkel • düster • faschisten • Gerechtigkeit • Ghetto von Venedig • giardini • Hewson • historisch • Italien • Jacquardwebstuhl • Judentum • Judenverfolgung • jüdisches Ghetto • LGBTQ • LGBTQIA • Mussolini • Nationalsozialismus • Nationalsozialisten • Nazis • naziss • Operationszone Alpenvorland • Partisanen • Queer • Repubblica sociale di Salò • San Pietro in Castello • Seide • Seidenweberei • spannend • squadristi • Venedig • Via Garibaldi • Widerstand • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-99037-142-8 / 3990371428 |
ISBN-13 | 978-3-99037-142-8 / 9783990371428 |
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