Glory (eBook)
460 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77537-0 (ISBN)
Jidada heißt das Land. Ein Land, bevölkert von vermenschlichten Tieren, beherrscht vom stärksten unter ihnen, seit fast vierzig Jahren. Einst brachte er die Unabhängigkeit auf den afrikanischen Kontinent, zerschlug die Fesseln der Geschichte, bloß um ihnen prompt andere anzulegen. Doch nun mehren sich die Zeichen, dass seine Kräfte schwinden. Wer ihn reden hört, wer das Alte Pferd in die Sonne blinzeln sieht, ihn und seinen ganzen verrotteten Apparat, der weiß: seine Tage sind gezählt. In Jidada kehrt jetzt Hoffnung ein: auf eine gerechte Zukunft, auf Wohlstand und Veränderung, endlich ein besseres Leben für uns alle! Aber das Regime wehrt sich mit Waffen härter als Träume, schärfer als Fantasie, tödlicher als blanke Lebensfreude, bis eine Heimkehrerin aus dem Exil alles verändert.
Glory ist die brillante Verwandlung unserer Gegenwart. In einer Sprache, die singt und tanzt und springt und schreit, erzählt NoViolet Bulawayo von einer Gemeinschaft im Kampf gegen die Repression. Und fördert beides zutage: Glanz und Schönheit, Horror und Schmerz am Grund der menschlichen Freiheit.
NoViolet Bulawayo wuchs auf in Bulawayo, Simbabwe. Im Alter von achtzehn floh sie in die USA. Ihr Debütroman <em>Wir brauchen neue Namen</em> war Finalist des Booker Prize und wurde mit dem PEN/ Hemingway Award sowie dem Los Angeles Times Book Prize for First Fiction ausgezeichnet. Sie gewann den National Book Award in der Kategorie »5 under 35«. Übersetzungen in zahlreiche Sprachen folgten. Als Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin lebt NoViolet Bulawayo ein Jahr lang in der Hauptstadt.
EIN ANFÜHRER, DER GLAUBT, ER GEHT VORAN, ABER IN WAHRHEIT KEINE MACHT HAT, GEHT EINFACH NUR SPAZIEREN
THOLUKUTHI ÜBERALL
Gut drei, vier Stunden nach ihrer Schlafenszeit hat Dr. Sweet Mother sich immer noch nicht an dem YouTube-Clip sattgesehen, wie sie bei der Unabhängigkeitsfeier vor ein paar Tagen ausgeteilt, ja, tholukuthi wie sie vor der versammelten Nation mal richtig auf den Tisch gehauen hat. Heutzutage tritt sie kaum noch irgendwo auf, geht kaum noch irgendwohin, ja tut überhaupt kaum noch irgendetwas, ohne dass es hinterher auf Social Media landet. Und zwar mit Recht, denn sie ist definitiv kein Erstes Waipchen wie jedes andere – Dr. Sweet Mother, alias Marvelous, Tochter von Agnes, ihrerseits Tochter von Chiriga, ihrerseits Tochter von Tembewa, ist absolut furchtlos – ganz egal wann, wo oder wie, sie macht jedes Tier klein, schreddert es, zerquetscht es unter ihren Gucci-Absätzen. Ist alles auf YouTube, die ganze Welt kann es sich anschauen, viraler kann man kaum noch gehen – Twitter, Facebook, Insta, das volle Programm, tholukuthi sie ist überall, überall trendet sie, überall herrscht sie.
Auf dem Bildschirm sieht sie, wie die faszinierten Tiere unterm Zelt und in der Sonne jede ihrer Bewegungen verfolgen. Davon kriegt sie nie genug; diese unerschütterliche Aufmerksamkeit, diese Blicke voller Ehrfurcht, Anbetung, Bewunderung – all das gibt der Eselin einen Kick, da kann sie einfach nicht gleichmütig bleiben, egal, wie oft sie das Video in den letzten Tagen bereits gesehen hat. Schon ist sie wieder auf den Beinen, tigert durchs Zimmer, spricht laut zum Video mit, spricht jene berühmten Zeilen, die sie schon in so vielen Reden eingesetzt hat, dass sie zum anerkannten Slogan wurden: »Das hier ist keine Farm der Tiere, sondern Jidada, mit einem -da und noch einem -da! … Und wenn du Ohren hast, dann hör besser auf meinen Rat, denn alles, was du tust, ist Wackersteine schlucken, und wir werden ja sehen, wie groß dein Arschloch ist, wenn diese Steine wieder ausgeschissen werden wollen!« Und da jault die Eselin vor bösem Lachen, wird so heftig davon durchgeschüttelt, dass sie sich atemlos keuchend aufs Bett setzen muss, weil diese Vorstellung rein zufällig auch noch das lustigste unter der Sonne ist.
ZUNGEN DER MACHT
Dass ihre Reden so brillant sind, liegt, wie Dr. Sweet Mother weiß, an der Wahl ihrer Sprache – tatsächlich hat sie festgestellt, dass sie am allervernichtendsten, am mächtigsten, am zerquetschendsten ist, wenn sie sich in ihrer Muttersprache ausdrückt. Ganz im Unterschied zu Seiner Exzellenz, der in und außerhalb Jidadas, ja sogar noch in Großbritannien für seine Eloquenz im Englischen bekannt ist. Sicher, seine Erstsprache spricht er auch, aber darin, in der Sprache seiner höchsteigenen Mütter, wirkt der Vater der Nation wie ein Kaiser in schlecht sitzenden Kleidern, wie eine kümmerliche Küchenschabe in einem makellos weißen Schrank. Tholukuthi er fühlt sich unwohl in ihr, und sie fühlt sich unwohl in ihm, er sträubt sich gegen sie und sie sich gegen ihn; wenn er aufsteht, setzt sie sich, wenn er drückt, dann schiebt sie, wenn er sie packen will, schlüpft sie ihm weg, huscht ihm zwischen den Beinen durch und flieht. Selbst wenn er im Schlaf spricht, was mittlerweile ziemlich oft vorkommt, tut der Vater der Nation das in einem englischeren Englisch als dem der Engländer.
Die Eselin dagegen glänzt, fliegt, schwebt, springt, tanzt, tänzelt, schwimmt, pirouettiert, segelt, twerkt, purzelbaumt, kennt jeden Trick, kann alles, was ihr wollt in ihrer Muttersprache – nur die Toten wiederauferstehen lassen, das schafft sie gerade so noch nicht. Schon oft hat sie bedauert, dass sie in der Schule nicht in ihrer Erstsprache hat unterrichtet werden können – wer weiß, vielleicht hätte sie dann sogar mit mehr Spaß gelernt, ja, tholukuthi in ihrer Sprache hätte sie womöglich all die kniffligen Fächer zu schätzen gewusst, die sie so nicht recht kapiert hat, von mögen ganz zu schweigen, und in denen sie deshalb allesamt durchfiel, weswegen sie in der Grund- und Mittelschule natürlich obendrein als Dummkopf abgestempelt war und allerlei peinliche Spitznamen sammelte, was sie nicht bloß damals tief verunsichert und ihr Selbstvertrauen in Stücke geschlagen hat, sondern sie auch noch lange nach der Schule quälte.
Noch einmal klickt sie auf Play und sieht den Clip von vorn bis hinten ohne Pause. Eigenlob ist sonst nicht Dr. Sweet Mothers Ding, aber sie muss zugeben, dass sie in dem jüngsten Clip absolut umwerfend ist, garantiert ihr bester Auftritt seit sie vor drei, vier Jahren zum ersten Mal bei einer Kundgebung gesprochen hat – sie hat sich schlichtweg selber übertroffen, Punkt. Der Applaus am Ende ihrer Rede schallt ihr abermals mitten durchs Herz, und sie dreht ihn bis zum Anschlag auf, spürt, wie der Klang ihr bis ins Mark dringt, ihr Blut beinahe schaumig schlägt und ihre Eingeweide hüpfen lässt, den Magen und die Leber – ja, tholukuthi alle Innereien –, und beinahe schwebend stellt sie den Schwanz auf, schwingt beide Vorderhufe in die Luft und stimmt in den Jubel ihres Bildschirmpublikums mit ein.
»Viva, Dr. Sweet Mother, Viva!!!«
Erschrocken dreht die Eselin sich um zum Vater der Nation, der in seinem blauweiß gestreiften Lieblingsschlafanzug hinter ihr steht und munter skandiert. Sie hat ihn nicht kommen hören und ist einen Moment lang peinlich berührt, weil er sie bei dieser garantiert lächerlich wirkenden Beschäftigung ertappt hat.
»Baba! Geht’s dir gut? Wie lang stehst du da schon? Du sollst doch schlafen!« Stirnrunzelnd mustert die Eselin das Gesicht des Alten Pferds. Laut der Wanduhr ist es 2:13 Uhr.
»Ja, mir geht’s gut, Dr. Sweet Mother«, sagt er. »Ich hab auch schon geschlafen. Aber dann wurde ich geweckt. Von den Genossen.«
DIE LEICHEN IN JIDADAS KELLER
Damit meint er natürlich die legendären Befreier Humphrey Shumba, Eliot Nzira, General Makhalisa Langa und General Samson Chigaro. Letzterer, ein ranghoher Kommandant der Befreier Jidadas, war laut denen, die wirklich Bescheid wissen, wesentlich verantwortlich für den ruhmreichen Aufstieg des Vaters der Nation während der letzten Kriegsjahre. Nach der Unabhängigkeit wurde er dann General der Jidada National Army und Mitglied des Führungszirkels des Sitzes der Macht. Außer ihm hat Dr. Sweet Mother jedoch keinen der Genossen mehr kennenlernen dürfen. Sie alle starben ungefähr zur selben Zeit, zu der Jidada unabhängig wurde – und sie alle starben jung.
Tholukuthi die ersten zehn Jahre ihrer Ehe hatte die Eselin gebraucht, um zu verstehen – indem sie geduldig Bruchstücke des albtraumgeplagten Schlafgebrabbels ihres Gatten zusammenfügte, die manchmal ganze Unterhaltungen, Vorträge, Debatten, Plädoyers, Streits, Beichten und Grübeleien umfassten, und auch indem sie bei vertraulichen Gesprächen des Führungszirkels und des Sitzes der Macht die Ohren spitzte –, dass die Gerüchte, die sie in ihrer Jugend von denen, die wirklich Bescheid wissen, gehört hatte, allesamt stimmten: dass der Vater der Nation nämlich tatsächlich mit Gespenstern lebte, dass er, und ergo auch der Sitz und die Partei der Macht, und folglich auch Jidada mit einem -da und noch einem -da eine ziemlich vertrackte Geschichte hatten, in der längst nicht alles Glanz und Gloria war.
DER BEFREIER VS. DIE ZEIT: EINE SCHLACHT ZWEIER HERRSCHER
Damit Dr. Sweet Mother das volle Ausmaß der unglorreichen Vergangenheit Jidadas aufging, musste zuerst die Zeit, die oberste Herrscherin von allen, ihre unausweichliche Belagerung des Vaters der Nation beginnen. Tholukuthi gerade, als der sich auf dem Gipfel seiner Macht sonnte, sandte die Zeit ihren treuesten Fußsoldaten, das Alter, aus, damit es gehorsam seinen schleichenden, stetigen Angriff auf Geist und Körper des Herrschers durchführte. Mit dem Rücken zur Wand stand der Vater der Nation fortan vor einem Feind, auf den er...
Erscheint lt. Verlag | 13.2.2023 |
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Übersetzer | Jan Schönherr |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Glory |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1984 • Afrika • Afrikanische Literatur • aktuelles Buch • Autokratie • Black History Month • Booker Prize • Bücher Neuererscheinung • Bücher Neuerscheinung • bücher neuerscheinungen • Chimamanda Ngozi Adichie • Demokratie • Diktatur • Freiheitsrechte • George Orwell • Glory deutsch • Militarismus • Moderne Fabel • National Book Award 5 Under 35 2013 • Neuererscheinung • neuerscheinung 2024 • Neuerscheinungen • neues Buch • Pen/Hemingway Award 2014 • Pier Paolo Frassinelli • Pressefreiheit • Repression • Robert Mugabe • Simbabwe • ST 5420 • ST5420 • Subsahara-Afrika • Südliches Afrika • suhrkamp taschenbuch 5420 • systemkonflikt • Systemkonkurrenz • Teju Cole • Wallace Stegner Fellow 2012 • Wladimir Putin • Zimbabwe • Zivilgesellschaft |
ISBN-10 | 3-518-77537-5 / 3518775375 |
ISBN-13 | 978-3-518-77537-0 / 9783518775370 |
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